Rebellion, Wahn und Blumen auf dem Balkon (2000-2008)

Die „Lesen mit Links“-Kritik begann 2007 mit dem Start bei 1LIVE – vorher war der Weg zur Literatur weniger fokussiert: in der Buchhandlung habe ich gearbeitet, ein Germanistikstudium begonnen, beim Arco-Verlag einige wenige Texte korrekturgelesen, in der Westdeutschen Zeitung, in der WAZ und im Magazin Bücher mal hier, mal da über ein Buch geschrieben, selbst veröffentlicht (die Romane „Staring at the Sun“ und „Letzte Tage, jetzt“). 2008 ging es richtig los: Ein Quantenphysik-Krimi, das 68er-Jubiläum und der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion bilden das Jahresarchiv bis zum Ende von 2008, als der Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio hieß, die Türkei Ehrengast war auf der Frankfurter Buchmesse und Friederike Mayröcker den Büchnerpreis verliehen bekam.

Puck, der Held in Dana Bönischs Debütroman „Rocktage“ hasst Ausrufezeichen, lebt in Sehnsucht inmitten ungewaschener Kleidung und liebt die falsche Frau. Bönisch, 21 Jahre jung, in Frechen geboren, hat ein kuscheliges Buch für die kommenden Regennächte geschrieben: Über die unerreichbare „Liebe in Zeiten der Maul- und Klauenseuche“, Mamas neue Öko-Verehrer, über erfundene Redakteurstätigkeiten. „Rocktage“ ist klug, sanft, ein bisschen Pop und ein bisschen mehr Literatur. Die ehemalige „jetzt“-Autorin Bönisch steckt gehypte Altersgenossen mit Leichtigkeit in die Tasche. Shakespeare, Goethe, Southpark und Gott, Placebo, Sportfreunde Stiller und Tigerenten leben hier in einem „Soloalbum“ nicht unähnlichen, doch wesentlich charmanter ausstaffierten Biotop. Bei Bönisch bleiben Frösche, auch als Muppet-Version, ewiges Symbol versteckter Träume und deuten Freunden der Brüder Grimm, dass hier ein Märchen erzählt werden will. Das Ganze erinnert an eine Handvoll Smarties, ist bunt, süß und zudem Ticket für drei Stunden gutes Leben. (Dana Bönisch: „Rocktage“, Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 6,90 Euro)

Während der Buchmesse 2008 gibt es diesen „genialen Haider-Crash“ und selbstverständlich auch den Zusammenbruch der Hochfinanz, die Mega-Auktion von Damien Hirst und es gibt Christian Krachts Kriegsmärchen, das im Kitsch endet. Uwe Tellkamp wird für „Der Turm“ abgefeiert, bei dem Goetz glückselig denkt: „Endlich lese ich mal einen Roman von Thomas Mann.“  Und dann betritt Joachim Lottmann die Szene, vor dem Goetz „eine unfassbare ANGST“ hat. In seinem Tagebuch erinnert sich der Autor in Vor- und Rückgriffen, also nicht weniger konfus als diese Aufzählung hier, an Verlagsparties und Albert-Oehlen-Vernissagen, an BWLer und ihren „Abgrund an Stumpfsinn in Hirnen von Tieren, die äußerlich wie Menschen ausschauten.“ Goetz ätzt zwischen „Kohärenzsepps, Blödelsepps und Argumentenlarrys“. Ein bisschen durchgeknallt, verspürt. Fazit: Goetz findet „Ablehnung und Krieg wunderbar, Streit, Distanz, alles herrlich, aber natürlich ist das Gegenteil tausendmal schöner.“ Klingt fast weise, einer Herbstchronik gemäß. (Rainald Goetz: „loslabern“, Suhrkamp, 190 Seiten, 17,80 Euro)

The Beach, Shiva Moon und passable B-Movie-Bilder treffen in Martin Schachts Asienroman „Mandalay Moon“ zusammen. In leicht konsumierbaren Kapiteln streift der gescheiterte Lifestyle-Journalist und Coverversionen-Sammler Tom durchs Goldene Dreieck. Er wird von Victor und Christine, einem zwielichtigen Yuppie-Pärchen begleitet, das in Burma einen Film über die legendäre Opiumprinzessin Olive Yang drehen möchte. Diese Story will sich Tom nicht entgehen lassen – und natürlicherweise ist er fasziniert von der hübschen Frau, den erotischen Versprechungen, dem promiskuitiven Lebensstil der beiden Aussteiger. Nach Liebe dürstend verkennt er das düstere Geheimnis seiner neu gewonnenen Kumpels. „Mandalay Moon“ ist ein guter, leicht paranoider Pageturner für heiße Strandtage. (Martin Schacht: „Mandalay Moon“, Rowohlt, 9,90 Euro)

