Wladimir Kaminer schreibt Literatur, zu der man tanzen kann: Jetzt stellt der 40-Jährige seinen Beitrag zur 1LIVE Klubbing-Hörbuchedition vor.
Das „ü“ spricht er immer noch als „u“, aus „Glück“ wird also „Gluck“ und allein dafür muss man Wladimir Kaminer lieben. Man muss ihn dafür lieben, dass er heimelige Klischees derart nonchalant bedient und dabei nicht eine Sekunde langweilt, dass er immer eine bisschen polterig-holprig spricht und gleichzeitig Wörter wie „postkommunistisch“ akzentfrei wiedergibt. Nach dem alten Bühnentrick: Man glaubt dem Humpelnden nur, wenn er alle drei Schritte, und nicht die ganze Zeit sein Bein nachzieht.
Seit acht Jahren, seit der Debütband „Russendisko“ die heimschen Bestsellerlisten überfiel und entstaubte, gehört Wladimer Kaminers Seele, seine Sprache, sein Pathos und dieses wunderbare „u“ zum guten Leseton in teutonischen Lesediskotheken, Bahnhofsbuchhandlungen und Radiostudios. Durch den russisch-melancholischen, für Deutsche eher fremden Blick schaut dieser großartige Autor auf ein seltsames Land, das Rhabarber liebt und Kleingartenverordnungen kennt, das ängstlich nach Vollkasko-Lebensversicherungen fragt und den wilden Mann stets nur bestaunen kann. Dieser Autor trifft, ohne scharf geschossen zu haben – und genau das zeigt auch diese liebevolle Doppel-CD für 1LIVE.
Die ersten Aufnahmen versammeln, von „Vaters Rat“ bis „Deutschunterricht“ noch einmal die besten Texte aus der „Russendisko“-Anthologie. Sie werden, zum Glück, von Wladimir Kaminer selbst gelesen. Ein fremder Schauspieler könnte das niemals bewerkstelligen. Die Bücher sind amüsant, die CD bereits wahnwitzig, an vielen Stellen, doch allein live wird die Russendisko zum Ereignis. Denn dann spielt Kaminer stets den naiv Verwunderten, als lebe er in einer Parallelwelt des russischen Dada-Autor Daniil Charms, als könne er nur staunen über den Irrsinn da draußen.
Aber natürlich staunt der Mann nicht bloß. Es ist auch kein dummes Aus-der-Wäsche-Gucken. Die wirbelnde „Radio Russendisko“-Kompilation, die zweite CD dieser 1LIVE-veröffentlichung, muss eher „Performance“ getauft werden. Polyphon, mehrstimmig diskutieren Waldimir Kaminer und sein Diskopartner Yuriy Gurzhy über irrwitzige Verstandesbarrieren, über Fehlinterpretationen der „russischen Seele“, sie imitieren den Telekolleg-Ton und spielen schlechten, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen Reggae. Sie benehmen sich vorm Mikrofon, als wären sie spätnachts, nach zwei Flaschen Wodka, in ein Studio eingestiegen. Sie sind wahnsinnig, intelligent, melancholisch, ironisch. Ein großer Spaß!
(Wladimir Kaminer & Yuriy Gurzhy: „Radio Kaminer“, Random House Audio, 2 CDs, 12,95 Euro / Beitragsbild: Wikipedia)