Ein Besuch beim Berliner Schriftsteller Hartmut Lange in der Clausewitzstraße. Eine redigierte Fassung des Textes erschien am 6. Juli 2023 im Tagesspiegel (hier).
Höflich gefragt, ob die Schuhe an der Türschwelle ausgezogen werden sollen, sagt Ulrike Lange: „Wir sind doch nicht bei Spießern zuhause“ und lacht. Daneben ihr 86-jähriger Gatte Hartmut Lange, einer der unheimlichsten Schriftsteller Berlins, sichtlich erfreut über dieses Wiedersehen. Sofort fällt auf, wie hell die neue, vor zwei Jahren bezogene Altbauwohnung in der Clausewitzstraße nahe des Kurfürstendamms ist, weißgestrichen, geräumig. Wie so viele Ecken Berlins ist auch diese bereits in eine Lange-Novelle verwandelt worden. Wer von der Küche aus den Seitenflügel hinabgeht, steht in einem kleinen Raum, „wo hinter den Fenstern abgerissener Putz zu sehen war. Es war der Lichthof, der, weil unzugänglich, seit Jahrzehnten nicht erneuert wurde, und so war es nur selbstverständlich, dass man ihn, um den angenehmen Eindruck der Wohnung nicht zu beschädigen, so schnell wie möglich aus dem Blick haben wollte.“
So beschreibt Hartmut Lange vor zwei Jahren den dunklen Schacht in „Der Lichthof“ – einer von 78 bislang erschienen Novellen, die auf herausgehobene Weise das Rätselhafte der menschlichen Existenz anschauen – zuletzt: „Am Osloer Fjord oder Der Fremde“ (Diogenes, 112 Seiten, 22 Euro), wo erneut deutlich wird, dass Lange ein später Nachfahre der Berliner Phantasten Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann ist – daher auch die Charakterisierung als ein Schriftsteller, der dem Unheimlichen zugewandt ist.
In der Bürgerlichkeit angekommen
„Es ist tatsächlich dieser Lichthof, den ich beschrieben habe“, sagt Lange wie zum Beweis, und wer die Novelle kennt, erinnert sich an das Ehepaar, das eben dort vorgestellt wird. Mit dem Umzug erodiert ihre Beziehung, der dunkle Schacht am Ende der Wohnung hat einen merkwürdigen Anteil. Es ist der gleiche Lichthof, aber es ist nicht die Geschichte von Ulrike und Hartmut Lange, die seit nunmehr 52 Jahren verheiratet sind. „Ich bedanke mich für die Mitarbeit meiner Frau“ steht als Widmung am Anfang nahezu aller Novellenbände Hartmut Langes.
Über den Seitenflügel geht es zurück, durch die Küche ins Wohnzimmer, mit Blick auf die große Bibliothek im Nebenzimmer. Mehrere hundert Bände wurden ausgemistet, als sie aus der wesentlich dunkleren Wohnung am Hohenzollerndamm ausgezogen sind, wo in regelmäßigen Abständen die Erschütterungen der Untergrundbahn spürbar waren. Hier, in der Clausewitzstraße, ist das Ehepaar im Nucleus ihres Selbstverständnisses angekommen, an einem Ort der Bürgerlichkeit.
„Wenn man mich fragen würde, welche sozialpolitische oder gesellschaftspolitische Klasse mir im Augenblick am allernächsten ist, dann ist es das Bürgertum“, sagt Lange. „aber das Bürgertum in seinem Bestreben nach Bildung Schönheit. Wenn ich das preußische Zeitalter, das Biedermeier, sehe, dann habe ich das Gefühl, dass dieses Bestreben zum Humanismus aus dem Bürgerlichen kommt – und nicht aus dem Feudalen.“
Das Helotendasein der anderen
Gerade schreibt er an neuen Novellen, die im Umfeld der Medici spielen werden, jener zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert so einflussreichen Dynastie in der toskanischen Metropole Florenz, „als Ideologie pur vertreten wurde“, sagt Ulrike Lange, „da wurden die Kunstwerke von Botticelli auf dem Markt zusammengetragen und verbrannt.“
Dieses Interesse an den barbarischen Momenten der Weltgeschichte ist biographisch erklärbar. Hartmut Lange wird während des Nationalsozialismus am 31. März 1937 in Berlin-Spandau geboren. Der Vater Karl ist Metzgergeselle, die Mutter Johanna arbeitet als Reinemachefrau und Verkäuferin. 1939 siedelt die Familie nach Polen, in die Nähe von Posen, wo der Vater eine Gendarmerie auf dem Land leitet. Lange erinnert sich an Bäuerinnen, die zur Gendarmerie kamen, um zu verschickende Weihnachtspakete vor ihm aufzuschnüren, Pakete, die verbotene Waren enthielten. „Es waren Ungerechtigkeiten gegenüber jenen, denen man ein Helotendasein aufzwingen wollte“, schreibt er in seinem poetologischen Text „In eigener Sache“ am Ende des Lichthof-Bandes.
Tote und Untote in Berlin
Ein Fluchtversuch scheitert 1945. In der Nähe von Krakau wird der Vater von Soldaten der Roten Armee erschossen – sein Grab ist nicht bekannt. Lange kommt mit seiner Mutter in ein sowjetisches Internierungslager. Der ältere Bruder Gerd flüchtet über die Oder. Doch schon 1946 kehrt die kleine Familie nach Berlin-Johannisthal zurück. Man wohnt in einer Gartenlaube.
