Bestsellerautorin Alina Bronsky („Scherbenpark“) veröffentlicht einen leichthin erzählten, mathematisch inspirierten Beziehungsroman über eine ältere Dame, die sich zum späten Mathematikstudium anmeldet.
Es gibt lediglich eine Handvoll mathematisch begabter Schriftsteller. Literarische Äußerungen aus dem Bereich der logischen Definitionen und hoch abstrakten Berechnungen sind daher überaus selten. „Alice im Wunderland“-Autor Lewis Carroll war ab 1855 Mathematik-Tutor am Christ Church College und schrieb zwei Bücher über den antiken griechischen Mathematiker Euklid. Clemens Setz avancierte nach seinem abgebrochenen Mathematikstudium zu einem der wichtigsten Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Auch die 45-jährige Bestsellerautorin Alina Bronsky war zum Mathematikstudium eingeschrieben, da war sie bereits älter als die anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen. Diese doppelte Fremdheitsbegegnung mit dem herausfordernden Fachgebiet auf der einen und wesentlich jüngeren Studentinnen und Studenten auf der anderen Seite bilden das literarische Sujet ihres Page-Turners „Pi mal Daumen“. Die leichthin geplauderte Geschichte wird vom 17-jährigen, mathematisch hochbegabten Erstsemester Oscar erzählt, der glaubt, dort am besten atmen zu können, wo die Luft naturgemäß am dünnsten ist.
„‚Warten Sie ein paar Wochen’, hatte der Studiendekan Professor Orlov bei der Begrüßungsveranstaltung gesagt. ‚Dann sind wir wieder unter uns. Nach der ersten Woche geht jeder Zweite von Ihnen. Nach vierzehn Tagen bleibt ein Fünftel übrig. Nach der ersten Klausur weinen Sie alle bis auf zwei, drei Leute, die wirklich hierhergehören.’“ – Doch wer gehört wohin? Darüber denkt Alina Bronskys Roman „Pi mal Daumen“ nach und verhandelt seine Story weniger auf der mathematischen, als auf der zwischenmenschlichen Ebene.
Eine komplizierte Freundschaft
Ein weit verästelter Stammbaum ziert das selbstverständlich karierte Vorsatzpapier. Er weist den Weg in diese Geschichte, denn am Ende sind alle Figuren miteinander verbunden, einige Wahl-, weitere familiäre Verwandtschaftsverhältnisse offengelegt. Der Neuling ist besagter Oscar, der zunächst arrogant erscheinende Ich-Erzähler. Er möchte in der Nähe von Fields-Medaillengewinner Daniel Johannsen studieren, jenem berühmtesten Mathematiker Deutschlands, der gerade in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. „Ich googele Daniel Johannsen, seit ich die Tastatur bedienen kann. Ich kenne jede Website, die ihn erwähnt, und meine Festplatte ist voll mit seinen Bildern. Seinetwegen bin ich hierhergezogen und nicht in eine normale Stadt. Seinetwegen studiere ich an dieser Uni, obwohl es wirklich bessere gibt.“
Oscar will sich die Grundlagen so schnell wie möglich draufschaffen, eine solide Basis aus Analysis, linearer Algebra, Zahlentheorie, Kombinatorik und Topologie – bevor er sich endlich tiefer mit der mathematischen Forschung Johannsens auseinandersetzen wird. Doch ehe Oscar in die Nähe des Star-Wissenschaftlers kommt, lernt er Moni kennen, eine Seniorenstudentin, mit der eine komplizierte Freundschaft ihren Anfang nimmt: „Sie kommt mit ihren Taschen, mit einem rotznäsigen Kleinkind, sie raschelt, sie ist laut, sie bringt Zimtschnecken mit, sie meldet sich in der Vorlesung, sie erklärt anderen ihre Lösungen, sie stellt dumme Fragen …“
Erwartungsgemäß müsste diese Geschichte im Jahr 2024 als Konflikt zwischen der flamboyant-woken Generation Z auf der einen und der ebenso strebsamen wie politisch inkorrekten Boomerkohorte auf der anderen Seite erzählt werden. Hier wendet Alina Bronsky einen Trick an, indem sie klischeehaft erwartbare Rollenzuschreibungen der unterschiedlich alten Hauptfiguren gegeneinander austauscht. So erscheint die ältere Moni wesentlich empathischer und farbenfroher als der nahezu 40 Jahre jüngere Oscar, dieser misanthropisch gestimmte, seinen mathematischen Karriereweg stringent vorausplanende Höhenkamm-Erkletterer, der Didaktiker in seinem Fachbereich mit seiner Ansicht nach nutzlosen Krankenhausclowns vergleicht und zwischenmenschliche Kontakte auf ein Minimum reduziert.
Unterhaltsam wie Sudoku
Von ganz anderem Schlag ist Moni, seit längerer Zeit verbandelt mit Elvis-Fan Pit, Großmutter von Justin, Quentin und Keanu und herzensguter Mittelpunkt der jungen Studierendenschaft. Moni hat eine große Klappe und scheut sich nicht einmal, den Star-Mathematiker Johannsen während einer Fachbereichssitzung coram publico zurechtzuweisen. „,Machen Sie es halt ein bisschen menschlicher’, sagte Moni. ‚Beantworten Sie die Mails von all den Leuten, die gerade völlig orientierungslos und überfordert sind. Seien Sie für sie da. Ist ja auch Ihr Job. Machen Sie diese Scheiß-Übungsblätter nicht so schwer. Und überprüfen Sie vorher, ob die Aufgaben überhaupt lösbar sind. Sie bauen einen Tippfehler ein, und die Kleinen bleiben zwei Nächte lang wach und wollen dann aus Verzweiflung zum Fenster raus, weil die Lösung nicht aufgeht.’“
Mit „Pi mal Daumen“ ist Alina Bronsky ein mathematischer Unterhaltungsroman gelungen, der seine Leserinnen und Leser anfangs vor ein Rätsel stellt. Dieses Rätsel wird Stück für Stück aufgelöst – weniger berechnend, sondern mit menschlicher Wärme, mit Empathie und Familiensinn: trickreich belegend, dass die Mathematik auch eine Lebenswissenschaft sein kann und ein mathematischer Roman keineswegs kompliziert sein muss wie ein Oberstufenseminar, sondern unterhaltsam sein darf wie ein Sudoku-Quadrat – als passende Lektüre für die letzten, immer kürzer werdenden Spätsommertage.
Alina Bronsky: „Pi mal Daumen“, KiWi, 272 Seiten, 24 Euro