Am 6. April jährte sich der Völkermord in Ruanda zum 20. Mal. Zirka 800.000 bis 1.000.000 Menschen verloren zwischen April und Mitte Juli 1994 ihr Leben, als die ruandische Hutu-Mehrheit Jagd auf Tutsis machten. Eine besondere Rolle bei diesem beispiellosen Genozid hat der ruandische Pop- und Propagandasender Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM). Der Schweizer Künstler Milo Rau hat zum „Hate Radio“ ein spektakuläres Multimediaprojekt auf die Beine gestellt.
„Zum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen wurde am 23. Oktober 2000 Anklage gegen Journalisten auf Völkermord, Anstachelung zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem internationalen Strafgerichtshof erhoben.“ – Ergebnis einer beispiellosen Mordkampagne. Monatelang haben Radiomoderatoren des privaten Senders RTML 1994 das Schlachten vorbereitet, indem sie Aufrufe zur Vernichtung der Tutsi mit internationaler Popmusik mischten. Mit dem Dokumentarfilm „Hate Radio“, der auf seinem gleichnamigen Theaterstück und den jüngst veröffentlichten „Hate Radio“-Materialen basiert und mit einem „Hate Radio“ Hörspiel erinnert Milo Rau an die Zeit des Schlachtens in Ruanda.
Milo Rau ist Leiter des „International Institute of Murder“, das mit Theater, Aktionen und Filmen historische oder gesellschaftliche Konflikte bearbeitet. Unter anderem beschäftigte sich die Produktionsgesellschaft öffentlichkeitswirksam mit der Erschießung des Ehepaars Ceausescu (“Die letzten Tage der Ceausescus”), mit dem norwegischen Terroristen Anders B. Breivik (“Breiviks Erklärung”) und dem Strafverfahren gegen die Punkgruppe Pussy Riot („Die Moskauer Prozesse“). Milo Rau studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin, u. a. bei Tzvetan Todorov und Pierre Bourdieu. Er arbeitet seit 2003 als Regisseur und Autor im In- und Ausland, u. a. am Maxim-Gorki-Theater Berlin, Staatsschauspiel Dresden, HAU Berlin, Theaterhaus Gessnerallee Zürich, Teatrul Odeon Bukarest und Beursschouwburg Brüssel. Das Interview fand am 29. März 2015 statt.
Wie kann ein afrikanisches Radio im Jahr 1994 ursächlich für den Völkermord an nahezu 1 Million Menschen verantwortlich sein? Anders als die Staatsmedien hat RTLM auch westliche Musik gespielt, dazu angesagte kongolesische Songs. Es war ein interaktives Medium, man konnte anrufen und es gab Formate für alle Bevölkerungsschichten. Viel wichtiger war aber, dass es zum Zeitpunkt des Genozids weder Zeitungen mit einer erwähnenswerten Auflage noch einen ruandischen Fernsehsender gab. Auch heute gibt es nur einen. Radioempfänger waren billig und wurden vor dem Genozid sogar gratis verteilt. Als während des Genozids auch noch das Telefonnetz zusammenbrach, war das RTLM die einzige Quellen für Informationen.
Wer hat das Radio finanziert? Das Radio galt als privat und unabhängig, wurde aber indirekt vom ruandischen Staat finanziert – auf der Liste der Aktionäre finden sich mehr oder weniger alle Figuren, die bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung des Genozids später eine Rolle spielen sollten.
Da saßen also vier Menschen in einem Studio und haben Nirvana-Grunge, Bob Marley-Reggae und Youssou N’Dour gespielt. Sie haben geraucht, gescherzt und zwischendurch Kriegspropaganda betrieben. War denen bewusst, dass sie gerade den Soundtrack zu einem Genozid liefern? Selbstverständlich – nur dass sie es wohl nicht Genozid, sondern Résistance genannt hätten: Wiederstand, Kampf für black power und Demokratie.