Er habe über die Jahrzehnte in nahezu jedem Stadtteil Berlins gewohnt, erinnert sich Lange, „in Adlershof, das ist der Osten. Dann war ich in Mitte, in Oranienburg und in Wilmersdorf.“ Er kennt diese Stadt wie seine Westentasche. „Ich bin Berliner, auch von der intellektuellen Ambition.“
Zahlreiche Novellen spielen hier, in Charlottenburg und am Grunewaldsee, in der Dorotheenstraße am Teltowkanal, im einstigen Führerbunker, in dessen Nähe heute das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ errichtet ist. „Das Haus in der Dorotheenstraße“ wurde in die Lehrpläne des deutschen Zentralabiturs aufgenommen.
1948 dann das Unglück, als der 18-jährige Bruder nach einer Tanzveranstaltung auf dem Heimweg zusammengeschlagen und lebendig begraben wird. Die Mörder werden nie ermittelt. Dem Bruder ist die 2009 erschienene Novelle „Der Abgrund des Endlichen“ gewidmet, in der sechzig Jahre nach der schrecklichen Tat ein Brief auftaucht. Der Erzähler wird vom angeblichen Mörder seines Bruders kontaktiert. Ein Dämon, könnte man meinen, wie so viele Tote und Untote, die in den Geschichten Hartmut Langes herumgeistern.
Der Zynismus von Hacks und Müller
Die 1833 gestorbene Berliner Salondame und Schriftstellerin Rahel Varnhagen irrt in „Die Begegnung“ durchs zeitgenössische Berlin Mitte. In der 1986 erschienen Novelle „Das Konzert“ treffen sich Jahrzehnte nach ihrem Ableben Opfer und Täter des Nationalsozialismus in der geteilten Hauptstadt. Ein Satiriker trifft dort auf seinen Mörder – dem er vergibt.
Ende der 1950er Jahre, mit Anfang 20, studiert Lange an der DDR-Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, er schreibt Drehbücher über Produktionsschlachten im Braunkohletagebau, ist vom Sozialismus überzeugt. Karl Marx repräsentiert für ihn das soziale Gewissen. Dennoch flüchtet er 1965 vor der geplanten Uraufführung seines ersten Stücks „Marski“ über Jugoslawien in die BRD. Der Sozialismus ist für ihn abgebrennt. Dabei war er einer der aufstrebenden Literaten seines Landes, gehörte zum Kreis um Heiner Müller und Peter Hacks.
„Ich hörte, dass der Stalin zig Millionen umgebracht hat. Ich bemerkte auch den Zynismus, wenn wir am Tisch saßen, mit Hacks und Müller; die waren immer rationalistisch zynisch. Immer zynisch. Das war bei mir irgendwann weg – und so war ich sehr früh davon überzeugt, dass der Mensch des Menschen größter Feind ist“, erinnert Lange und zeigt in Richtung seiner Bibliothek, in der bis vor einigen Jahren die Karl Marx-Gesamtausgabe stand. Aussortiert.
Erfolge und Misserfolge
1968 erhält Lange den Gerhart-Hauptmann-Preis der „Freien Volksbühne“ für sein Doppelstück „Hundsprozeß /Herakles“. Seine Rede wird zum Angriff: „Meine Damen und Herren, ist diese Preisverleihung an mich heute nicht grundsätzlich eine Heuchelei?“, fragt er und weist daraufhin dass die Uraufführung an der Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin lediglich 1000 Mark eingebracht hat.“
Dennoch schreibt und inszeniert Lange weiter. 1968, das ist die Zeit der Studentenunruhen, aber auch der Diskotheken, eine seitdem nicht abebbende Hochphase der hauptstädtischen Popkultur. In Diskotheken geht Lange jedoch nicht. „Was mich interessiert hat, war der Surrealismus. Der ist hier in Berlin auch nicht angekommen, die Filme von Buñuel, wo die in Paris in Fünferreihen angestanden haben, da sind die hier rausgekommen und haben gesagt: ‚Was soll das?’ Auch (Rolf) Hochhuth, hatte in Berlin einen großen Erfolg. Aber das ist klassisch für Berlin, auf den großen Erfolg musste ein Misserfolg kommen. Damals wurde dann geschrieben: ‚Hochhuth kommt vor dem Fall’.“
Wendung zum Nihilismus
Auch Hartmut Lange kennt harsche Verrisse – und die Depression, die ihn Ende der 1970er Jahre belastet, eine Niedergeschlagenheit, die auch begründet war in eben diesen schlechten Kritiken. Aus dieser, ihn seitdem nie völlig verlassenden Traurigkeit, schreibt er sich Anfang der Achtziger Jahre heraus mit den ersten der nun so zahlreichen Novellen, die ihn zum gefeierten Erneuerer der zuvor totgesagten Gattung machten.
In all den Jahren ist Hartmut Lange in Berlin geblieben, in dieser Stadt, die so anders ist als seine Literatur, als diese unheimlichen Geschichten, denen jeder Zynismus fremd ist. Abschließend, weiterhin im Wohnzimmersessel sitzend, denkt Lange noch einmal an seine frühen Weggefährten in der DDR zurück, an Peter Hacks und Heiner Müller, die ihm als typische Berliner in Erinnerung geblieben sind.
„Das hat mich immer fasziniert“, sagt er, „wie es solche Menschen, die mir auch emotional nah waren, wie die jede Verzweiflung, jede Wendung zum Nihilismus mit einem verächtlichen Lächeln abgetan haben. Das ist in Berlin genauso. Wenn du traurig bist, bist du bescheuert.“
Jan Drees: „Literatur der Krise. Die Novellen von Hartmut Lange“, Arco, 396 Seiten, 38 Euro