Über zehn Jahre hat Monika Zeiner in ihren zweiten Roman „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ investiert – in die voluminöse Geschichte über eine fränkische Kaufmannsfamilie, die seit der Wilhelminischen Kaiserzeit Schulmöbel herstellt: die Werkbänke des Lehrers. Doch es gibt ein düsteres Geheimnis, das erst langsam ans Licht der Gegenwart von 2014 kommt.

2024 wird das „Zauberberg“-Jubiläum begangen. Der berühmte Sanatoriums- und Bildungsroman ist vor einhundert Jahren im Frankfurter S. Fischer-Verlag erschienen und zahlreiche Veröffentlichungen dieses Bücherherbstes lehnen sich pünktlich an die opulent erzählte Geschichte Thomas Manns an: von Heinz Strunks „Zauberberg 2“ über Norman Ohlers erzählendem Sachbuch „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ bis zu Ulla Lenzes „Das Wohlbefinden“, ein Roman, der situiert ist in den Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz vor den Toren Berlins.

Das vom Umfang her größte „Zauberberg“-Buch aber ist Monika Zeiners „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“, ein voluminöser Allesfresser, der eine zeitlich weitgefasste Familien- und Unternehmersaga von der Wilhelminischen Kaiserzeit bis ins Jahr 2014 vorstellt. Im Zentrum steht Erzähler Nikolas Finck, ein leidlich erfolgreicher Drehbuchautor, der anlässlich des 103. Geburtstages seines Großvaters Henry in einen kleinen fränkischen Ort nahe Nürnberg reist, seine Heimat.

„Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen war. Das Haus hatte ich dann immer aus der Perspektive des vom Tor Hinaufblickenden vor Augen gehabt, sodass es merkwürdig filmkulissenhaft gewirkt hatte. Der Garten war mir räumlicher vorgekommen, als stünde ich jetzt noch unter den Bäumen, wo die Jahreszeiten und Jahre ineinander verschwammen:“

Raunender Beschwörer des Imperfekt

Dieses Verschwimmen von Jahreszeiten und Jahren beschreibt gleich zu Beginn die Struktur des Romans. Von einem raunenden Beschwörer des Imperfekts verfasst, ist diese Geschichte offensichtlich angelegt als eine große, ineinander verschwimmende Erinnerung vieler Jahre, Jahreszeiten und Jahrzehnte. Undeutlich, unscharf erscheint diese Zeit während des Familienbesuchs Nikolas Fincks, als würden Bilder hinter Milchglas betrachtet – Erscheinungen, die evoziert werden durch den heimatlichen Ort, die Villa Sternbald „und vielleicht war es dieses Überlappen der Jahreszeiten, das auf einmal einen längst verschwundenen Tag in meine Erinnerung zurückholte“

Die Villa steht gravitätisch im Zentrum dieser weit verzweigten, die Familienhistorie rekapitulierenden Geschichte, als Bachtinscher Chronotopos, wie das Stammschloss der Usher in Edgar Allen Poes berühmter Kurzgeschichte oder das Buddenbrookhaus in der Lübecker Mengstraße 4. Bei Monika Zeiner ist die Villa architektonisches Selbstbild der öffentlich bürgerlichen, doch tatsächlich kaputten, wahrscheinlich sogar kriminellen Unternehmerdynastie Finck, die sich gegenüber ihren Zeitgenossen versündigt hat – vor allem während der Zeit zwischen 1933 und 1945 im nationalsozialistischen Deutschland. Das jedenfalls ist die Vermutung des Erzählers, der aus privat-persönlichen Gründen umfangreich recherchiert hat und mit offenen Fragen zum herrschaftlichen Anwesen aufgebrochen ist.