Russen kennen „weder Russischbrot, noch russisches Ei oder russischen Zupfkuchen.“ Keiner ruft beim Zechen lauthals „Na Sdrowje“. Das wäre polnisch. Diese und andere Grillen hat die junge Autorin Lena Gorelik aus St. Petersburg mitgebracht. Letztes Jahr war sie dort, mit Jost, einem Kumpel, den die russische Verwandtschaft sofort als Ehemann in spe akzeptierte. Ein Missverständnis, eines von vielen. Niemand spuckt tatsächlich über seine Schulter, um böse Flüche abzuwenden, es ist eine rein trockene Lippenbewegung, was Jost freilich nicht wissen kann. Er versteht als Deutscher ebenso wenig, warum man keine Hotdogs vom Straßenstand kauft, oder weshalb Dill in Russland alle anderen Gewürze und „Basilikumbäumchen“ ersetzt. Es bringt nichts, einem Russen zu erklären, an was ein Vegetarier glaubt. „Sie haben es bis heute nicht verstanden.“ Und „sich im Auto anzuschnallen ist die größte Beleidigung, die Sie einem Fahrer antun können.“ Wer zu diesem rasanten, eleganten Buch greift, braucht aber einen Gurt, um vor Lachen nicht vom Stuhl zu kippen. In zwei Stunden beschreibt Gorelik gewohnt stilsicher ihren Blick auf die russische Seele. Und „nachts bricht eine leichte, mystische, silbrige Dämmerung über die Stadt herein.“ Dann wird „Verliebt in Sankt Petersburg“ sogar melancholisch – bis die ersten Stechmücken auf dem Oberschenkel landen. (Lena Gorelik: „Verliebt in Sankt Petersburg“, SchirmerGraf, 176 Seiten, 17,90 Euro)

Der 15-jährige Fergus wird 1846 aus Irland vertrieben und reist über England nach Amerika. Mutig folgt er dabei dem Gesetz aller Träume: Es besagt, „dass man immer in Bewegung bleiben“ muss. Peter Behrens empfiehlt sich als denkbar bester Chronist eines großen Abenteuers. Der 1947 in Montreal geborene Autor besitzt die notwendige Kondition, Schnellkraft und Sprachmacht für sein ambitioniertes Romandebüt. Der mutige Fergus zieht in eine 560-seitige Odyssee, sieht versiffte Armenhäuser, pädophile Bordells, derbe Arbeitsbaracken, fieberverseuchte Schiffe, schmutzige Zockertische, verwanzte Ehebetten. Die kluge, lebenserfahren komponierte Geschichte ist karstig wie ein vereister Winteracker, stilistisch schnörkellos, inhaltlich skandalös. Vergewaltigungen, Morde, Kartenspielertricks und manipulierte Boxkämpfe, Typhustode, Überfälle, Waisenklagen, Entrepreneursbegeisterung und Jammerstunden erinnern, so zusammengestellt, an Sternstunden amerikanischer Erzählkunst. „Das Gesetz der Träume“ ist atemraubend, herzblutdurchtränkt, unterhaltend, spannend, selbst ein opulenter Traum, ein sattes, ockerfarbenes, ebenso durstiges wie durststillendes Ereignis. (Peter Behrens: „Das Gesetz der Träume“, übers. v. Brigitte Walitzek, Schöffling, 560 Seiten, 24,90 Euro)

Nach Spielzeug („Die Blechtrommel“), Tieren („Der Butt“) und Gemüse („Beim Häuten der Zwiebel) folgt nun „Die Box“. Diese alte AGFA-Kamera kann inspirieren, erinnern, erfinden, vorsehen, verhüllen. Sie ist Erzählanlass und Dingsymbol von Günter Grass’ autobiographischem Roman über die Jahre 1959 bis 1995. Es ist ein großes Palaver, in dem sich seine acht Kinder erinnern an Ausflüge und Ausflüchte, an die vielen Romane, die Vati „in der Mache“ hatte, an seine Frauen, Kämpfe und letzten Tänze. Gehalten wird die Box von „Knipsmalmariechen“, der ständigen Portraitistin, vielleicht sogar Geliebten des Nobelpreisträgers: Mit Mariechen fängt die Geschichte „wie ein Märchen“ an. Und es sind ihre Portraits und Panoramen, die Grass tiefenscharf und in selbstverständlich egomanen Schwarz-Weiß-Abstufungen vorlegt. Knipsmalmariechen ist der Text. Aber Grass behält das letzte Wort: unterhaltsam, humorvoll, beinahe weise. (Günter Grass: „Die Box“, Steidl, 220 Seiten, 18 Euro)

Juli Zeh rüttelt in ihrem ersten Krimi konsequent Magen, Hirn und Zwerchfell durcheinander. Natürlich wird das Genre stilgerecht bedient, die intelligente Autorin („Spieltrieb“) hantiert wie immer auf höchsten Niveau mit den Werkzeugen. Die genaue Handlung ist Nebensache. Vom todkranken Kommissar über den skrupellosen Arzt, von mysteriösen Anrufern bis zum entführten Kind ist alles dabei: soweit nichts Neues, das haben „Tatort“ und „Derrick“ auch. Zeh aber bietet etliches mehr, sie ist Zeit-Philosophin, Quantenphysikerin und Rechtsgelehrte in einem. Unfair, dass diese Frau außerdem sarkastisch werden kann: „Statt eines Schleiers, erzählte er den peinlich berührten Gästen, hätte Sebastian seiner Braut eine grüne Lampe aufsetzen sollen. Bei Notausgängen gehöre sich das so.“ (Juli Zeh: „Schilf“, Schöffling & Co, 384 Seiten, 19,90 Euro)

