Indra Wussow hat ein bekanntes Literaturstipendium auf Sylt geschaffen, heute engagiert sich die Literaturwissenschaftlerin in Südafrika. (Das Beitragsbild / der Ausschnitt zeigt die preisgekrönte Skulptur „Mabu a u twitstwe“ von Setlamorago Mashilo / Foto, wie auch unten: Ivan Muller)
Niemand will – soweit vorhanden – auf sein Vermögen reduziert werden. Auch Indra Wussow will das nicht, die Literaturwissenschaftlerin, einst erfolgreiche Managerin, hat nach dem frühen Tod ihres Vaters, einem Getränkefabrikanten, Geld geerbt und konnte sich überlegen, was sie damit anstellt. „Es hätte sicher auch ein Jaguar getan“, sagt die 48-Jährige, „aber mich interessieren Statussymbole nicht. Ich finde, es ist unsere Pflicht, möglichst viel über uns und das Leben an sich zu erfahren.“ – Wussow gründete im Jahr 2002 die Stiftung Sylt Foundation im beschaulichen Rantum auf Sylt. Inzwischen ist die Stiftung weltweit aktiv und engagiert sich vor allem in Afrika. Bekannt wurde die Sylt Foundation früh durch die Vergabe des Inselschreiber-Stipendiums, das nicht nur aufgrund des Preisgeldes und der renommierten Autoren einen deutschlandweit beachteten Ruf bekam, sondern auch, weil die Apartments im Gegensatz zu anderen Stadtschreiberklausen überaus luxuriös eingerichtet sind. Gerade ist die Ausschreibung für 2016 veröffentlicht worden. Geboten werden in diesem Jahr acht Wochen Sylt, vier Wochen Marseille plus 3000 Euro.
Geld, das vielleicht auch deshalb vorhanden ist, weil Wussows Sylter Wagen ein alter VW-Bulli ist und in Südafrika lediglich ein kleiner Hyundai rumsteht. Indra Wussow investiert woanders, in Förderprogramme für Schriftsteller, Maler, Musiker und andere Künstler auf verschiedenen Kontinenten. Ein Schwerpunkt dabei ist Afrika. In diesen Tagen ist der Südafrikaner Setlamorago Mashilo zu Gast in Rantum. Für seine Skulptur Mabu a u twitstwe hat er auf der Turbine Art Fair in Johannesburg, mit der die Sylt Foundation kooperiert, einen Preis gewonnen. 500 schwarze Maiskolben aus Beton liegen auf einer Decke und symbolisieren den ungerechten Kampf um Land, der auch im neuen Südafrika Subsistenzfarmer bedroht und altes Unrecht durch neues ersetzt.
Gleichzeitig engagiert sich die Sylt Foundation nicht nur für den internationalen Austausch, sondern, 9200 Kilometer südlich von Sylt, direkt vor Ort. „Wir haben hier die ersten Ausstellungen und Residencies bereits 2001 vor Gründung der Stiftung gemacht“, sagt Wussow. Seit 2007 lebt sie in Johannesburg, hat dort ein Haus mit Cottage für die Residents. Im Mai ist der nigerianische Schriftsteller Helon Ngalabak Habila nach Johannesburg eingeladen, der 2013 beim Deutschen Krimipreis für Öl auf Wasser den zweiten Platz erreichte. Herausgeberin der hochgelobten, im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn erschienenen Reihe zeitgenössischer afrikanischer Literatur ist wieder Indra Wussow, die mit Habila einmal mehr beweisen konnte, dass die Literatur Schwarzafrikas mittelpunktsfähig ist. In der Buchreihe AfrikAWunderhorn erscheinen Romane wie Sello Duikers Die stille Gewalt der Träume, der von den Lebensbrüchen und Identitätskonflikten im neuen Südafrika aus der Sicht eines jungen Schwarzen der Mittelklasse berichtet.
