In der Stadt dröhnte bereits 1910 die Musik der Millionen „wie Korybanten-Tanz“. Fabriken waren Kathedralen der Hyperindustrialisierung. Die Türme waren vielzahlig wie Meereswellen. Wer denkt da nicht an Manhattan und Mainhattan, an Bankenfestungen, an das ständig Übervolle in den Kneipen, Kinos, Cafés, Clubs und Museen der Metropolen dieser Welt?
Der kleine Ort aber, in dem der erfolgreiche, auf der Nordseeinsel Föhr geborene Theaterautor Nis-Momme Stockmann seinen gewaltigen Debütroman „Der Fuchs“ ansiedelt, wirkt wie ein Gegenstück all dessen, was Georg Heym vor 106 Jahren in seinem Gedicht „Der Gott der Stadt“ beschrieben hat. Thule heißt dieses nordfriesische Phantasiekaff, es ist der buchstäblich fernste Ort, an dem die Winde nicht wie in Georg Heyms Stadt schwarz sind, das Meer noch mit der ungestümen See verbunden ist, wo die Nächte still sind, der Korybanten-Tanz der Städte uneinsehbar fern. Die Abende zeigen sich kühl und astral. „Ein dunkelblaues Tuch, auf dem sich langsam schwarze Tinte verteilt. In der ozeanischen Weite, fein und silbrig eingewebt: die Plejaden. Ein Duft von blühendem Löwenzahn, trockenem Schilf, Salzwasser und so dezent wie angenehm: Algen und Muscheln, Meer. So zeigt sie sich während eines ihrer seltenen großen Auftritte: die Nordseenacht. Sie hat immer noch ihren Zauber. Sie kann immer noch zwinkern und schäkern, selbstbewusst über das Parkett gleiten. Wenn sie in der Laune ist. Und heute ist sie. Keine Wolke. Eine Auflösung der Grenzen zwischen ruhig darüberschwebendem Wasser.“ Hier, im Nirgendwo, wird auf satten 720 Seiten unsere Idee der relativierenden Postmoderne beerdigt.
Eine Gruppe langsam Heranwachsender, darunter der hyperaktive Tille, der dunkelhäutige Halb-Venezulaner Diego, und der Ich-Erzähler Finn Schliemann, wahre Neuankömmlinge unserer Gesellschaft, schauen wie reine Tore auf die über Jahrhunderte verfestigten Strukturen ihres Dorflebens. Doch dann kommt die Flut. „Über Nacht war das Wasser gestiegen, was an sich schon ungewöhnlich war und niemand hier jemals erlebt hatte. Niemand hatte jemals eine Katastrophenübung mitgemacht, es gab keine Signalraketen, keine Rettungswesten, keine Dieselgeneratoren, keine Besenkammern voll mit Notkonserven, keine Telefonnummern, die man laminiert und neben das Telefon geklebt hätte, keine Funkgeräte, keine Thermodecken – ja noch nicht einmal Worte gab es in den Köpfen der Menschen hier für all das. Also brach irgendwann am Morgen offenbar der Deich, und das Wasser rollte – wie eine große geduldige Verarschung – über den Ort, ohne dass auch nur eine Sirene losging.“
Da sitzen sie auf dem Dach eines Hauses, sehen das Inventar von ein paar Dutzend Leben an sich vorbeischwimmen und Finn sinniert, wie es eigentlich dazu kommen konnte; als sei diese Katastrophe Teil eines göttlichen Plans, in den sich das Subjekt zu fügen habe, nachdem es viel zu lange in Ruhe vor sich dahingelebt hatte: „Diese Landschaft ist wie eine Versinnbildlichung von allem, was sich hier abspielt, denke ich. Als hätte irgendjemand die Spitzen abgeschnitten. Von dem Land. Von den Leuten. Von den Ereignissen.“ Es war von jeher das perfekte „Leben im Man“, man lebt, wie die Vor-Väter gelebt haben und man reicht dieses Leben weiter an seine Kinder. Wer sich in diese Konstrukte eingefügt hat, der weiß, dass auch alle Katastrophen schnellstmöglich wieder mit der kleinen Dorfgemeinschaft parallelisiert werden müssen, also Selbstmorde, Knast, Missbrauch et cetera. Doch diese Kinder wollen nicht mehr mitmachen. Sie wollen plötzlich ihr Leben neu gestalten – und dabei hilft ihnen eine narzisstische Superindividualistin, die innerhalb kurzer Zeit alle Jugendlichen des Orts an sich bindet. Es ist Katja, die behauptet, hellseherische Fähigkeiten zu haben. Katjas Erscheinen ist eine Epiphanie, ihr Agieren ein Game-Change, die Folgen des Umbruchs fatal. Dass diese Konstellation eine übertragene Anordnung der Jetzt-Zeit ist erzählt Nis-Momme Stockmann im Interview.
