Eine Weihnachtsgeschichte, im Sound von Paul Auster, melancholisch wie ein verschneites Dorf bei Nacht, mit einer Neuinterpretation von „Wanderers Nachtlied“ – das ist Peter Stamms aktuelle Veröffentlichung, die aus zahlreichen Gründen imponiert.
Ein bildender Künstler reist als Stipendiat von November bis Ende Dezember in eine Künstlerkolonie im US-amerikanischen Bundesstaat Vermont – genauer: er reist ab. „Es war keine Flucht, aber ich muss zugeben, dass ich erleichtert war, das enge Tal nach zwei Monaten endlich zu verlassen.“ Dass diese rätselhafte Geschichte mit einem Abschied beginnt, ist nur eine von zahlreichen Spiegelungen, die in Peter Stamms neuer Erzählung ausgestellt werden wie eine Collage sämtlicher Bilder des Illusionsgrafikers M.C. Escher.
Es beginnt mit dem Ende, und klar ist, dass etwas Unheimliches vorgefallen sein muss. Die Leser müssen sich allerdings bis zum letzten Satz gedulden, der an dieser Stelle deshalb verraten werden darf, weil er kein Geheimnis offenbart. „Mein Leben geht weiter“, steht da, und genau hier, zwischen dem anfänglichen Abschied und dem letzten Aufbruch findet die voltenreiche, zwischen Zeiten, Orten und Gefühlsgegensätzen changierende Erzählung, die tatsächlich Jahrzehnte vor den ersten Worten beginnt, an einem verwunschenen Weihnachtstag in New York.
„Ich war damals noch sehr jung und voller Ambitionen nach New York gekommen“, berichtet der Ich-Erzähler. „Aber nach einem Jahr war mir das Geld ausgegangen, ohne dass ich irgendetwas erreicht oder sich auch nur etwas geklärt hätte, und ich hatte meine Eltern bitten müssen, mir Geld für den Rückflug vorzustrecken. Sie hatten sich gewünscht, dass ich schon für die Feiertage heimkomme, aber wohl aus Trotz hatte ich einen Flug Anfang Januar gebucht.“
Weihnachten feiert der glücklose Künstler mit einem befreundeten, brasilianischen Ehepaar, und als er am Nachmittag beschwipst den Weg nach Hause nimmt, spricht ihn eine junge Frau an, bittet um Feuer – man denkt kurz an Hans Christian Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von 1845 – da eröffnet jene, die Marcia (wie Maria) heißt, sie hätte heute Geburtstag. Das mag der Mann, wie der Autor mit Vornamen Peter, zwar nicht glauben, und doch ist er sofort im Bann der Anderen.
Peter begleitet Marcia zum Einkaufen. „Sie kaufte ein wie jemand, der hungrig ist, kalorienreiche Lebensmittel, immer die billigsten Marken, dafür große Packungen, kein Gemüse, keine Früchte.“ Der Künstler legt eine Flasche Whisky in den Einkaufswagen, denn: „Ein bisschen Spaß muss sein.“ Sie gehen in Marcias Wohnung, die dunkel ist und kalt. „Wir aßen in der Küche, ohne unsere Mäntel auszuziehen, Toastbrot mit Erdnussbutter und Truthahnaufschnitt.“
Danach folgen: eine fatale ménage à quatre zwischen Marcia, Peter, ihrem Liebhaber David einem Schriftsteller. „Er hatte eine sehr schöne Frau, deren Namen ich vergessen habe, sie war Französin, ich glaube, sie hieß Michelle oder Mireille.“ Die schöne Michelle – man hört von fern die Beatles singen: „Michelle, ma belle / Sont les mots qui vont tres bien ensemble“ – ist auf die gleiche Weise eine Wiedergängerin von Marcia, wie David einer von Peter ist, der in einer späteren Geschichte, die der Schriftsteller schreiben wird, Joseph (!) „the swiss guy“ heißen wird.
Das New York der Achtziger, ein hungernder Künstler, der frierend mit seiner Liebsten in der Küche sitzt, und die letzten Lebensmittel teilt – all das ruft die frühen Geschichten von Paul Auster auf, insbesondere jene Episode, die der Autor schildert in seinem 1992 erschienenen „The Red Noteboook“ (im vergangenen Jahr erstmalig komplett übersetzt als „Das rote Notizbuch“ bei Rowohlt).
Paul Auster erinnert daran, wie er mit seiner ersten Frau, der Schriftstellerin Lydia Davis, ein Bauernhaus in Südfrankreich verwaltet. Sie sind knapp bei Kasse, leben „ständig am Rand einer Katstrophe“, haben kaum Geld für anständige Mahlzeiten, und „ich erinnere mich, wie ich bei Anfällen von Nikotinsucht mit vor Gier betäubten Gliedern unter Sofakissen und Schränken nach Kleingeld suchte. Für achtzehn Centime (etwa dreieinhalb Cent) bekam man ein Viererpäckchen Zigaretten der Marke Parisiennes“ – übrigens jener Marke, die auch Peter Stamm jahrelang geraucht hat.
Die Katastrophe von „Marcia aus Vermont“ setzt sich wie in den besten Romanen von Paul Auster aus Zufällen, spiegelndem Begehren, unzuverlässigen Erinnerungen und einer sich mit der Realität mehrfach austauschenden Fiktion zusammen, aus Freud’schen Traumzuständen, Ahnungen, Gesichten. Der Künstler wird sich erinnern: „Die Tage nach unserer Begegnung waren tatsächlich zu den seltsamsten meines Lebens geworden, als wären für kurze Zeit alle Regeln und alle Konventionen außer Kraft gesetzt, als wäre alles möglich und erlaubt.“
Später wird er zweifeln, auf schiefer Ebene stehend: „Ich kann mich nicht mehr an Marcias Haar- oder Augenfarbe erinnern, weiß nicht mehr, ob sie groß oder klein war, schlank oder füllig.“ Ihm wird das Leben entgleiten. Die Erinnerungen verblassen, Recherchen lassen sie umso unwirklicher erschienen. „Marcia von Vermont“ spielt im Ungefähren, im Dämmerlicht, an Nirgendorten „außerhalb der Zeit“ und „als ich die Brücke überquert hatte und durch Manhattan fuhr, war es mir, als sei ich in eine andere Welt gelangt, und meine Zeit in der Stiftung und alles, was ich dort erlebt hatte, schienen mir weit entfernt und unwirklich wie ein Traum.“
Auf wenigen Seiten entfaltet Peter Stamm seine Kunst auf eine vollendende Art und Weise, unaufdringlich wie eh und je, sodass sogar eine bezaubernde Version von Goethes „Wanderers Nachtlied“ seinen Platz findet, das vermutlich bekannteste Gedicht deutscher Sprache, wenn der Held von „Marcia aus Vermont“ beobachtet: „Ein Zweig zerbrach in der Abendluft, die Vögel schwiegen im Garten. Weswegen bist du gekommen? Bist du im Frieden gekommen? Oder bist Du gekommen, um mich zu erpressen, oder nur, um zu wissen?“
Peter Stamm: „Marcia aus Vermont. Eine Weihnachtsgeschichte“, S. Fischer, 80 Seiten, 14 Euro / Das Hörbuch, gelesen von Christian Brückner, ist erschienen bei Parlando, Berlin.