Seit den Studentenstreiks der vergangenen Wochen wird auf allen Ebenen über marode Gebäude, schlampige Betreuung, unsinnige Bachelor-Regelungen gestritten. In der Hitze des Gefechts kommt Armin Himmelrath mit seinem “Handbuch für Unihasser” zur rechten Zeit. Der Journalist hat auf 200 Seiten zusammengetragen, was an deutschen Universitäten im Argen liegt – und warum. Armin Himmelrath spricht im Interview über Studiengebühren, blutjunge Absolventen und Goethe im Jahr 2010.
Warum streiken die Studenten? Die Studenten streiken, weil sich unheimlich viel Druck angesammelt hat. Seit den 70er Jahren sind die Unis chronisch überfüllt. Je nachdem wie man rechnet, hat man zwischen 1,2 und 1,4 Millionen Studienplätze in Deutschland ausgebaut, bei zwei Millionen Studenten. Die sind zudem betroffen von den Veränderungen im Bereich Bachelor/Master, also der Bologna-Reform. Da wird unheimlich viel versprochen – aber Verbesserungen sind nicht zu spüren, im Gegenteil. Und dann kommen drittens noch die Studiengebühren dazu. Alle reden vom Kunden Student – nur: Der Kunde merkt davon nichts. Typisch deutsche Dienstleistungsmentalität, könnte man sagen.
Bachelorstudiengänge dauern nur 6 Semester – müssten die Unis dann nicht leerer werden? Das ist natürlich die Hoffnung, die vielleicht einige Bildungspolitiker dabei hatten. Aber es funktioniert nicht, weil die meisten Studenten den Bachelor nur als Zwischenstation vor dem Masterabschluss ansehen – und weiter studieren wollen. Hinzu kommt der ökonomische Druck: Neben den vollen Stundenplänen müssen viele arbeiten. Zwei Drittel sind nach Zahlen der Studentenwerke gezwungen, während des Semesters zu jobben, und das neben einer 30-Stunden-Woche an der Uni – wo neuerdings oft eine Anwesenheitspflicht gilt.
Aber es gibt doch Studienkredite. Helfen die nicht? Klar kann man Kredite aufnehmen. Wenn man sechs Semester lang jeden Monat 300 oder 500 Euro aufnimmt, kann man sich, je nach Studiendauer, ausrechnen, wo man später landet – bei 10, 20, 25, 30 Tausend Euro Schulden. Schöne Aussichten sind das bestimmt nicht.
Allerdings ist das Studium eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit – warum sollten die Studenten nicht investieren? Das stimmt, die Arbeitslosenquoten bei Studierenden sind geringer als im normalen Bevölkerungsdurchschnitt. Aber das wird mit einer gewissen Vorleistung erkauft. Man gliedert sich später ins Berufsleben ein, hat also einen Verdienstausfall. Das summiert sich ganz schön, wenn man vier Jahre später einsteigt plus das, was man dann hinterher an Erhöhungen nicht bekommt, weil einfach am Ende der Arbeitszeit wieder ein paar Jahre fehlen. Dazu kommt: Mit Bachelor und Master lassen sich die Studenten auf ein System ein, das bislang nicht etabliert ist. Die Fachhochschule Düsseldorf hat herausgefunden, dass die Arbeitgeber zu fast 80 Prozent gar nichts anfangen können mit dieser Differenzierung Bachelor/Master. Wer einen Master hat, kriegt oft nur ein Bachelor-Gehalt.
Durch das Abitur nach 8 Jahren und einer Regeleinschulung von bald 5 Jahren findet der erste berufsqualifizierende Abschluss möglicherweise mit 20 Jahren statt. Werden die Studenten von heute durchgeschleust? Wir kriegen von der OECD alle naselang vorgehalten, wie schlecht es bei uns läuft: die Absolventen sind zu alt, kommen zu spät in den Beruf, die Qualifikationsquoten im höheren Bereich sind zu niedrig. Jetzt kann man natürlich sagen: Guck mal, haben wir alles mit einem eleganten Schwung hinbekommen. Die haben plötzlich ganz viele einen Hochschulabschluss, die sind mit 20 schon fertig oder 21 oder 22. Aber was das dann mit dem wirklichen Leben zu tun hat, ist eine ganz andere Frage – und da habe ich, ehrlich gesagt, große Zweifel, denn Bildung braucht nun einmal Zeit. Zeit, die heutige Studierende nicht mehr bekommen.