Nis-Momme Stockmann, Sie sind auf Föhr geboren, seit vielen Jahren auch ein erfolgreicher Theaterautor. Nun ist Ihr über 700 Seiten langer Roman „Der Fuchs“ erschienen und der spielt im hohen Norden des Landes, nämlich im ostfriesischen Fantasieform Thule. Sie erzählen eine Geschichte über das Erwachsenenwerden. Es ist aber noch viel, viel mehr. Wie würden Sie als Autor den Kern Ihres Romans umreissen? Das ist natürlich ein bisschen schwierig, zumal es nicht nur einen Kern gibt, sondern etliche Kerne an denen der Roman sich abarbeitet, also, zum Einen geht es darum, dass wir nach der Postmoderne, die unsere großen Entwürfe erodiert hat wieder zurückfinden zum menschlichen Kleister, also die Begriffe, die uns persönlich, sozial und auch kulturell zusammenhalten: Liebe, Erhabenheit, das Schöne, das Edle. Diese großen Begriffe, darum geht es natürlich ein Stück weit und darum auch, dass wir wieder zu tauglichen Entwürfen kommen, für eine wahnsinnig herausfordernde Zeit, die uns bevorsteht. Ein weiteres großes Feld ist sicherlich diese Konstellation dieser beiden Figuren, zum einen Finn, der sich auf das Dach gerettet hat, nachdem eine gigantische Flut das Dorf, in dem er wohnt, heimgesucht hat und Katja, seine Freundin, die diese Flut vorausgesagt hat. Das ist ein wesentlicher Teil. Er hat damals seiner Freundin niemals glauben wollen, eben, dass diese Flut dann wirklich kommen wird und diese ganzen Geschichten, die sie erzählt hat, die hat er nur für phantastische Kinderspiele gehalten. Nach und nach, wie er aber auch dem Dach sitzt und die Ereignisse rekonstruiert, wie ist es zu dieser Flut gekommen, stellt er aber immer stärker fest, dass da mehr dran war, als er ursprünglich geglaubt hat und die Geschichten, die sie erzählt hat werden plötzlich immer weniger phantastisch, immer realistischer.
Sie schreiben, die Landschaft sei eine Versinnbildlichung von allem, was sich hier abspielt, als hätte irgendjemand die Spitzen abgeschnitten von dem Land, von den Leuten, von den Ereignissen. Doch die von Ihnen im Roman geschilderten Ereignisse bestehen aus unzählbaren Spitzen. Sie schreiben: „Hier leben und krepieren sie wie die Hühner in der Legebatterie, nur sind ihre Erzeugnisse hässliche Neubaugebiete, eine unfassbar geschmacklose Garderobe, Kegelabende, sexueller Missbrauch, ein radikaler Rassismus gegenüber allem, was nur eine Spur anders ist…“ und so weiter. Welches Gewaltpotential liegt denn im Dörflichen? Ich glaube, dass das Gewaltpotential an sich nicht viel anders ist als in den Städten, dass es aber einen anderen Umgang damit gibt. Ich glaube, dass dadurch das einem so nah ist am Dorf muss man eben zu einer Art von sozialem Muster finden. Was oft passiert ist, dass es nivelliert wird oder sowas. Mir wurde jetzt oft im Rahmen meiner Lesereise vorgeworfen, ich würde so degoutant sein oder absichtlich ekelhafte Dinge schildern oder so – aber das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube einfach nur, dass ich mich nicht scheue, diese Ereignisse, die überall stattfinden, in die Hand zu nehmen. Mich fragte jemand in München auf der Lesung: „Ja, wo findet denn all das statt?“ Und ich sagte: „Na, fahren Sie mal 20 Kilometer raus aus München. Da findet es statt.“
Ausgang Ihres Romans „Der Fuchs“ ist eine katastrophische Überschwemmung, die auch den Handlungsrahmen des Romans vorgibt. Aktuell wird viel über Fluten gesprochen, nicht nur in Hinblick auf den Klimawandel, sondern auch auf die Flüchtlingskrise bezogen. Die Rechten bedienen sich hier des Bildes der „Flut von Flüchtlingen“, die angeblich das „Alte Europa“ überschwemmen. Wie kann Ihr Bild der Flut in diesen Kontext eingeordnet werden? In Bezug auf solche Diskurse wird es natürlich immer sofort ziemlich apokalyptisch. Es wird ständig, sofort mit Krisenbegriffen operiert. Die Flüchtlingssituation ist auch sofort eine Flüchtlingskrise. Wenn man die ganze Zeit mit Begriffen der Krise oder des Krisenhaften operiert, dann ist man auch in einem Zustand konstanter Panik oder Obacht zumindest. Damit wird ganz bewusst operiert. Wenn man anfängt, diese Situationen, die so etwas Apokalyptisches haben, begrifflich auszutauschen, bekommen sie eine andere Bewertung. Wenn man Krise zum Beispiel mit Umbruch auswechselt, dann hat das ein ganz anderes Aroma und man kann auch ganz anders darüber nachdenken. Ich glaube, dass wir in einer Situation sind, die geprägt ist von Umbruch, aber das wir die Chance, die darin liegt, verkennen, zum Beispiel in der Flüchtlingssituation. Ich sehe diese Krise oder diese Flut, wenn Sie so wollen, eigentlich nicht kulturpessimistisch, sondern ich sehe das eigentlich als eine große Chance, in der wir wieder – wie in der Zeit der Aufklärung – gestalterisch mit Welt, mit Wirklichkeit, mit Wahrnehmung umgehen können. Das ist auch ein weitere Aspekt in dem Roman, der eine große Rolle spielt, eben der kreative Umgang mit Welt, mit Wirklichkeit.