In dem „Hate Radio“-Buch steht: „Der Massenmord war Handarbeit und geschah im Schichtdienst: Junge Männer standen früh auf, stärkten sich mit Grillspießen und Bier, brachten ihre Macheten oder altertümlichen Jagdwaffen mit.“ Wie groß war eigentlich der kulturelle Gap zwischen den Machern des Radios und seinen Hörern? Die Stärke des Radios bestand gerade darin, dass es zu allen sprach – und zu jeder Gruppe auf ihre Weise: zu den Gläubigen mit Bibelzitaten, zu den Intellektuellen und den NGOs mit historischen Vergleichen und langen Reportagen zu den neusten UNO-Resolutionen. Zur urbanen und ländlichen Jugend mit guten Jokes und grotesken Alltagsgeschichten, zum Mittelstand mit den News von der Front.
Das Moderatorenteam war sehr heterogen – es gab vom weißen Pseudo-Intellektuellen aus Belgien, der die Tutsi mit Hitler verglich. Ebenso: die emotional von toten Kindern hetzende Ruanderin. Was hat diese Figuren miteinander verbunden? Nichts ausser das Radio – und nach einer gewissen Zeit natürlich Freundschaft. Im Grund wurden sie gecastet wie eine Boygroup, sie kannten sich vorher nicht und ihre Wege trennen sich nach dem Ende des Genozids für immer.
Eine sehr seltsame Figur ist der Belgier Georges Ruggiu. Was macht ein Weißer im ruandischen Radio des Jahres 1994, also 32 Jahre, nachdem die UNO-Mandatsmacht Belgien das Land an seine Bewohner zurückgegeben hat? Ruggiu lernt in Belgien durch Zufall junge Hutu-Studenten kennen, die ihm die politische Situation in Ruanda aus ihrer Perspektive schildern. Das heisst: Die Tutsi wollten angeblich die Monarchie wieder errichten. Wer sie bekämpft, kämpft also für die Demokratie und die Unabhängigkeit des Landes. Tragischerweise hatte die Bevölkerungsminderheit der Tutsi tatsächlich während der Kolonisation mit den Belgiern nach dem Prinzip divide et impera kollaboriert. Das Ende der Kolonisation fällt zusammen mit dem Ende der Monarchie, der Flucht des Tutsi-Königs und dem Beginn der von Hutus dominierten Demokratisierung Ruandas – die natürlich in Wahrheit eine Diktatur des nördlichen Teils über den südlichen ist, weshalb der Genozid im Süden auch erst einen Monat später, nach dem Einschreiten des Militärs ausbricht. Aber wie auch immer: Ruggiu glaubt diese Version der Geschichte, er sieht sich als Kämpfer für die Demokratie. Dazu kommt, dass er (schon bei seinem ersten Besuch in Ruanda) Eingang findet in die High Society – auch wenn dies natürlich nur aus Kalkül geschieht.
Wie kann man die Sprache, derer sich die Moderatoren bedienten, beschreiben? Kinyarwanda ist eine äusserst metaphernreiche, sehr komplexe Sprache, eigentlich kaum zu lernen – im Vergleich zu Deutsch oder Französisch, die sehr logisch und eindeutig und letztlich naiv konstruiert sind, wird Sinn über Umschreibungen, Metaphern transportiert. Dieser Metaphern bedient sich auch das RTLM, mischt darin aber Fäkalausdrücke und äusserst gewalttätige, zynische Scherze. Auch hier war es der Cocktail aus allen möglichen Levels – von biblischer Sprache und hoch analytischen Beiträgen bis zu pubertären Scherzen wie die Rape-Me-Sache – die die Wirksamkeit des Senders ausmachte.
Ist denn tatsächlich belegt, dass RTML den Gneozid begünstigt hat? Es gibt direkte Anweisungen im RTLM – Hinweise auf Häuser, in denen sich Tutsi versteckten oder die Nennung von entsprechenden Autonummern -, der Hauptanteil des RTLM am Genozid liegt aber darin, dass überhaupt vom Genozid offen (und in offener Weise) gesprochen wurde: dadurch wurde er legitimiert, normalisiert, fast banalisiert.