Glücklich Hand und Gottes Segen

Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Nikolas’ Ururgroßvater Ferry erbaut, Inhaber einer Dampfschreinerei und späterer Gründer der „Schulmöbelfabriken Finck“, die den Familienwohlstand seit knapp 125 Jahren sichert. „Durch glückliche Hand, aber auch mit Gottes Segen ist die Dampfschreinerei Finck rasch größer geworden, denn Ferry war nicht nur Unternehmer, sondern auch ein Erfinder. Er hatte eine ganz neuartige Schulbank entwickelt, die er nach dem Entdecker und Seefahrer Kolumbus Columba-Schulbank genannt hat, eine Kombination aus Tisch und Stuhl, für die er im Jahr 1897 auf der Erfindermesse in Paris die Große Goldmedaille gewonnen hat.“

Mit dem Zug ist Ururgroßvater Ferry damals nach Paris gereist und ebenfalls mit dem Zug fährt Nikolas Finck in die fränkische Heimat. Er nutzt das gleiche öffentliche Verkehrsmittel wie Hans Castorp, dessen Bahnanreise ins Schweizerische Davos im ersten „Zauberberg“-Kapitel kleinteilig beschrieben wird. Ebenfalls wie Hans Castorp wird dieser Nikolas länger an seinem Ankunftsort bleiben als geplant, keine sieben, doch immerhin ein Jahr in der Villa Sternbald. Das Verhältnis zwischen dem ursprünglich avisierten und tatsächlich stattfindenden Aufenthalt ist übrigens in beiden Romanen gleich. Auch dass es bei Nikolas’ Ankunft schneit, kann als Anspielung auf Thomas Manns in den Schneehöhen angelegte Berghof-Geschichte gelten. „Die hellen Fenster beleuchteten den wirbelnden Schnee, der mir unwirklich erschien, als schneite es wie im Innern einer Schneekugel, während überall sonst Frühling herrschte.“

Unfähig zur Form

Monika Zeiners Roman ist wie Thomas Manns „Der Zauberberg“ angelegt als gesellschaftspolitisches und kulturhistorisches Panorama. Dieses wirkt zeitenthoben, keineswegs zufällig erscheinen lieblicher Frühling und frostiger Winter in einer Szene. Der phantasiebegabte Erzähler Nikolas Finck wird – entsprechend den zahlreichen April-Wetterwechseln – als wankelmütige Figur vorgestellt. Sein Realitätszugriff ist zweifelhaft. Er lebt in einer kriselnden Beziehung mit seiner daheimgebliebenen Partnerin und ist unfähig, die öffentliche, einem Unternehmerspross würdige Form zu wahren.

„Ordnung erwächst aus der Familie, sie verkörpert sich in jenen Verzweigungen des Stammbaums, den ich dir mal gezeigt habe und von dem du ein Teil bist, genau wie ich. Und wenn wir zu hoch hinauswachsen wollen, müssen wir uns darauf besinnen, wo unsere Wurzeln liegen: in der Schultafel, deren Graphitschwarz gleichzeitig das Nichts und die Fülle unendlicher Möglichkeiten birgt.“ – Nikolas Finks Jugend war krisenbelastet, fatal gipfelnd im Suizidversuch aus unerwiderter Liebe. Offensichtlich in die für ihn falsche Familie geboren, arbeitet er sich jahrzehntelang an der eigenen Herkunft ab. Misstrauisch steht er der „Schul- und Funktionsmöbelfabriken Finck GmbH & Co. KG“ gegenüber.

Vom Reform- zum Demokratiemöbelstück

Früh fängt er aus diesem Misstrauen heraus an, zu recherchieren und aufgrund dieser umfangreichen Untersuchungen ist er gut informiert über die Verstrickungen, Irrungen und Wirrungen des Familienbetriebs. „Wir haben die Schulmöbel für die preußischen Kadettenschulen gebaut, dann haben wir Reformmöbel für die Weimarer Demokratie gebaut, dann haben wir die Schulmöbel für die Nazikinder und die Munitionskisten für den Vernichtungskrieg gebaut, und die Schreibtische für die Nazibeamten und die Holocaustplaner haben wir genauso gerne gebaut wie die Schreibtische für die Bonner Republik und die Chefetagen des Wirtschaftswunders, und auch den Bundestag in Berlin haben wir mit lupenrein demokratischen Büromöbeln ausgestattet, die sich an jeden vorstellbaren Zeitgeist anpassen können.“