Die Veränderung kommt hier aus dem Dorf. Ist jetzt neuerdings das Dorf das Labor der Kultur und nicht mehr die Stadt? Nein, ich glaube nicht, dass das Dorf das Labor ist. Ich glaube, das Subjekt ist das Labor. Das wichtigste politische Tableau der Neuzeit ist für mich das Subjekt, das Innere, das eigene Innere. Da findet wirklich noch Veränderung statt und zwar über die Mechanik des Denkens; wie denken wir über Welt nach? Das klingt jetzt wahnsinnig diskursiv oder poststrukturalistisch, aber ich meine das wirklich, weil allein diese Einstellung, die wir uns immer wieder vorbeten, dass der Einzelne heute nichts ändern kann, das verkommt mittlerweile zu einer Selbstbeschwichtigungsstrategie, weil man sich damit von der Schuld befreit, überhaupt was unternehmen zu können oder zu müssen.
Die Frage ist jetzt: wie kommen wir dann zum Fuchs? Der Fuchs ist natürlich durchgesetzt in der deutschen Literaturgeschichte. Ich denke da an „reineke de vos“ aus dem 15. Jahrhundert, Das war ein Gründungsmonument, auch für die Germanistik, die ursprünglich aus der Rechtswissenschaft kommt, die haben damals „reineke de vos“ gelesen, weil dort ein Gerichtsverfahren geschildert wird. Hinterher ist man erst zur Literaturgeschichte gekommen. Aber es geht weiter mit „Füchse sind keine Rudeltiere“, wenn man die Absoluten Beginner nimmt. Es gibt den Fuchs bei Sasa Stanisic’ „Vor dem Fest“, bei Karenina Köhler mit „Wir haben Raketen geangelt“ und jetzt Sie. Was hat denn die deutsche Gegenwartskultur mit dem Fuchs? Was haben Sie mit dem Fuchs? Für mich ist der ein literarisches Bild im übertragenen Sinne dafür, wie ich mir Kulturtechnik im Idealfall vorstelle. Die Kulturtechniken, die wir anwenden, sind teilweise sehr alt. Das Theater war beispielsweise schon zu Goethes Zeiten sehr alt. Trotzdem versuchen wir, diese sehr, sehr alte Technik auf eine wahnsinnig elaborierte Weise – also ein hochadaptives System – anzuwenden. Dem Neoliberalismus, dem Kapitalismus, unserem System können wir auf diese Weise immer nur hinterherarbeiten. Das möchte ich eigentlich nicht. Als Künstler möchte ich mir die Illusion erhalten, man könnte gestalterisch mit Gesellschaft umgehen und vorneweggehen. Für mich ist der Fuchs ein schönes Bild dafür. Die Art und Weise, wie er sich Dinge erschnüffelt, wie er sich an Dingen vorbeischleicht, sie untertunnelt, schon in der Lage ist, auch mal anzugreifen, aber es eher vermeidet, das ist die Art und Weise, wie ich finde, wie man mit Kulturtechnik umgehen sollte.