Auch deshalb ist Wussow rausgegangen, um in ständiger Begegnung mit der Fremde neugierig, offen, eben nicht auf inseltypische Sylter Art saturiert zu werden. „Sylt ist eine Insel und Inseln erlebte ich oft als isoliert und durch die fragile Natur auch sehr verletzlich.“ Ihrer Ansicht nach verwandelt ein Zuviel an Tourismus die Insel in eine Kulisse. Schöner fände sie es, „wenn eine andere Wahrnehmung, auch eine andere Wahrnehmung des Reisens entstünde.“ – Schon immer hat sich Wussow dafür interessiert, wie Gesellschaften mit sozialen und politischen Veränderungen umgehen – und die Verheerungen des Kolonialismus wirken in Südafrika nach. „Sie sind durch den erschreckenden Fremdenhass hier aktueller denn je“, sagt Wussow. „Südafrika ist im Moment ein schwieriger Ort, weil die Wunden der Apartheid natürlich nicht in 20 Jahren heilen können und es leider im Moment niemanden gibt, der eine Versöhnungspolitik betreiben würde.“ Viel zu oft würde eher das Trennende gesucht. „Das ist natürlich in der Kunst und Literatur anders, wo ein alternativer Umgang miteinander erlernt werden kann.“
Die aktuellen Gewaltausbrüche gegen andere Afrikaner in Durban und Johannesburg kann auch die Kunst nicht aufhalten – aber sie kann informieren und die Hintergründe offenlegen. Denn wie beim einstigen Völkermord in Ruanda, wo ein populärer Radiosender die bewaffneten Rotten aufstachelte und zum millionenfachen Mord anstiftete, sind auch die neuerlichen Gewaltausbrüche orchestriert. „Südafrika war und ist immer noch ein Einwanderungsland, und dass hier so viele unterschiedliche Menschen und Religionen miteinander leben und dass das meistens funktioniert, ist eine wunderbare Chance“, sagt Wussow, die erst in afrikanischen Künstlerkreisen nicht mehr nur als „die Weiße“ wahrgenommen wurde, sondern als gleichberechtigte Partnerin einer Kultur, die hierzulande kaum beobachtet wird. Wussow ist als Kuratorin und Literaturexpertin in Afrika angekommen. Sie will völkerverständigend wirken und nicht nur dafür sorgen, dass Informationen frei flottieren können, sondern dass diese, beispielsweise Afrika betreffend, nicht im Nachrichtenstrom untergehen. „Ich bin zufällig in eine bestimmte Nation und eine bestimmte Kultur hineingeboren worden. Warum muss ich da bleiben und kann nicht in etwas Neues aufbrechen?“
Das Neue findet Indra Wussow mit der Sylt Foundation in der Kunst. Die Stiftung hat gemeinsam mit dem Tänzer und Choreografen Tumi Mokgope ein Tanzsolo entwickelt. Anhand des Autoreifens wird hier beispielsweise die Wertschöpfungskette des Kapitalismus hinterfragt. Das Stück beginnt bei der Ausbeutung des Kautschuks im afrikanischen Kongo, in den 1880er Jahren eine belgische Kolonie. Millionen von Afrikanern wurden ausgebeutet, umgebracht und versehrt. Nur so konnte massenhaft Gummi gewonnen werden, Gummi, das es ermöglichte, den Autoreifen massenhaft herzustellen. „Das tanzende Ich wandert mit diesen so segensreichen und nutzbringenden Autoreifen durch die Zeiten und endet schließlich als Opfer des necklacing, mit einem brennenden Reifen um den Hals, jener grausamen Strafe, mit der in den Townships während des Freiheitskampfes angebliche Verräter umgebracht wurden.“
Laut Wussow ist es vor allem deshalb ein wichtiges Stück, weil es anschaulich die Dynamik von Kolonialismus und Kapitalismus zeigt. „Wenn wir an die Nähfabriken zum Beispiel in Kambodscha denken, so ist ebendiese Dynamik so erschreckend aktuell und unsere Verstrickung auch als bloße Konsumenten offensichtlich.“ – Freilich muss Wussow für ihre Kunstvermittlung viel reisen. Fünf Monate im Jahr ist sie unterwegs. „Wie eine Amöbe“ breitet sich die Sylt Foundation aus, vernetzt neuerdings afrikanische und asiatische Künstler, bietet ein Austauschprogramm im kambodschanischen Phnom Penh an, arbeitet in Vietnam, auf den Philippinen und in Indonesien.
„Die Stiftung hat gerade einen interessanten Dialog zwischen Sylt, der Insel Mindanao auf den Philippinen und dem indonesischen Teil von Papua begonnen, der sich literarisch und künstlerisch mit dem Topos Insel in diesen ganz verschiedenen Gegenden der Welt auseinandersetzt.“ Wichtiges Thema ist hier natürlich, wie die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts ganz gravierende Folgen für die Ökosysteme von Inseln hat.
Der südafrikanische Videokünstler Kai Lossgott hat sich mit Sylts Müllwirtschaft beschäftigt und wird diese Ergebnisse mit seinen Erfahrungen aus einem Stipendium in Davao auf den Philippinen zu einer Videoinstallation verbinden. Der papuanische Dichter John Waromi arbeitet an einer Theaterperformance über die geteilte Insel Papua-Neuguinea und darüber, wie die indonesische Besetzung des westlichen Teils der Insel den Lebensraum der Papuas zerstört. Ebenso hat der Dichter Raks Seagkwa, ein ehemaliger politischer Gefangener auf Robben Island vor Kapstadt, ein Projekt begonnen, in dem er unterschiedliche Inselerfahrungen seines Lebens in einer Theaterintervention zusammenfügen wird. Auch wenn Indra Wussow ihre Heimat Sylt nur noch selten besucht – die Idee der Insel, die man irgendwo aufsuchen und besuchen, die man kennenlernen muss, reist die ganze Zeit mit.
Hinweis: Ich war im Jahr 2007 „Inselleser“ der Stiftung Syltquelle