Lolli ist zwölf und lebt in den 80ern. Ihre sexuell indifferente Mama wohnt mit einer Frau zusammen, die lila Latzhosen trägt, ihr Papa lebt in den USA. Lollis Freund küsst „genauso gewissenhaft“ wie er Möhrenbrotkrümel aufpickt. Kein Wunder, dass Lolli bald für den an Novalis erinnernden Autor Anton schwärmt. Aber welchen Wert hat die Liebe, bevor alles im Atomkrieg untergeht? Dieses neongrüne, aber nie oberflächliche Buch ist perfekter Badewannenstoff. (Verena Carl: „Irgendwie, irgendwann“, Eichborn, 300 Seiten, 14,95 Euro)

Margas Freund Mathias „war einfach verschwunden, wie eine Faust verschwindet, wenn man die Hand öffnet.“ Er hat sich in die Geisterbahn gesetzt, ist hinabgefahren und Sekunden später verschollen. Wurde er ermordet? Oder hat er sich aus der Affäre gestohlen? „Es gab keine Leiche. Es gab nur tote Fische, beerdigt in einem Blumentopf auf dem Balkon von der Exfrau des Verschwundenen.“ Der frisch geschiedene Ermittler Robert soll den mysteriösen Fall lösen. Steckt Marga hinter dem Verschwinden ihres Geliebten, oder war eine düstere Macht am Werk? Wieviel Schmerz trägt diese Frau in sich? Robert nähert sich Marga an. Eine zarte Liebesgeschichte entsteht. Sie verhindert, dass „Die Verdächtige“ zum Krimi wird. Und sie verhindert eine viel größere Liebe, die Erfüllung einer tieferen Sehnsucht. Ein rätselhafter, schöner Roman über das Unsicht- und Unsagbare, geschrieben im Bewusstsein, „dass der größte Feind der Wahrheit nicht die Lüge ist, sondern der Irrtum.“ (Judith Kuckart: „Die Verdächtige“, Dumont, 290 Seiten, 19,90 Euro)

Wer diesen Text liest, obwohl der Müll entsorgt, die Überweisungen ausgefüllt, das ungenutzte Fitnesstudio-Abo gekündigt werden sollte, der ist ein „Prokrastinierer“. Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig und Star-Blogger Sascha Lobo stellen für alle Aufschieber jetzt den Erst-Hilfe-Koffer bereit. „Dinge geregelt kriegen ist mit heißer Nadel gestrickt, schnell gezimmert, „ohne einen Funken Selbstdisziplin“. Und doch hat es einen Anfang, ein Ende und dazwischen lässig verfasste Kapitel: „Wir kommen mit vielem nicht zurecht, wollen deshalb aber nicht darauf verzichten am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“ Dieses Buch beweist: Chaos kann produktiv sein. Es braucht dafür Aufputschmittel, Deadlines, ein bisschen Kreativität und viel Schlaf. Die Selbstdisziplin ist dagegen eine Kettensäge: „Man kann mit ihr ganze Wälder voller Bäume fällen, sich aber auch nebenbei ein Bein amputieren.“ (Kathrin Passig, Sascha Lobo: „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“, Rowohlt, 380 Seiten, 19,90 Euro)

„Holm und Thomas haben ein Buch übers Stricken geschrieben“, soll Kollege Sascha Lobo gelästert haben, als „Marke Eigenbau“ erschien. Tatsächlich haben Volkswirt Friebe und Wirtschaftsjournalist Ramge ein gedankenreiches Manufaktur-Manifest verfasst. Begeistert schreiben sie über Unikate, Editionen, kleine Auflagen, über Vermarktungsmöglichkeiten für Hobby-Produkte, über erfindungsreiche Freizeitbastler, die ganze Warenwelten begründen oder bereits begründet haben. Die Windsurfing-Industrie ist im Hobbykeller geboren worden. Es geht um sogenannte Fabbing-Maschinen für daheim, die aus Kunstharz jeden beliebigen Gegenstand bauen. Dafür braucht man lediglich einen 3D-Scanner und 5000 Dollar. Die Preise purzeln bereits. Irgendwann, so die Vision, besitzt jeder seine eigene Kleinstfabrik, produziert unabhängig Energie, bastelt sinnstiftend an seinen Leidenschaften und verkauft seine Unikate direkt im Netz, ohne Großkonzerne, Lohnfron und Marketingterror. Beim Verkaufsportal Etsy.com können User seit vier Jahren Handgemachtes anbieten, für 20 Cent pro Artikel. Jeder darf mitmachen. Aus den kleinsten Dörfern gelangen jetzt allerschönste Dinge in entlegendste Weltwinkel. Jean Pütz und seine „Hobbythek“ sind von gestern. Wer „Marke Eigenbau“ gelesen hat, glaube den Autoren sofort: und packt mit an. (Holm Friebe, Thomas Ramge: „Marke Eigenbau – Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion“ Campus, 290 Seiten, 19,90 Euro)

