Zum dritten Mal wurde heute der „Preis für den ungewöhnlichsten Buchtitel des Jahres“ auf der Leipziger Buchmesse vergeben. Ich habe die Veranstaltung der „Was liest du“-Community moderiert und selbstverständlich vorab alle Bücher angeschaut, teilweise auch komplett gelesen, die Shortlist sortiert und mit den Internetstimmen und der Jury (neben mir waren dies Max Giermann, Ramona Nicklaus, Torsten Sträter und der Leipziger Buchmessendirektor Oliver Zille) diese endgültige Liste erstellt, die ich hier – wie bei der Preisverleihung selbst – von Platz zehn bis eins rückwärts veröffentlicht.
ZEHN Als ich vor einem Monat die Shortlist des Buchpreises für den ungewöhnlichsten Buchtitel auf Facebook postete schrieb Kollege Stefan Mesch über diesen Titel: „Wäre das ein Link, würde ich ihn öffnen, weil mich die Begründung interessiert.“ Und Englischlehrer Jörg Weese antwortete: „Einen Titel hätte ich schon, es müsste halt nur jemand das Buch dazu schreiben: Die verlorene Blume der Katharina E.“ Der 1991 geborene Poetry-Slammer Nils Frenzel legt hier seine besten Texte vor in jener Art, die man vom ebenfalls Poetry Slam nahen (und in diesem Jahr seltsamerweise gar nicht vertretenen) Verlag Voland & Quist kennt: nämlich mit CD. Die Begründung zum Titel kommt gleich zu Beginn mit einer ironischen Suade, in der sich der nutzlos Studierte gegenüber dem tatkräftigen Bauarbeiter abwertet, denn Bauarbeiter „müssen kein Erasmussemester in Prag machen, um dann mit irgendwelchen tschechischen Studentinnen zu
schlafen (…) wenn Bauarbeiter mal mit tschechischen Studentinnen schlafen wollen, dann gehen sie in den Puff. Weil Bauarbeiter das so machen!“ (Nils Frenzel: „Warum ich lieber mit einem Bauarbeiter in der Badewanne liegen würde als mit einer Jura-Studentin“, periplaneta, 138 Seiten + CD, 14,50 Euro)
NEUN Im Ranking langte es zwar nur für Platz 9, doch für mich ist dieses All Age-/Jugendbuch eine Überraschung, weil Sonnenblick seine Geschichte auf unpeinlicher Augenhöhe mit seinen anvisierten LeserInnen erzählt. Es geht um Rich, der durch einen Autounfall plötzlich im Jahr 1969 landet – bei drei Hippies, die auf dem Weg nach Woodstock sind und von denen einer Ricks Vater, der andere sein Onkel in jungen Jahren zu sein scheint. Das klingt nach Klamauk und einer jugendlichen Version von „Hangover“, ist aber einerseits eine sehr smarte Beatstory über die längst vergangene Macht von Popmusik, aber auch – bemerkenswert undramatisch erzählt – die verstörende Aufdeckung eines Missbrauchs. Booklist urteilt: „Einzigartig, zum Teil hintergründig und angemessen durchgeknallt.“ (Jordan Sonnenblick: „Die total irre Geschichte mit der Gitarre meines Vaters und allem, was danach kam“, über. v. Gerda Bean, Carlsen, 298 S., 14,99 Euro)
ACHT 1998 veröffentlichte der Autor und Rechtsanwalt Jörg Steinleitner gemeinsam mit Matthias Edlinger den Roman „205.293 Zeichen“, erst bei der Edition Garnitur, dann im Kölner KiWi-Verlag (auf dessen Seite man leider nichts mehr zum Buch findet.). Zwei Jahre später veröffentlichte Gisa Funck, ebenfalls bei KiWI, ihren Magisterarbeitsroman „Echt fertig“ und damit hatte auch der gemeine Leser eine Vorstellung davon, dass Zeichenzählen zur Motivationsarbeit eines Autors gehört. Nun kloppen also die beiden Poetry-Slammer Felix Lobrecht und Malte Rosskopf in zehn Wochen aus alten Texten eine Art Roman zusammen und schreiben im Berliner Slang über ihren Kampf „gegen Faulheit, Zeitnot und Vögel im Flur.“ Besonders schön ist der Klappentext mit dem Blurb: „Ich habe dieses Buch sehr oft gelesen (Hannibal, der Lektor)“. (Felix Lobrecht, Malte Rosskopf: „10 Minuten? Dit sind ja 20 Mark! Zeit ist Geld und wir haben’s eilig!“, Satyr, 222 Seiten, 12,90 Euro).
