Wenn am heutigen Sonntagabend die Tore der 71. Frankfurter Buchmesse schließen, hat die Literatur als Komplexitätsmedium auf eine Weise gewonnen, die man schlichtweg beeindruckend nennen muss; und damit sind nicht nur die zweistelligen Umsatzzuwächse in den Sachbuchbereichen Wissenschaft und Politik gemeint. Mit diesen fängt es lediglich an, weil augenscheinlich eine Sehnsucht besteht, die Komplexität unserer gegenwärtigen Herausforderungen zu durchdringen mithilfe sorgsam recherchierter, mehrhundertseitiger Analysen. Ein Rückblick.
Groß war die Erleichterung, als mit Saša Stanišić mit „Herkunft“ den Deutschen Buchpreis gewann – und damit die Buchmesse inoffiziell eröffnete, und dann vorm Festpublikum im Frankfurter Römer sagte, er sei hier, „weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt. Dass ich hier heute vor ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat, und die in seinen Texte der 90er Jahre hineinreicht. Und das ist komisch, finde ich, dass man sich die Wirklichkeit, indem man behauptet, Gerechtigkeit für jemanden zu suchen, so zurechtlegt, dass dort nur noch Lüge besteht. Das soll Literatur eigentlich nicht.“ Zeit Online schrieb (hier): „Dieser Preis war nie politischer.“
Nach einem Bücherjahr, das kontaminiert war durch Effekte der Simplifikation, ist spätestens mit dieser Frankfurter Buchmesse eine neue Ernsthaftigkeit ans Licht getreten. Alles hatte im Januar begonnen mit der Debatte um den erschreckend vereinfachenden, etliche Schattierungen ignorierenden Naziploitation-Roman „Stella“ von Takis Würger, der das zivilisatorisch Unfassbare der Shoa auf einen vulgären Groschenromanplot zu reduzieren suchte – bis mit der Relektüre von Peter Wydens „Stella Goldschlag“-Biographie die Verkitschung des Schreckens zurückgedrängt werden konnte. Zuvor hatten Teile des Buchhandels versucht, mithilfe eines offenen Briefes, die kritisch-feuilletonistische Auseinandersetzung zurückzudrängen; ohne Erfolg.
Gleiches geschah vor wenigen Wochen, als über „Miroloi“ von Karen Köhler diskutiert wurde, und sich zwei Lager gegenüberstanden: jene, die eine rein binäre Sicht auf religiös-maskuline Unterdrückung ablehnten, und jene, die der Ansicht waren, dass hier weibliches Sprechen desavouiert, ergo die Kritiker misogyn seien. Interessanterweise, auch das zeigte diese Buchmesse, war Karen Köhler, die Autorin des Romans, zu einer differenzierten Auseinandersetzung bereit. Ihre auf dieser Messe mit entwaffnender Offenheit gezeigte Gesprächsbereitschaft ermöglichte Einsichten auf beiden Seiten der Debatte. Plötzlich entstand ein Diskursraum, der das Argument der schadhaften alten weißen Männer suspendierte zugunsten einer auch hier komplexeren Sicht auf die Literatur.
Zuletzt dann, weltweit, aber natürlich an nahezu allen Ständen und auf jeder Party in Frankfurt diskutiert wurde die Nobelpreisvergabe an Peter Handke, und die Kritik durch Saša Stanišić. Im Lauf der Woche wurde deutlich, dass aus dem Zusammenhang gerissene Werkzitate und knappe Tweets nicht weiterhelfen. Um diese Debatte zu durchdringen, braucht es die langsame Lektüre des Werks sowohl von Handke, als auch das von Stanišić.
Die schnell aus- und urteilenden Erstakteure, die allzu rasch einfache Thesen artikulierten, erfahren nun, wie ihre Wahrheiten dekonstruiert werden mithilfe akademischer Analysemethoden der Philologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft und Diskurstheorie. Petra Hartlieb von der Jury des Deutschen Buchpreises hatte vor der Messe noch stolz verkündet, dass sie allzu komplexe Schreibweisen auf der Nominierungsliste verhindert hätte. Das war eine Bevormundung von Leserinnen und Autorinnen, die augenscheinlich klüger sind als jene, die für sie zu sprechen glauben.
Mit der Dankesrede zum Deutschen Buchpreis fing diese Messe an. Am drauf folgenden Vormittag zeigte sich die Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk bei der Eröffnungspressekonferenz besorgt über den Sieg der Nationalkonservativen bei der Parlamentswahl in Polen. Ihrer Befürchtung nach seien vor allem Theater und Museen bedroht, da diese mehrheitlich von der öffentlichen Hand finanziert werden.
Das Buch als Vertiefungs- und Entschleunigungsmedium ist weiterhin das größte Gegengewicht zu allen oberflächlich-überhitzen Diskursen, wie sie zum Beispiel in den weniger schönen Ecken des Internets geführt werden. Das ist wichtig gerade vor dem Hintergrund der ebenfalls in dieser Woche veröffentlichten Shell-Studie, die der hiesigen Jugend eine beängstigende Empfänglichkeit für populistische Parolen bescheinigt. Das ist das Eine.
Großes Thema auf dieser 71. Frankfurter Buchmesse war die Digitalisierung, was gewürdigt wurde unter anderem mit einer Konferenz zu neuen Technologien wie Künstliche Intelligenz und Big Data Analytics, also der Verarbeitung beispielsweise von Leserdaten, die bei E-Book-Nutzern erhoben werden können.
Auf diese beiden Felder beziehend sprach bei der Eröffnungs-Pressekonferenz auch Francis Gurry, der aktuelle Generaldirektor der Organisation für geistiges Eigentum. Er betonte, dass zukünftig auch Künstliche Intelligenz in der Lage sein könnte, Bücher zu schreiben – zugleich erinnerte Gurry an die singuläre Bedeutung menschlicher Autorschaft, was nur logisch ist: um noch einmal mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk zu sprechen: Die Literatur ist ein Ort der Freiheit, auch im gegenwärtigen Polen mit dem Regierungsmandat der rechten PiS-Partei. Schriftsteller, sagte Tokarczuk, brauchen nämlich nur einen Stift und Papier, um sich mitzuteilen, und Verlage sind nachwievor nicht in staatlicher, sondern in öffentlicher Hand.
Wir brauchen das Buch, nicht nur deshalb, weil sich das Konsumverhalten von Buchlesern nicht einmal mithilfe von Big Data ermitteln lässt. Papier ist überwachungsresistent. Somit bleibt das Buch auch im digitalen Jahr 2019 ein Ort der Freiheit, ein Ort, an dem der Mensch als Mensch weiterhin seinen Eigenwert besitzt – in all seiner Widersprüchlichkeit. Das ist ein schöner Ausblick.