Die Erinnerungssammlung Nikolas Fincks besteht aus historisch abgesicherten Dokumenten, legendenhaft weitergereichten Familienanekdoten und persönlichen Beobachtungen. So kann er auf verschiedenen Ebenen berichten: vom geschickten Geschäftsgebaren seines Ururgroßvaters auf der einen, über dessen strenge Erziehungsmethoden auf der anderen Seite, ebenso von den weichen Zügen seines Sohnes Jean, der sich in märchenhafte Welten träumt, von Käfern verzückt ist und sehr gern die Kleider seiner Schwestern anprobiert – was besagten Ururgroßvater, gefangen in Bildern einer heutzutage überkommenen Maskulinität, ebenso besorgt wie verärgert. „Indem du dich so verkleidest und verstellst, lügst du nicht nur uns an, deine Eltern, sondern auch die Natur und den lieben Gott. Und indem du dich im Spiegel bewunderst, treibst du es auf die Spitze, weil du dir in der Verstellung auch noch gefällst. So gerät deine junge Seele ganz durcheinander und weiß nicht mehr, wo die Wahrheit endet und die Lüge anfängt.“

Kolonialverbrechen und Vernichtungsstrategien

Wo die Wahrheit endet und die Lüge anfängt ist in der Unschärfe nicht immer recht auszumachen. Die größten Lügen erzählt sich die Familie über ihre eigenen nationalsozialistischen Verstrickungen in den 1930er Jahren. Noch vor der euphemistisch als „Arisierung“ bezeichneten Enteignung jüdischen Besitzes erwarb die Familie Finck die Firma eines jüdischen Konkurrenten zum Spottpreis von 45.000 Reichsmark. Es mag also sein, dass an den Schulmöbeln Kinder vorbereitet werden für ihr späteres Leben, dass Wissenschaftler und Philosophen an ihren Schreibtischen die Zivilisation bereichert, vorangebracht haben – doch an Schreibtischen wurden auch Kolonialverbrechen und Vernichtungsstrategien geplant und rassistische Theorien entworfen. „Die Wissenschaft kartierte und hierarchisierte nicht nur die von ihr zum Objekt gemachte Natur, sondern auch den Menschen, indem sie das System der Rasse und mithin den biologischen Antisemitismus erfand und dafür christliche Vorstellungen von Gut und Böse, Hell und Dunkel und so weiter fortführte. Der neuzeitliche Rassismus ist nichts anderes als säkularisierter Teufelsglaube.“

Der kniend Betende längst abgelegter Kirchenzeiten mag sich mit der Aufklärung zum Schreibtisch erhoben haben – die Sedimente seines alten Glaubens sind erhalten geblieben. So gibt es in diesem Buch zahlreiche theologisch, kulturwissenschaftlich und philosophisch grundierte Dialoge, die immer wieder den Zusammenhang zwischen Religion und Moderne verhandeln, über göttliche Gesetze und menschengemachte Zwänge diskutieren, deutsches Mitläufertum aus dem Geist des Protestantismus extrahieren – man fühlt sich oft selbst auf einer jener Schulbänke sitzen, die von der Unternehmerfamilie Finck hergestellt worden sind.

Foucault, Arendt, Luther als Stichwortgeber

Frontalunterricht ohne einen Anflug von Ironie – hier unterscheidet sich „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ deutlich vom „Zauberberg“-Roman des Literatur-Nobelpreisträgers Thomas Mann. Enzyklopädische Bildung statt ernster Scherze. Martin Heideggers Ontologie und Hannah Arendts Überlegungen zu Adolf Eichmann, Zygmunt Baumanns „Dialektik der Ordnung“ und Michel Foucaults Studie vom „Überwachen und Strafen“ sind Stichwortgeber des Romans – und immer wieder: Martin Luther.

