Hungrige Historiker, lesbische Hotelinhaberinnen, zwei selbstmordgefährdete Liebende und illegale Nieren vom Dorf: „Zuckerleben“ von Pyotr Magnus Nedov geht an die Eingeweide.
Es gibt die Geschichte eines Japaners, der 1945 den Atombombenabwurf auf Hiroshima überlebt und mit dem Fahrrad nach Nagasaki rast, um sich in Sicherheit zu bringen – wo drei Tage später die zweite Bombe explodiert. Ähnlich muss sich Pitrim Tutunaru in „Zuckerleben“ fühlen, als er 1991 nach dem Zusammenbruch des Ostblocks beschließt, das kriselnde Moldawien zu verlassen, um im angeblich krisenfesten Italien Fuß zu fassen. Er spürt 40 Tonnen illegal beiseite geschafften Zuckers auf, will ihn zu wertvollem Schnaps verarbeiten – und vom Gewinn die Biege machen.
Zwanzig Jahre später wird der Moldawier Tolyan Andreewitsch mit seinem Ford Transit durch die Abruzzen kurven und beinahe das Liebespaar Christina und Angelo überfahren. Christina und Angelo (die Gesalbte und der Engel) wollen sich umbringen, weil sie im heutigen Italien keine Zukunftsperspektiven erkennen. Die beiden sind von einer Zuckerfabrik entlassen worden und stehen, oder vielmehr liegen nun auf der Straße. Ihnen geht es schlecht, wie etlichen U25-Jährigen heutzutage. Die Jugendarbeitslosigkeit der 15-24-Jährigen in Italien lag im Dezember 2012 noch bei 38,6 Prozent, sinkt nun aber langsam wieder. Zum Vergleich: Deutschland meldete im Februar 2013 eine Arbeitslosigkeit in dem Altersabschnitt von 7,7 Prozent, Spanien von 55,7 Prozent, Griechenland sogar von schwindelerregenden 58,4 Prozent (laut Eurostat).
Kann man angesichts solcher Zahlen mutig bleiben? Tolyan Andreewitsch wird mit Christina und Angelo in einem kleinen Hotel einchecken, das von einer lesbischen Hotelinhaberin geführt wird, die sich ihre freie Zeit mit einer ihrer Mitarbeiterinnen versüsst. Er wird sie dort in langen Erzählungen von weiteren todesmutigen Schritten abhalten. „Zuckerleben“, jeder mag diesen Begriff anders interpretieren. Aber alle folgen dem osteuropäischen Sprichwort: „Leben ist gut, aber gut leben ist noch besser.“ Man muss dieses „Besser-Leben“ nur erkennen. Die Geschichte der vielen Sinn- und Zuckerlebensuchenden verbindet der 1982 in der Sowjetunion geborene Pyotr Magnus Nedov zu einem traumartigen Reigen über den Post-Kommunismus, über die Anfänge der McDonaldisierung Osteuropas, über die vom Turbokapitalismus schnell entfesselte Habgier. Sein Roman wird von Schlitzohren, Geschäftemachern, Glücksrittern und korrupten Ex-Kadern bewohnt.
Sie alle sehen in der großen Wende ihre endlich realisierte Chance. Am Ende, nicht erst zwanzig Jahre später, bleiben Trümmer, verheerte Landschaften. Die alten Universitätsabschlüsse sind nicht einmal ein paar Stangen Doktorenwurst wert, das Hauptzahlungsmittel im Spätkommunismus. Die Ärmeren verkaufen eine ihrer Nieren ins reichere Deutschland, um sich ein bisschen Wohlstand leisten zu können (DSL dürfte eher nicht dazugehören). Der ewig hungrige Historiker, der sich gegen eine Militärkarriere entschieden hat, schlägt sich abgemagert durch die Reste des einst mächtigen Sowjetreiches. Die nostalgisch angehauchten Revolutionsbilder will keiner sehen, allerhöchstens die technischen Kopien der „Neuen Leipziger Schule“ um Neo Rauch und Tim Eitel.
Undurchdringlich wie die ineinander verwobenen Abenteuer von Pyotr Magnus Nedovs Helden ist auch der Roman selbst. Zuckerleben, scheinbar in der Tradition der großen, russischen Literaten stehend, öffnet sich langsam, führt sehr unvermittelt seine Figuren ein und entwirrt erst langsam die Verbindungen zwischen Gaddafi, Putin, Bio- und Fabrikeiern, Exilmoldawiern, italienischen Businessmen und Tolyan Andreewitsch, der aus einem geheimnisvollen Grund durch die Abruzzen fährt, mit seinem Ford Transit, auf der Suche nach einer Teedose, die ein Geheimnis birgt und mal wieder beweist: Besser als ein gutes Leben ist in Romanen selbstverständlich eine gute Geschichte. Denn das Wort Schnaps kann man ohnehin nicht trinken.
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