Der bucklige Abel liebt Ende der 50er Jahre die Gattin seines beneidenswert attraktiven, doch heimlich schwulen Bruders. Der eine begehrt, was der andere nicht genießen will und bald vergessen haben wird. Im 19. Jahrhundert avanciert ein schwachsinniger Lord zum umworbenen Don Juan, weil er nach jeder Nacht vergisst, was geschehen ist. In der Jetzt-Zeit forscht ein Teenager über die Hintergründe von Mutters Alzheimer-Krankheit. Diese Geschichten verbindet ein Gendeffekt, der gesunde Menschen in ihren besten Jahren handlungsunfähig werden lässt, die Ehen zerstört, von Generation zu Generation Familien traumatisiert, ihnen die Erinnerung raubt. Der 26-jährige Amerikaner Stefan Merrill Block schreibt intelligent und faktenreich über ein ernstes, wichtiges Thema. Seine Ambitionen sind groß, doch leider ergeben die einzelnen Teile kein stimmiges Ganzes. Es gibt hoffnungsvolle, schöne, es gibt ungewöhnliche Momente. Aber es bleiben zu viele Fragen offen. Auch eine an den Verlag: Warum wurde der stimmige Originaltitel „The Story Of Forgetting“ abgeändert zur irreführenden Phrase „Wie ich mich einmal in alles verliebte“? Block ist kein Pop! (Stefan Merrill Block: „Wie ich mich einmal in alles verliebte“, übersetzt von Marcus Ingendaay, Dumont, 350 Seiten, 19,90 Euro)

Die Journalistin und Pop-Plattenauflegerin Merle Hilbk hat ein unterhaltsames Erlebnis-Sachbuch über einige der 3,5 Millionen Russlanddeutschen geschrieben und Vorzeigekandidat Wladimir Kaminer nicht getroffen. Stattdessen besuchte sie deutschrussische Professoren und Discothekenbesitzer, russisch-orthodoxe Gemeinden, die Kölner Synagoge, einen Bardenclub, die „Landsmannschaft der Russen in Deutschland“ und die erste Fußballmannschaft vom TSV Buchen. Dieser kleine Verein schwimmt auf einer Erfolgswelle, weil inzwischen Aussiedler mitspielen dürfen: „Wer integriert, gewinnt.“ Es ist die Geschichte eines engagierten Trainers, die Geschichte einer couragierten Idee, eine Gewinnergeschichte. Den Gegensatz bilden Justizvollzuganstalten, wo russische Knastis Faust auf Faust zusammenhalten und sich an der großspurig auf den Waden ruhenden „Russenhocke“ erkennen, die „allerdings keine Machogeste ist, sondern schlicht der Verhinderung von Blasenentzündungen in einem Land dient, in dem der Boden die längste Zeit des Jahres gefroren ist.“ Deutschlands Klima bleibt für viele frostig, Heimat hin oder her. Das gut recherchierte, allerdings arg Ich-bezogene Buch von Merle  Hilbk ist interessant und an vielen Stellen die Antwort auf die Frage, weshalb eine Bevölkerungsgruppe fremd bleibt, trotz Russendiskos, Wladimir Kaminer und TV-Wiederholungen des 1909 in Riga geborenen Heinz Erhardt. (Merle Hilbk: „Die Chaussee der Enthusiasten“, Aufbau, 290 Seiten, 17,95 Euro)

Während PeterLicht „Ihr lieben 68er, danke für alles – ihr dürft jetzt gehen“, singt, veröffentlichen die alten APO-Helden ihre buchgewordenen „Diaabende von der Revolution“ in angesehenen Publikumsverlagen. Peter Schneider, einstiger Wortführer der deutschen Studentenbewegung (neben Rudi Dutschke), präsentiert mit „Rebellion und Wahn“ einen ironisch gefärbten Rückblick. Das beginnt mit der schönen Szene, wie Schneider und Genossen anno 1967 über die „Machtfrage“ diskutieren und schon einmal Posten für die bald zu gründende Räterepublik verteilen. Für Post, Müll, Verkehr findet sich niemand: zu uninteressant. Und Peter Schneider erkennt später am Bahnhof: „Wer von uns würde imstande sein, all diese Züge zu dirigieren? Etwa der abgebrochene Germanist Hans-Joachim, der nichts als reden konnte? Oder der Theaterwissenschaftler Kajo, der in ewiger Trennung mit seiner Frau lebte und unter Schlaflosigkeit litt?“ Zum Glück haben die 68er erst 30 Jahre später die Republik übernommen, den „Marsch durch die Institutionen“ institutionalisiert. Kurz vor RAF wäre das nichts geworden und Peter Schneider beschreibt unterhaltsam, wie wirr, verblendet, wahn- und machtbesessen das SDS-Treiben ausgesehen hat. Es ist eine späte Erkenntnis, die sich aber niemals altersweise, verächtlich an der eigenen Jugend abarbeitet. „Rebellion und Wahn“ lebt, lebt wirklich. Wenn man dann die geordneten Mensaschlangen an der Uni, die C&A-verkleideten Finanzdienstleister in der inneren Stadt, die bachelorgedrillten Bolognastudenten, wenn man also UNS so anschaut, bleibt nichts als Verwunderung: Warum haben wir eigentlich so viel weniger Spaß? (Peter Schneider: „Rebellion und Wahn. Mein ’68“, KiWi, 364 Seiten, 19,95 Euro)