„Die Reichspogromnacht 1938 habe wohl nur zufällig am Vorabend von Luthers Geburtstag stattgefunden […] trotzdem sei das Datum von vielen Protestanten als Zeichen gedeutet worden. In seiner Schrift ‚Von den Juden und ihren Lügen’ habe er ja explizit dazu aufgefordert, die Synagogen zu verbrennen und die Häuser der Juden zu zerstören.“ – Ebenso wird Luther als geistiger Vater einer toxischen Innerlichkeit vorgestellt, als Opportunist, Verschwörungstheoretiker und antiemanzipatorischer Prediger, der 1525 den aufständischen Bauern in den Rücken gefallen ist, „bevor er die Fürsten dazu aufrief, sie niederzumetzeln wie Vieh, weil die Rechte, für die sie stritten, diesseitige Rechte waren, die hinter dem Reich Gottes als zweitrangig zurückzutreten hatten.“

Männliche Strategien und das Patriarchiats

Dieser Blick von Luther zu Hitler stammt aus der Frühzeit der sogenannten Sonderwegsdebatte Mitte des vergangenen Jahrhunderts, die angenommen hatte, die Entwicklung der deutschen Demokratie unterscheide sich signifikant von anderen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien. Dazu passend werden derartige Disputationen über Erziehungs-, Unterdrückungs- und Gewaltfragen ausnahmslos von studierten Männern geführt, wie ohnehin Monika Zeiner männliche Strategien und darauf beruhende Handlungen vorstellt, um den Grund des Patriarchats im Sesshaftwerden, im Sitzen und Besitzen zu finden.

„Der Jäger habe das wilde Tier zwar getötet, aber er habe es nicht beherrscht. Erst mit der Sesshaftwerdung habe sich der Mensch aus der Natur herausgelöst, um sie zu beherrschen und zu besitzen. Der Mensch, der männliche Mensch, habe nicht nur die Natur unterworfen, sondern auch die Frauen und andere schwächere Mitglieder der Gemeinschaft, denn das Patriarchat [ist] erst mit der Sesshaftwerdung entstanden, um den Besitz zu verteidigen.“ Diese hochinformierten Dialoge, die immer wieder über das Verhältnis von Natur und Geist, von Ursprünglichkeit und Denaturierung nachdenken, erinnern an die großen Gespräche zwischen Naphta und Settembrini in Thomas Manns „Der Zauberberg“. Bei Monika Zeiner werden diese Gespräche über die Dauer von 125 Jahren geführt mit Geschäftspartnern, Oberstudiendirektoren und Landerziehungsheimleitern.

Theorien der Ordnung und intellektuelle Aufschneidereien

Es sind Thesengespräche, Bildungsduelle, intellektuelle Aufschneidereien, durchsetzt mit pädagogischen Überlegungen, didaktischen Konzepten und Dekontextualisierungen, mit Theorien der Ordnung, der Freiheitslehre und der Psychoanalyse. Friedrich Wilhelm Webers „Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höherer Schulen“ von 1896 spielt ebenso eine Rolle wie Erich Fromms „Die Furcht vor der Freiheit“, Alice Millers „Du sollst nicht merken“ oder auch Katharina Rutschkys „Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung.“

Immer deutlicher wird, dass Monika Zeiners Roman den Zauberberg nicht als direkten Hypotext nutzt, sondern tief in das komplette Werk Thomas Manns hinabsteigt. Nikolas bezeichnet sich irgendwann selbst als „Dr. Faustus“, Großvater Henry wird interfamiliär auch „der Zauberer“, genannt, noch ein Kuss auf die Stirn verweist auf Sesami Weichbrodt, jene Leiterin des lokalen Mädchenpensionats aus den Buddenbrooks, die zu Geburtstagen und Hochzeiten den Ehrenkindern einen knallenden Kuss ebenfalls auf die Stirn drückte, begleitet von den Worten: „Sei glöcklich, du gutes Kend.“ Einzelne „Villa-Sternbald“-Zitate sind wiederum direkt der Josephs-Tetralogie oder auch den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ entnommen: „’Tief ist der Brunnen der Vergangenheit’, Niki. Du bist nicht der Einzige, der Erinnerungen hat, merk dir das.“