SIEBEN Ich kenne zwar Marion Zimmer Bradley, aber mit der 1999 verstorbenen Autorin des Fantasy-Romans „Die Nebel von Avalon“ hat der kanadische Star Bradley Somer (sein Roman ‚Imperfections‘ wurde mit dem CBC Bookie Award für das beste Debüt des Jahres ausgezeichnet) nichts zu tun, eher mit „Findet Nemo“ (aber nur vage, denn erst ziemlich zum Schluss findet der Sprung tatsächlich statt) oder mit dem Film „The Million Dollar Hotel“ von Wim Wenders. Denn eigentlich wird hier von jenen Menschen erzählt, die der kleine, etwas einfältige Goldfisch in Sekundenbruchteilen sieht, während er nach unten fällt; im smart-spöttischen Ton vom Erzähler kommentiert, dessen Intellekt weit über dem dieses vergesslichen Tierchens steht, diesem „simplen Amalgam aus Carpe Diem, Laisser faire und Namaste.“ (Bradley Somer: „Der Tag, an dem der Goldfisch aus dem 27. Stock fiel“, übersetzt von Annette Hahn, 318 S., Dumont, 14,99 Euro)
SECHS Niemand druckt das Internet aus; abgesehen von deutschen Verlagen. Es gibt unzählige Bücher der „SMS von gestern Nacht“-Seite; die inzwischen an VICEdigital angebunden ist und „Chat von gestern Nacht“ heißt. Das ist Internet ohne Leserkommentare. Abgesehen vom Bestsellerrang (es läuft vermutlich unter Mitbringsel) haben wir also einige Gründe mehr, den Band „Lepra-Gruppe hat sich aufgelöst“ der inzwischen mit dem BILDblog (-> ebenfalls VICE) zusammenarbeitenden Seite „Perlen des Lokaljournalismus“ anzusehen. Auf 194 Seiten gibt es schöne Fails der Printbranche wie „Trotz Dachschaden: Schulkinder boten beste Unterhaltung“ oder „Bewaffneter Banküberfall auf Tankstelle“, eine Art Dauer-Hohlspiegel für alle, die am liebsten mit der letzten Seite im SPIEGEL anfangen. (Ralf Heimann, Jörg Homering-Elsner: „Lepra-Gruppe hat sich aufgelöst“, Heyne, 194 S., 9,99 Euro)
FÜNF Vor genau einem Jahr traf ich Frank Witzel zum Interview bei Kaffee und Kuchen am Rande der Leipziger Buchmesse, weil ich wenige Tage vorher mit nicht abbrechender Begeisterung seinen Wahnsinnsroman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ gelesen hatte. Witzel war ein wenig niedergeschlagen, weil die Resonanz auf dieses Buch, an dem er über zehn Jahre gearbeitet hatte, relativ bescheiden war. Den Preis der Leipziger Messe bekam damals Jan Wagner für seinen 690 Seiten kürzeren Lyrikband „Regentonnenvariationen“ (hier und hier im Blog). Das Wunder geschah dann im Herbst, als Witzel den Deutschen Buchpreis in Empfang nehmen durfte und Matthes & Seitz plötzlich ein Bestsellerverlag war. (Frank Witzel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, Matthes & Seitz, 800 Seiten, 29,90 Euro)
VIER In der mittelalterlichen Literatur waren Einhörner noch die edelsten aller Fabeltiere. Doch inzwischen dürfte bei jedem angekommen sein, dass diese Pferde- oder Ziegentiere mit dem Horn in der Mitte Abgründe sind, in die sich selbst Woyzeck nicht runterzuschauen getraut hätte. Die Seite „kotzendes Einhorn“ beschreibt es in den knappen Worten: „Du wirst denken alles ist Einhornism und da liegst Du gar nicht so falsch. Das kotzende Einhorn ist wie Yin und Yang. Es verkörpert die Seltenheit der Schönheit und ebenso die Gefahr (Horn). Das Wunderbare (Regenbogen) wie auch das Unangenehme (Kotzen).“ Nun kommt Theo Nicole Lorenz, nach ihrem Masterabschluss in Kreativem Schreiben an der Hamline University hinzu und verbindet den Hype „Erwachsenenmalbücher“ mit dem Einhorn-Phänomen und behauptet: „Einhörner sind
Arschlöcher“, denn: sie verputzen unsere Essenreste, schmollen den ganzen Tag, wenn ihnen etwas nicht passt, sie prellen die Zeche und mäkeln an deinem Musikgeschmack herum. Leichter als Mandalas auszumalen, schwieriger als die Lektüre der Buzzfeed-Seite. (Theo Nicole Lorenz, „Einhörner sind Arschlöcher: Schockierende Wahrheiten zum Ausmalen“, mvg, 40 S., 6,99 Euro).