Felix „hatte versagt, als sein Bruder ertrunken war, und sich mitleidlos zu seiner Mutter benommen, der am Ende dem Irrsinn Verfallenen“. Vor seiner Hochzeit flüchtete er Hals über Kopf und ließ die Braut sitzen, um sich einem dubiosen Pianisten anzuschließen. Im April ‘33 verschwand der Kommunistenfreund endgültig, für immer. Doch seine chaotische Geschichte bleibt dank dieses Romans unvergessen. Aufgewachsen im dumpfen Ostseestädtchen Freiwalde, Anfang des 20. Jahrhunderts, wankt er mehr schlecht als recht durch eine geistfeindliche, düstere Zeit. Erster Weltkrieg, Kapitulation, die große Depression, Judenhetze und Terror-Propaganda lassen Felix zitternd, ohnmächtig zurück. In seiner schwachen Familie, wo der Schulmeister-Vater vorm Jetzt in schwere Kant-Lektüre flüchtet, der Onkel ein zupackender Nazi, die Mutter eine Irre ist, wird dieser Eckensteher gestoßen, gegängelt, von allen guten Geistern verlassen. Schauderhaft. Der mehrfach prämierte Lyriker Jan Koneffke wagt einen unsentimentalen, geradezu unlyrischen Reportageton. Das ist souverän, schlüssig und gelungen. (Jan Koneffke, „Eine nie vergessene Geschichte“, Dumont, 320 Seiten, 19,90 Euro)

Der 25-jährige Kulissenschieber Roman vertrinkt die beste Zeit seines Lebens in sibirischen Nächten der bitterkalten Kleinstadt Minusinsk. Autor und Figur heißen gleich, Handlungsort und Titel folgerichtig „Minus“, in diesem erstaunlichen Debüt des 33-jährigen Russen Roman Sencin. Er beschreibt, wie aus Furnierholz blendende Theaterbilder oder aus jungen Männern Alkoholiker werden. In dieser Welt birgt jeder Fuselrausch mehr Wahrheit als alle postsozialistischen Konsumversprechen, die Minusinsk bislang nicht erreicht haben. Aber es wird darauf gewartet – und bis es soweit ist, teilen sich Sozialverlierer Zwölf-Quadratmeter-Zimmer mit kiffenden Kollegen, helfen den Eltern bei der kargen, doch überlebenswichtigen Kartoffelernte in tieföstlichen Enklaven und lassen sich dabei von Menschen mit einem leisen Gespür für Schnee beschreiben. Sencin ist als Erzähler der eigenen Geschichte Vertreter beider Seiten. Eben diese vereinigen sich in „Minus“ wundersam wie Wodka-Gorbatschow und Mangonektar in 0,25-Liter-Alcopops-Rationen. (Roman Sencin: „Minus“, übersetzt von Ulrike Zemme, Dumont, 318 Seiten, 19,90 Euro)

Aus dem bedeckten London meldet sich Indie-Nerd Richard Milward, der als 19-Jähriger diesen einfallsreichen, anrührenden und abschreckend pornographischen Roman vorlegt. “Apples” folgt einer hypernervösen Partyclique durch nervenaufreibende Exzess-Tage. Zwischen den beiden Hauptfiguren Adam und Eve hätte es längst funken können, wären die beiden nicht mit XTC, Neurosen, Tourette-Tanzen, One- und Two-Night-Stands beschäftigt. Freundin Claire verliert währenddessen die Nerven. Sie wurde auf einer Party vergewaltigt, bekommt bald ihr erstes Baby und muss daheim bleiben, während die Anderen zum Mallorcaurlaub aufbrechen. Die 15-Jährige würde ihr schreiendes Kind am liebsten umbringen. Da rächen sich frühere Einsichten: “Man muss so früh wie möglich anfangen. Ab dem zwölften Lebensjahr hat man eh keine Wahl mehr.” Wer zehn, elf, zwölf ist und das Gleiche ist, der sollte “Apples” als Schadensbegrenzungsmaßnahme lesen. Für alle Anderen: Dieses Buch ist ein Vollrausch. Lesen! (Richard Milward: “Apples”, übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, Blumenbar, 254 S., 17,90 Euro)

Danny Skinner, Restaurantkontrolleur beim Ordnungsamt in Edinburgh, ist genervt von seinem pedantischen Kollegen Kilby. Doch durch einen Fluch muss Kilby plötzlich ausbaden, was Skinner anstellt: Der bechert, Kilby hat den Kater. Skinner lässt sich auf bzw. mit mehreren Männern ein, Kilby glaubt am nächsten Morgen, an seinen Hämorrhoiden zu krepieren. Dummerweise schnallt Kilby irgendwann, was Sache ist – und der einstige Abstinezler schlägt zurück. Trainspotting-Autor Irvine Welsh begeistert mit diesem heiß servierten, grotesken Fünf-Gänge-Menü. (Irvine Welsh: „Die Bettgeschichten der Meisterköche“, übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, KiWi, 464 S, 9,99 Euro)