Gärtner Sanftleben und Pfarrer Weinreb

Und noch einmal: die Bilder der Vergangenheit verschwimmen, absichtlich ist nicht immer auszumachen, in welchem Jahr diese oder jene Anekdote tatsächlich spielt. Keineswegs chronologisch, sondern anekdotisch durch die Zeiten springen die Erinnerungen Nikolas Fincks, der von einem großen Figurenpersonal umstellt ist: von Ururgroßvater Ferry über Urgroßvater Jean, bis zu den kleinen Kindern des jüngeren Bruders Sebastian. Da erscheint ein Gärtner Sanftleben und ein Pfarrer Weinreb, Oberstudiendirektor Kempf und Schriftsteller Achaz, der 2014 im Kutscherhaus der Villa nächtigt und eine große Ausstellung anlässlich des bald zu begehenden 125. Firmenjubiläums vorbereitet – auch dies eine Anspielung auf die Buddenbrooks. Achaz, sichtlich erfüllt von seiner Aufgabe, wird nicht müde, die herausragende Bedeutung des Sitzens hervorzuheben, er ist kulturwissenschaftlich informiert und versteht das Schulmöbel als Zivilisationsmetapher schlechthin.

„Die Entwicklung der Menschheit habe sich analog zur Transformation des Throns vollzogen, der – am Anfang einem Einzelnen, einem Geheiligten vorbehalten, dem Priester oder König – zum Massenstuhl, zum Schreibtischstuhl geworden sei.“ – Die titelgebende Familie trägt einen großen Namen, der seit über zwei Jahrhunderten mit der Gegend um Nürnberg verknüpft ist, mit dem erfundenen Alfred Dürer-Schüler aus Ludwig Tiecks romantischem Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ von 1798. Der dort vorgestellte Maler erfährt, dass er nicht von seinen leiblichen Eltern aufgezogen wurde und forscht lang nach seiner eigentlichen Herkunft. Nikolas Finck trägt Züge Franz Sternbalds – beide fragen danach, wer ihre Eltern sind, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise.

Eine literarische Forschungsarbeit

Am Ende findet endlich die lang vorbereitete Feier zum 125-jährigen Firmenjubiläum statt. Honoratioren sind eingeladen, die Clique und die Claqueure, Politiker und Professoren, Geschäftspartner und Familienmitglieder. Versprochen wird, begleitet von Applaus, die zwar späte doch zugleich lückenlose Aufarbeitung der Finck’schen Rolle im Nationalsozialismus. Der ältere Bruder Nikolas Finck wird sich bei diesem gesellschaftlichen Ereignis blamieren. Er, der im Verlauf dieser Geschichte mit Hans Castorp und Franz Sternbald verglichen werden konnte, wird endgültig zu Hanno, dem schwächlich-verzärtelten letzten Spross der Buddenbrooks.

Auf den abschließenden Seiten spielt Nikolas mit seinem Neffen. Sie sitzen mit ihren Schleich-Pferden auf der Rollrasenfläche. Es fand kein Verfall einer Familie statt, vielmehr die Regression eines tragischen Helden. Derart ernüchtert findet ein großes Erzählprojekt nach 50 Kapiteln, 125 Jahren und rund 650 Seiten zu seinem Ende – mit hoffnungsfrohen Wünschen für die Zukunft der „Schul- und Funktionsmöbelfabriken Finck GmbH & Co. KG“ und eher trüben Aussichten für Nikolas Finck, den reinen Tor, der nach Jahrzehnten der Konfrontation in eine Welt der Verdrängung, des zwecklosen Spiels geflüchtet ist. Es folgen: Dank und ein über sechsseitiges Quellenverzeichnis. Mit „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“ hat Monika Zeiner eine literarische Forschungsarbeit vorgelegt, ein geistesgeschichtliches Kompendium, das noch einmal nachdenkt über die Genese von Faschismus, Großmachtphantasien und kapitalistischer Skrupellosigkeit – aus der es nur einen Ausweg geben kann: die Phantasie.

Monika Zeiner: „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“, dtv, München, 672 Seiten, 28 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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