Und: Füchse sind keine Rudeltiere. Rudeltiere sind aber diejenigen, die sich mit dem Pop beschäftigen. Pop hat das Rudel geradezu in sich eingeschrieben. Jetzt schreiben aber Sie: „Pop ist nur ein anderes Wort für das Verheilen von Wunden oder eher für das gar nicht erst zustande kommen von Wunden, durch das Überstreifen von Schonern aller Art oder durch das überhaupt nicht erst in gefährliche Situationen treten.“ Was haben Sie gegen den Pop? Ich habe nichts gegen den Pop. Ich finde den Pop nur symptomatisch für unsere Zeit, in der es wahnsinnig viel um Sicherheit geht und auch zum Beispiel darum, dass man in sicheren, planbaren Strukturen unterhalten werden kann. Genauso, wie in unserem Leben die Extreme abgeschnitten werden, oben und unten, das heißt, die Extreme der positiven Ereignisse im Leben, aber auch die Extreme der negativen Ereignisse im Leben, sei es Trauer, Verzweiflung, sei es aber auch ekstatische Liebe oder Verliebt-Sein. Niemand bringt sich mehr wegen Liebe um, aber niemand trauert mehr wie von Sinnen. Diese Extreme sind natürlich aus dem menschlichen Spektrum mehr oder weniger rausgeschnitten und genauso verhält es sich natürlich auch mit der Kunst oder mit der Literatur, mit der Musik, die wir konsumieren. In der sind natürlich auch die Spitzen herausgenommen. Deswegen wird alles immer entschärft. Am Theater proben sie zum Beispiel immer auf Ironie. Ironie bedeutet immer Distanz, bedeutet immer, sich wegdrücken, in eine Distanz treten, damit es einen nicht so sehr erreicht. Das ist auch eine Art von Pop-Symptomatik, von der Herangehensweise. Nichts darf uns mehr so nahe gehen, dass es uns wirklich erwischt. Das finde ich eigentlich schade. Das bedeutet natürlich Sicherheit in vielerlei Hinsicht, genau so, wie ein Rauchverbot am Bahnhof Sicherheit bedeutet. Es verringert natürlich gleichzeitig Lebensqualität. Wir laufen alle mit Helm rum, wir schnallen uns an, wir hören Popmusik und so weiter. Das ist ein Einpegeln auf einen Mittelwert, den ich eigentlich als nicht-menschlich empfinde. Damit kommt uns nach und nach das schöne Leben abhanden und auch die Verknüpfung zu den Begriffen, sie ernst nehmen zu können, also: Liebe, Erhabenheit, das Schöne, das Edle, Rache, Freundschaft, diese Dinge, zu denen brauchen wir ganz ganz dringend eine Verknüpfung, weil sie sind das, was sie uns als Lebewesen eigentlich edel macht, was das Menschliche Projekt auch besonders macht. ich finde, der Pop ist nicht das Kernproblem, aber ein Teil der Ursache.
Es wird gerade viel darüber gesprochen, dass das deutsche Theater derzeit der Ort ist für die großen Geschichten. Gleichzeitig werden Theatertexte kaum noch publiziert. Müssen Theaterautoren deshalb zwangsläufig ausweichen auf die Romane? Ich glaube nicht zwangsläufig. Eigentlich ist es auch etwas sehr sehr Deutsches. Meine Agentur in Dänemark – für Skandinavien und Frankreich – die publizieren meine Texte auch. Es wird in Deutschland nicht gemacht. Warum, kann ich Ihnen ehrlich gesagt nicht beantworten. Ich glaube, das ist auch ein Problem der Printpresse, die ohnehin schon Schwierigkeiten hat und dann gibt es natürlich in anderen Ländern vielleicht so etwas wie einen Liebhabermarkt und der fehlt in Deutschland, also dass es Leute gibt, die Geld ausgeben für gesprintete Theatertexte. Aber grundsätzlich gesprochen ist diese Distinktion zwischen dem Theaterautor und dem Romancier oder dem Lyriker eine ganz neue. So lange ist das gar nicht her, zwanzig, dreißig Jahre, da war es noch ganz selbstverständlich, dass man sich ungezwungen der unterschiedlichsten Genre bediente. Hermann Hesse, Heinrich Böll, die haben alle ganz selbstverständlich Theaterstücke und ebenso Romane geschrieben. Diese Unterscheidung ist neu, dass darüber gesprochen wird, dass plötzlich Dramatiker anfangen, Romane zu schreiben. Als wäre das etwas ganz Spezielles. Für mich gab es diese Unterscheidung nie. Ich habe nicht gedacht, ich bin ausschließlich Theaterautor, das heißt: ich kann keine Bücher schreiben, sondern ich habe immer mich dazu hingezogen gefühlt, Prosa zu schreiben und die Dramatik war eher eine Art von Umweg. Aber das nur auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stehen natürlich die teilweise prekären Verhältnisse unter denen Theaterautoren arbeiten und ich glaube, dass es wichtig ist, dass dazu eine Diskussion über Gagen- und Honorargerechtigkeit stattfindet, die auch teilweise schon im Gange ist. gestern habe ich wieder auf Facebook gelesen, da gab es eine Ausschreibung für ein Residenzprogramm, in dem Schauspieler zehn Wochen am Ballhaus Ost engagiert werden können für einen Arbeitsaufenthalt und für den sie sage und schreibe 500 Euro kriegen. Ich habe echt lachen müssen.
Nis-Momme Stockmann: „Der Fuchs“, Rowohlt, Reinbek, 720 Seiten, 24,95 Euro