DREI Entzückend, hinreißend, anrührend; das sind Vokabeln, die sich auf dem Blog verbieten und doch ebenso passen wie die Vokabel „heiter“. Dennoch, es bleibt nur das Naheliegende, nämlich der Titel, der eine Untertreibung darstellt – nur in welcher Weise, soll hier nicht verraten werden, weil es den Spaß verderben könnte an dieser raffiniert-leichten Konsumgeschichte, die irgendwo zwischen PeterLichts Bachmannpreistext, dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und Michele Murgias Roman „Camilla im Callcenterland“ steht. Erzählt wird aus Sicht eines mittelnah fokalisierten Erzählers mit allerlei Volten die Geschichte der alleinstehenden, aber von verschiedenen Männern umworbenen Marie aus Toulouse, die sich für 699 Euro einen neuen Kühlschrank beim Discounthandel bestellt. Doch der ist kaputt und dieses Maleur stellt in bester Screwball-Comedy-Manier Maries Alltag auf den Kopf, bis sich neben zahlreichen Männern sogar das Fernsehen für ihr Leben interessiert (was sie bislang, selbst kalt wie der Kühlschrank, mit Desinteresse quittierte).
Marie taut auf; und dieses Wortspiel ist hier mehr recht denn billig und das Buch schlichtweg ein Überraschungstipp, der an einem Februarabend durchgelesen wurde. (Alain Monnier: „Die wunderbare Welt des Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe“, übersetzt von Liz Künzli, Arche, 158 S., 16,99 Euro)
ZWEI Autor Raymund Krauledis ist BWLer, Sachbuchautor und Onlinesatiriker. Diese drei Fertigkeiten bringt er in seinem Büchlein zusammen mit witzigen (mathematischen) Aufgaben der Art: Jede Minute werden 300 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen. a) Wie viele Tage würde es dauern, bis Sie alle hochgeladenen Videos einer einzigen Stunde angesehen hätten? b) Wie alt müssen Sie werden, um das komplette Material eines ganzen Jahres zu sichten (vorausgesetzt, Sie würden von ihrer Geburt an nichts anderes tun)? Oder er lässt die Mathematik direkt außen vor, wie hier: „Ordnen Sie die folgenden Verhütungsmittel nach ihrer jeweiligen Sicherheit. a) Pille b) Kondom c) Hormonspirale d) Mundgeruch und Achselhaare.“ Das Ergebnis der ersten Aufgabe ist übrigens: „Bis Sie alle auf YouTube hochgeladenen Videos einer einzigen Stunde angesehen hätten, würden 750 Tage vergehen. Um das Material eines kompletten Jahres anzuschauen, müssten Sie mindestens 18.000 Jahre alt werden.“
(Raymund Krauleidis: „Eine Rolle Klopapier hat 200 Blatt. Warum ist keins mehr da, wenn man es am dringendsten braucht? Das Leben in Textaufgaben“, Goldmann, 190 S., 8,99 Euro)
EINS Der Wuppertaler Patrick Salmen und sein Kollege Quichotte haben mit „Aufgeben ist keine Lösung; außer bei Paketen“ das perfekte Buch zur Preisverleihung geschrieben. Denn in jedem Jahr stelle ich dem Publikum kleine Rätselaufgaben, je eine für jedes Buch; der Gewinner bekommt dann das Exemplar. Ich könnte es mir auch leicht machen, und einfach diese cineastischen Rätselgeschichten vorlesen, die auf sehr smarte Weise Wortspiel und Kinowissen verbinden. Am Ende jeder Geschichte muss der Kino- oder Serientitel sinnvoll eingefügt werden; aus dem Wortspiel ergibt sich dann ein Titel (also: erst ergänzen, dann um die Ecke denken und den Film erraten. Wer es versuchen will kann sich daran probieren: „Immer diese Vorurteile! Mit diesen amerikanischen Jugendfilmen ist es doch immer das Gleiche“, spricht der neunmalkluge Filmkritiker: „Grad wenn es um den Drogenkonsum in den multikulturellen Vierteln geht. Alle kiffen den ganzen Tag und am Ende ist nur _ _ _ _.“ (Patrick Salmen, Quichotte: „Aufgeben ist keine Lösung; außer bei Paketen“, Lektora, 136 S.,
10 Euro) Die Auflösung, rückwärts geschrieben, damit man es nicht direkt erkennt: iaH eßiew reD – hgih eßieW red. Fun Fact zum Schluss: Salmen und Quichotte sind vor zwei Jahren schon einmal auf Platz 2 gelandet („Du kannst alles schaffen, wovon du träumst. Es sei denn, es ist zu schwierig.“) und für den Lektora Verlag ist es das dritte Treppchen im dritten Jahr (2013: 2. / 2014: 3. (Zymny) / 2015: 1.).