„Es gab einen Abend … da legte DJ Thomas Gottschalk auf.“ Schulterklopfend, selbstverliebt und klatschsüchtig präsentiert sich dieser Bildband über Münchens Clubszene. „Seit 1948 durch die US-Armee das Munich Nitelife entstand, erwachte München in unregelmäßigen Abständen aus seinem unbekümmerten Dornröschen-Produktionsschlaf“, schreibt Herausgeber Mirko Hecktor und bedankt sich „vor allem bei Andreas Neumeister, von dem ich die Schreibweise Mjunik übernommen habe.“ Namedropping und Bildprotzen gehören dazu. „Mjunik Disco“ lesen, die alten Fotos beschauen und bestaunen, das heißt, eine Party feiern, mit Gastautoren wie Moritz von Uslar, Maxim Biller oder Trashrockikone Richard Rigan. Es geht ins Lipstick, Why Not, P1, ins Atomic Café. Fast alle Läden sind dabei. Irgendwo stehen dann Freddie Mercury, Mick Jagger, R. W. Fassbinder, DJ Hell. Einige Texte sind bereits erschienen. Andere wollen kein Champangnerprickeln aufkommen lassen. Doch dann steht man eine Seite weiter mit Charles Schumann an der Bar, blickt Wolf Wondratschek ins Sonnenbrillengesicht, prostet Rainald Goetz im Babalu-Club zu, ist wieder mittendrin, mit weiten Pupillen, verschwitztem Shirt, spürt Tanzeuphorie und liest: „Feiern auf Befehl.“ Wild. (Mirko Hecktor (Hg.): „Mjunik Disco – von 1949 bis heute“, Blumenbar, 240 Seiten, 32 Euro)

Wenn der grantige Opa „Hol dich der Deibel, du gottverdammtes Weibsbild“ sagte, verzog sich Oma beleidigt, um heulend Scholle oder Bauchspeck zu braten. Bilder wie dieses ließen „De Volkskrant“ jubeln: „Der klare, präzise Stil des Romans ruft im Leser eine Welt wach, in der man alles sieht, hört und riecht.“ Tatsächlich wirkt die Geschichte um einen Elfjährigen im Amsterdamer Armeleuteviertel Blickerseiland trübe wie kaltes Fett in einer Fischpfanne und riecht dabei ähnlich abgestanden. Emotionslos erzählt der Junge von seiner Außenseiter-Jugend, deren Höhepunkte ein fataler Angelausflug mit Papa und etliche Wochenendbesuche bei Tante Trudie und Onkel Ben. Dort erhält er sein „Sonntagsgeld“ und heimliche Blicke auf fremde Busen in Opas abonniertem Schmierblättchen. Wie beim großen Maarten ‚t Hart wächst Snijders verunsichert Held in einem Milieu calvinistischer Strenge und bildungsferner Dogmatik auf, als Einsamer unter Einsamen. Für Freunde holländischer Gegenwartsliteratur ist „Sonntagsgeld“ eine schöne Ergänzung zur bereits lieferbaren Bibliothek, denn Snijders Debüt ist nicht schlecht, kommt aber mit einer Geschichte, die bereits dutzendfach erzählt worden ist. (Philip Snijder: „Sonntagsgeld“, übersetzt von Eva Schweikart, claassen, 176 S., 18 Euro)

Leon ist kein Löwe, sondern Zivi. Seit der zwölften Klasse funkt und funktioniert es zwischen ihm und seiner Freundin Lea. Damals war Sex geheimnisvoll und beizeiten technisch unmöglich: „Es wäre ihr erstes Mal gewesen und mein zweites, aber natürlich sage ich das nicht.“ Während der Zivildienstzeit sagt Leon erneut das eine oder andere nicht. Zum Beispiel, dass er fremdgeht. Bekommt er jedoch einen Korb, kriecht der Held stets in Leas liebevolle Arme zurück. Zwischendurch berichten Freunde von spannenden Sanitätereinsätzen. Leon muss dagegen dreckige Operationsbestecke sterilisieren und ernüchternde Beziehungsdiskussionen zwischen unbefriedigten Krankenschwestern mithören. Es wirkt wie eine Strafe, die ihm Autor Marcus Braun für das lasterhafte Treiben aufgeschrieben hat. Wer an Georg Büchners „Leonce und Lena“ denkt, liegt vermutlich richtig. Das Buch macht aber auch mit Bildungslücke Spaß. Anrührend und lesenswert wird hier vom ständigen „Dazwischen“-Sein erzählt. (Marcus Braun: „Hochzeitsvorbereitungen“, Berlin Verlag, 232 Seiten, 18 Euro)

