Luftesserinnen, Mami-Mumifizierer, Wagner-Selbstmörder und Prozesshansel prallen im absurden „Drachensaat“-Roman aufeinander. Jan Weiler liest am Freitagabend (9.1.) in 1LIVE Klubbing ab 23 Uhr seine Geschichte um ein Clique durchgeknallter Medienstars.
Ex-Architekt Bernhard ist ein waschechter Idiot. Sein Nachname Schade deutet bereits an, dass sich niemand über seine Existenz freuen muss. Bernhards Ehe zerbricht scherbenreich, weil er seinen behinderten Sohn Udo zum 18. Geburtstag in ein Bordell einlädt, sich sogleich eine zweite Hure bucht und mit Udo gemeinsam den zweifelhaften Sinnesfreuden frönt. Die beiden fliegen auf und Bernhards Leben infolgedessen auseinander.
Auftraggeber laufen ihm scharenweise fort. Seine Frau bricht jeden Kontakt ab. Udo stürzt sich kurz darauf von einem Hochhaus und stirbt. Hartz IV sichert fortan das Leben des einstigen Geschäftsmannes. Bernhard sieht nur einen Ausweg: Er will sich heldenhaft erschießen, wie sein Großvater zum Weltkriegsende vor 60 Jahren. Er fährt nach Bayreuth, besucht eine Richard-Wagner-Aufführung, packt in der Loge seine Pistole aus und lernt wenige Sekunden später eine weitere Lektion: „Die meisten Menschen würden sagen, man hört es nicht. Sie glauben, es ginge einfach zu schnell. Man setzt die Mündung an seine Schläfe, drückt ab, und dann dauert es nicht einmal eine tausendstel Sekunde, bis das Projektil im Schädel ankommt.“
Theoretisch klingt das alles einleuchtend. Aber Bernhard zielt falsch, die Kugel streift lediglich sein Stirnbein, zertrümmert ein paar Knochen, zerfetzt sein Trommelfell und „in meinem Kopf rauscht es, ich bin so eine Art Mensch gewordener Niagarafall“.
Für solche Fälle gibt es Ärzte wie Dr. Zens. Bernhard wird in ein Sanatorium eingeliefert, und wieder deutet hier ein Name Unheilvolles an. Das Haus heißt „Unruh“ und wer im „Haus Unruh“ landet, der ist seinen Seelenfrieden los. Neben Bernhard trudeln auf der Geschlossenen in den folgenden Wochen ein: der dauerprozessierende Busfahrer Ünal, der schwul ist „wie ein Sofakissen von Noël Coward“. Ünal „hat den ihm anvertrauten Omnibus der Braunschweiger Verkehrs AG nicht bis zur Endhaltestelle der Linie 416 nach Kralenriede gefahren, sondern, ohne anzuhalten, bis nach Gotha in Thüringen.“ Und das nur, weil zwei türkische Jugendliche während der Fahrt „Hey götlek! Ne zaman otobüsün kalkıyor“ gerufen haben.
Zu Ünal gesellen sich die luftessende Rita, Postzusteller Arnold, der sich vor Menschen, Hunden, Autos, Klingeln und Briefschlitzen fürchtet und der Rheinländer Benno Tiggelkamp, der einst seine verstorbene Mutter im heimischen Wohnzimmer mumifizierte. Dr. Zens will die vier Verrückten heilen, die Drachensaat-Brut in gesellschaftsfähige Wesen verwandeln.
Was anfangs niemand ahnt: Herr Doktor bekämpft den Teufel mit dem Beelzebub und ersinnt einen verbrecherischen Plan. Die Clique soll einen verdienten Millionenmanager entführen und mit ihm über ihre Schicksalsschläge diskutieren, vor der Kamera, in aller Öffentlichkeit. Zens hat Bernhard, Rita, Ünal und Arnold zusammengeführt, weil jeder von ihnen der Medienhatz ausgesetzt gewesen ist, und weil er glaubt, dass die vier ihre Wahnsinnstaten begangen haben, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie sind wie geschaffen für das TV-Spielchen. Ihr Talkshowband soll der ARD zugespielt werden, und nur wenn mindestens 20 Millionen Menschen zuschauen, soll der arme, reiche Manager lebend entlassen werden. Big Brother war ein Witz dagegen. Wer kann gewinnen?
Jan Weiler arbeitete während der Schul- und Zivildienstzeit als Lokaljournalist, später als Texter in Werbeagenturen. Mit Anfang 20 ist er nach Bayern gezogen, um an der Deutschen Journalistenschule in München zu studieren. Anschließend war der gebürtige Düsseldorfer von 2000 bis 2005 Chefredakteur des „Süddeutsche Zeitung Magazins“. Seitdem ist er nicht in den 1LIVE Sektor zurückgekehrt, sondern stattdessen im Süden geblieben, gemeinsam mit seiner italienischen Frau und den beiden Kindern.
Mit „Maria, ihm schmeckt’s nicht! Geschichten von meiner italienischen Sippe“ ist Jan Weiler 2003 ein Überraschungserfolg geglückt. Nachfolgende Bücher wie „Antonio im Wunderland“ und „Gibt es einen Fußballgott?“ haben die Fangemeinde stabil in hoher Höhe gehalten.
Mit „Drachensaat“ hat der 41-jährige Bestsellerautor zynische Medienkritik, allgegenwärtige Terrordebatten und antipsychiatrische Streits zu einem flotten Samstagabendroman zusammengefasst. Talkshowgucker, RAF-Filmfreunde, „Einer flog über’s Kuckucksnest“-Fans und Menschen, die Arnolds Angst vor Briefschlitzen nachvollziehen können, werden „Drachensaat“ lieben.