Kann man RTML mit den Soldatensendern beispielsweise in Vietnam vergleichen? Formattechnisch wohl schon: die interaktive Vermischung von nihilistischem Lebensstil, Pop Culture etc. sind sehr ähnlich – ein Sender von Soldaten für Soldaten, von extremistischen Hutus für extremistische Hutus…
In welcher Weise haben Sie Informationen zusammengetragen und zu Film, Buch, Theaterstück, Hörspiel verarbeitet? Sehr viele Interviews, Recherchen in den Archiven und vor Ort. Dann ein längerer Literarisierungsprozess, in dem sich Fakten und Fiktion vermischen. Dann die Proben – und schliesslich die Aufführungen vor Ort.
Im Film lachen Sie mit Bemeriki, jener Moderatorin, die im Studio damals so metaphernreich gegen die Tutsi gehetzt hat. Wie schwierig war es, dieser Frau gegenüberzutreten? Das geht schon – es ist ja mein Beruf. Natürlich hatte ich beim ersten Mal ein wenig nervös. Vor allem. weil die Familie meines ersten Übersetzers auf einen Radio-Hinweis von Bemeriki ermordet wurde. Aber das legt sich schnell. Zu dem Zeitpunkt, den man im Film sieht, kannte ich Bemeriki schon seit etwas mehr als einem Jahr, ich habe sie für die Recherchen öfter im Gefängnis besucht. Die Schauspielerin Nancy Nkusi, die Bemeriki verkörpert ist aber, als ich sie einmal mitnehmen wollte, krank geworden – in der Nacht davor.
Sie haben „Hate Radio“ auch in Ruanda aufgeführt. Die Zuschauer standen auf der Straße vor dem alten RTML-Gebäude, hielten kleine Radios in den Händen und hörten über Kopfhörer ihre Inszenierung in dem nachgebauten Studio. Wie waren die Reaktionen? Das war 2011. Die Reaktionen waren unterschiedlich: einige haben geweint, einige haben sich an die Zeit erinnert, als sie selbst RTLM hörten – in ihren Verstecken, an der Front, in den angrenzenden Ländern. Einige der Jugendlichen haben zu den Songs im Radio getanzt, oder eher mit den Füssen gewippt.
Welche Konsequenzen gab es für die Macher des Radios? Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (International Criminal Tribunal for Rwanda) wurde ins Leben gerufen (wie danach für Serbien), die Haupttäter wurden gefasst, darunter auch Georges Ruggiu – es gab einen speziellen Prozess für die sog. „Hate Media“, das RTLM und eine extremistische Hutu-Zeitschrift, „Kangura“. Bemeriki wurde von den Gacacas abgeurteilt (den Dorf-Gerichten) – für einen Mord an einem jungen Mädchen. Sie alle aber hatten das Glück, dass sie erst nach Abschaffung der Todesstrafe gefasst wurden, ausser Kantano, der höchstwahrscheinlich bei der Auflösung der Flüchtlingslager durch die ruandische Armee 1996 erschossen wurde.
Hat das Radio heute überhaupt noch diese Macht? Könnte sich „Hate Radio“ wiederholen? Das denke ich nicht – die Situation war, medientechnisch gesehen, eine absolute Novität, es gab ja nichts ausser Radio. Es müssten nun alle Medien, auch das Internet, zusammen arbeiten, um diesen Einfluss zu gewinnen. Aber immer noch ist natürlich Radio das wichtigste Medium in Ruanda, sogar das Fernsehen wird oft eher als Radio genutzt.
Fazit der Recherchen, aus dem Buch: „In einer Untersuchung aus dem Jahr 2009 über die Bedeutung von RTLM bezeichnet David Yanagizawa dessen Einfluss als maßgeblich. ‚ Eine vollständige Rundfunkabdeckung‘, so fand er heraus, ‚erhöhte die Gewalt um 65 bis 77 Prozent und eine einfache kontrafaktische Rechnung deutet darauf hin, dass ungefähr neun Prozent des Genozids, also mindestens 45.000 ermordete Tutsi, auf den Rundfunksender zurückgeführt werden können.“
„Hate Radio“, Milo Rau, Verbrecher Verlag, 320 Seiten, 18,00 Euro
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