Zum Schluss des Romans „Bis zum Ende der B-Seite“ vermag der Ich-Erzähler nicht einmal „die interessanteste Enttäuschung zu sein, die einer Frau (meinetwegen) in den letzten fünf Jahren widerfahren ist.“ Der ehemalige Boxer Jamal Tuschik erzählt in seiner dritten Suhrkamp-Veröffentlichung die Geschichte zweier Brüder. Von den Siebzigern bis jetzt jettet der eine Bruder, Kaiman getauft, durch ein privilegiertes Honigleben, derweil der namenlose Ich-Erzähler von eben diesem Leben schamlos profitiert. Er benutzt wahlweise Kaimans schicken Sportwagen oder dessen aktuelle Frau. Der Egoshooter denkt bereits zu Beginn über das Erlebnis nach, eine Mädchenzunge im Mund gespürt zu haben, ohne eine „erotische Dimension“ erkennen zu können, ist also ein Zyniker par excellence und wirkt doch sympathisch. „Bis zum Ende der B-Seite“ ist allein deshalb atemraubend. Nebenbei erfährt man, wie es ist, einen Waschbrettbauch antrainiert zu haben, für den sich niemand interessiert. (Jamal Tuschik „Bis zum Ende der B-Seite“, Suhrkamp 184 Seiten, 9 Euro)

Drei junge Damen, vom Produktionsteam hartnäckig „Mädels“ genannt, wünschen Ordnung in ihrer WG-Küche. Was wie ein feministischer Treppenwitz klingt, war Mittwochabend Inhalt der Vox-Verschönerungssendung „Wohnen nach Wunsch“ mit Lifestyle-Autorin Schrägstrich Moderatorin Tine Wittler. Die Mädels Nina und Jenny hielten, die abwesende WG-Kollegin Olga vertretend, ihr Gesicht samt nicht minder beratungswürdigen Frisuren in die sanftkultig wackelnde TV-Kamera. Während Schreiner in der Küche werkten, um das „Statussymbol“ (Zitat) aufzumotzen, durften Eltern und Schwester Wohnkatastrophales aus kurz zurückliegenden Jugendjahren petzen: „Manchmal gammelte da der eine oder andere Apfel.“ Die versiffte Küchenzeile wich 25 Sendeminuten später einem schicken Ikea-Ideal. Und „Wohnen nach Wunsch“ zeigte sich mal wieder blankpoliert wie ein frisches Edelstahlspülbecken. Zur gleichen Zeit fiel in China ein Sack Reis um. (Tine Wittler: „Die Prinzessin und der Horst“, Bastei Lübbe, 318 Seiten, gebraucht ab 0,01 Euro bei Amazon)

Michele sitzt vor Kreißsaal und wartet. Während Francesca in den Wehen liegt, schweifen seine Gedanken ab. Er denkt an eine traurige Freundschaft, an Hesse-Momente, an eine Reise zu sich selbst und selbstverständlich auch an den größten Verlust seines Lebens. Der italienische Schauspieler und Moderator Fabio Volo verkaufte von diesem papierleichten Selbstfindungsroman 900.000 Exemplare. Nachdem “Einfach losfahren” in seinem Heimatland fast drei Jahre auf den Bestsellerlisten stand und mit Sätzen wie “Die Tage gingen vorüber wie lahme Dinosaurier und hinterließen ihre breiten Spuren” die Massen begeisterte, erscheint das freundliche 280-Seiten-Werk jetzt in neun Ländern. Sein Erfolgsgeheimnis? “Frauen sind nicht die Summe von Jahren, sondern von Augenblicken.” Zum Anschmachten. (Fabio Volo: “Einfach losfahren”, übersetzt von Peter Klöss, Diogenes, 280 Seiten, 19,90 Euro. Das Hörbuch gibt es ebenfalls bei Diogenes. 4 CDs mit 5 Std. und 16 Min. kosten 24.90 Euro.)

„Einige werden sterben“, prophezeit der Arzt im Frühling 1931, als zweitausend Läufer zum Trans-Amerika-Marathon von Los Angeles nach New York aufbrechen. Täglich wollen die härtesten Athleten der Welt mindestens 80 Kilometer durch Wüsten, Gebirge und Schlamm zurücklegen. Es geht um mehrere zehntausend Dollar und ums nackte Überleben während der Großen Depression. Zum Feld gehören ein dekadenter Adeliger, ein hinkender Teufelskerl, ein Auswahlteam der Hitlerjugend, ein Ex-Boxer unter Mordverdacht, die ehrgeizige Hobbyläuferin Kate Sheridan und ein großer Zirkus mit Artisten, Gauklern, einem sprechenden Maulesel. Ex-Leichtathlet Tom McNab schildert die schweißtreibende und überaus anrührende Geschichte eines größenwahnsinnigen Sportprojekts, das entlang der Klippe balanciert – spannend wie ein Olympiafinale. (Tom McNab: „Trans Amerika“, übersetzt von Verena von Koskull, Aufbau, 550 Seiten, 22,95 Euro)

Russische Nutten, Geheimlogen-Finsterlinge und spionierende Zwerge bevölkern den großen Chinaroman „Die Blender“ von Santiago Gamboa. Der Kolumbianer hat eine wort- und bildgewaltige Agentenposse um drei Hochstapler und ein verschollenes Manuskript erdichtet. Alle suchen die Gründungsschrift der Boxer-Sekte, die 1899 durch ihren Aufstand in China bekannt geworden ist. Einhundert Jahre später treffen ein französischer Journalist, ein verhinderter Beinahe-Autor und gescheiterter Uni-Professor aus den USA und der Hamburger Sinologe Dr. Gisbert Klauss in Peking aufeinander. Das Spiel um eitle Anerkennung, verwickelte Staats- und Privatinteressen, um Ruhm und Rum, Leben und Lieben ist eröffnet. (Santiago Gamboa: „Die Blender“, Wagenbach, 320 Seiten, 20,50 Euro)

Hat ein DDR-Kreativheer mit musikalischen Mitteln die BRD bekämpft? Die Satire „Pop essen Mauer auf“ stellt ein Genie vor: Duttweiler, der den Rock‘n Roll als dekadente Waffe erfunden haben soll. Die erwartbare Verrohung der popsüchtigen Jugend sollte dem Sozialismus dienen. Ostlerin Elvira Prassler ließ sich umoperieren, um als Elvis Presley mit Margot Honeckers Hüfte Welterfolge zu feiern. Was Autor Stefan Maelck hier erzählt, ist im Angesicht des roboterhaften Michael Jackson beinahe glaubwürdig. Und Bohlen, „die schlimmste Kreatur, die ich je geschaffen habe“, steht mit seiner Musik weiterhin für die Verneinung von „Toleranz, Großzügigkeit, Sinnlichkeit und Lust.“ Nur eine Sache lässt sich der Klonmeister niemals unterschieben: „Mit Phil Collins habe ich nichts zu tun.“ (Stefan Maelck: „Pop essen Mauer auf“, Rowohlt, 160 Seiten, 14,90 Euro)

„Lange Tage“, der aktuelle Geschichten-Band von Maike Wetzel, ist ein Neun-Gänge-Menü kurzgebratener Kostbarkeiten. Auf kleiner Flamme, dem Umschlagfoto entsprechend, bietet die 30-Jährige zarte Fräuleinküche á la Judith Hermann. „Nichts als Gespenster“ schrieb Hermann im vergangenen Jahr. Wetzel legt nun mit dem 35-Seiter „Geister“ nach. Während ein magersüchtiges Mädchen mehr und mehr Gewicht verliert, gewinnt die Geschichte Pfunde, erscheint wie das zurückspulende Video einer Zwiebelhäutung. In den Augen brennt jedoch nichts. Wetzels Zutaten sind blanchiert, haben etwas milchglasiges. Selbst wenn Liebesfahrten („Zeugen“) oder ungeschützter Sex („Aufklärung“) zum Tode führen: Unfassbares erscheint in „Lange Tage“ niemals geschmacklos. Magenschmerzen und Völlegefühl bleiben aus. Nur die Flammen, die könnten etwas höher lodern. (Maike Wetzel: „Lange Tage“, Fischer, 190 Seiten, 8 Euro)

Die Fußball-Bundesliga ist beendet und Sportsüchtige schwenken zu Baseball um. In den USA läuft die Major League bis Ende Oktober. Passend dazu erscheint „Brookly Brothers“ von Thriller-Autor Jason Starr. Auf 450 Seiten erzählt er die Story von Baseballstar Jake, der, bezeichnend für sein selbstsicheres Ego, „No Doubt“ hört. Dazu kommt Ex-Sportsfreund Ryan, verletzungsbedingt raus aus dem Spiel, stattdessen Anstreicher geworden – und pikanterweise Lover von Jakes süßer Freundin Christina. Die wird permanent von ihrem Baseball-Hero betrogen und will endlich Schluss machen. Bis zur erhofften Trennung lässt Ryan seinen Lebensfrust bei Möchtegern-Gangsta-Rap (50 Cent, Nelly und Jay-Z) ab und träumt von Home Runs, die nie stattgefunden haben. Brenzlig wird es, als Jake und Ryan in die Schusslinie eines Bandenkriegs geraten und etliche „Drive-by-Shootings“ ihre große Klappe schrumpfen lassen. Zynischer Spaß. Manchmal hart wie ein Profischlag mit dem Baseballschläger. Jason Starr: „Brooklyn Brothers“, übersetzt von Ulla Kösters, Diogenes, 460 Seiten, 10,90 Euro

Hanna liegt tot auf dem Meeresgrund. Vor zwei Jahren ist sie offensichtlich bei einem Schiffsunglück ertrunken. Wie genau, weiß niemand. Und niemand kommt von ihr los: Ihr Freund Robin will die Leiche bergen, um jeden Preis. Er plant Tauchexpeditionen, quält sich mit Schuldgefühlen, weil er Hanna einst seinem besten Freund Gerard ausgespannt hat. Gerard wiederum erkennt in jeder fremden Rothaarigen seine Hanna. Dieser Roman erzählt aus verschiedenen Perspektiven vom Abschiednehmen, vom Wiederfinden und von Hoffnungen. Egal, ob der sentimentale Schneider, Vater von Hanna, seinen letzten Maßanzug nähen möchte, als Erinnerung an alte Zeiten, oder ob die junge Emma, Nichte Hannas, den Witwer Robin umgarnt. Überall sind Hoffnungen. Rascha Peper spinnt unaufhörlich ihr Schleppnetz aus Handlungssträngen, das einen irgendwann hinabzieht auf den Grund des Meeres, auf den Grund dieser Geschichte, dorthin, wo Hanna liegt. Rascha Peper: „Vision of Hanna“, übersetzt von Andreas Ecke, Mare, 590 Seiten, 24,90 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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