Läuft in den anderen Ländern die Umstellung auf das neue Bachelorsystem besser? Es gibt Länder, die den Bologna-Prozess noch zögerlicher umsetzen als bei uns. Deutschland ist vor allem deshalb beeindruckend, weil man sich zehn Jahre lang zwei Systeme leistet, also das alte mit Diplom und Magister und das neue mit Bachelor und Master. Da laufen zwei Systeme nebeneinander, ohne den Hochschulen dafür nennenswerten Mittel zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Andere Staaten sind da noch schlunziger. Portugal kann man nennen, auch Spanien ist eher skeptisch, Griechenland dauert. Es gibt aber auch andere, die einen radikalen Schnitt gewagt haben. Polen zum Beispiel, die haben allerdings auch ein bisschen Übung mit schnellen Umwälzungen in den letzten Jahrzehnten. Und die haben gesagt „Ok, wir stellen wirklich um“ und in einer sehr kurzen Zeit haben die das Studiensystem komplett reformiert. Das hat, finde ich, auch was für sich. Also, wenn man sich für die Reform entscheidet, dann muss man sie auch wirklich mit ganzem Herzen durchführen und nicht so wie in Deutschland, nämlich eher halbherzig. Sonst können wir auch gleich die alten und neuen Studiengänge noch 40 Jahre parallel nebeneinander herlaufen lassen.
Nicht alle Bachelorstudenten sind unzufrieden – allerdings kennen die auch das alte System nicht. Was ist unwiederbringlich verloren gegangen? Das fängt beim Blick über den Tellerrand an, weil die Studenten durch das neue System gezwungen werden, effizient zu studieren. Wenn ich ein Semester lang nicht auftauche, kann es im Extremfall sein, dass ich exmatrikuliert werde. Ich habe da ein anderes Verständnis von universitärem Lernen: Mein Gedanke ist immer, dass die Leute, die an die Uni kommen, mehr oder weniger erwachsen sind. Die müssen doch nicht die ganze Zeit überwacht werden! Es gibt Menschen, die lernen ganz anders. In der Schweiz gab es einen Kanton, die aus Lehrermangel seinen Oberstufenschülern angeboten hatte, virtuell zu lernen. Es gab die Verabredung: „Wir treffen uns zwar regelmäßig, aber es gibt keinen festen Unterricht und ihr könnt selber entscheiden, wo ihr lernt, egal, ob im Freibad, in der Schule, in einer Lerngruppe, Zuhause im Bett, in der Badewanne, wo auch immer.“ Diese Schüler haben später bessere Abiturergebnisse erzielt als die Mitschüler, die immer in der Schule anwesend sein mussten. Ich denke, dass man solche Lern-Verabredungen auch an den Hochschulen treffen könnte. Dafür wäre allerdings ein ziemlicher Kulturwechsel nötig – bei Dozenten und Studenten gleichermaßen.
Welche Studenten fallen jetzt aufgrund der neuen Regelungen durchs Raster? Es fallen im Grunde alle Leute durch, die nicht in der Lage sind, das Hochschulstudium als Vollzeitbeschäftigung durchzuziehen. Es fallen alle durch, die arbeiten müssen. Es fallen natürlich alle durch, die irgendwie familiäre Verpflichtungen haben. Es fallen die Leute durch, die aus irgendwelchen anderen Gründen Zeit für sich brauchen, andere Räume, als nur Uni und Schreibtisch. Also alle, die nicht unter dieses fiese englische Wort von Employability (Arbeitsmarktfähigkeit) fallen, das da so gerne als Dogma im Zusammenhang mit den Reformen genannt wird. Alles, was im Studium nicht karriereorientiert ist und was nicht dem schnellen Fortkommen dient, schadet, stört und sorgt bei den Leuten, die davon betroffen sind, für massive Probleme bei der Studienorganisation. Da muss man sich nicht wundern, wenn die heutigen Studierenden vom Bulimie-Lernen berichten: Wissen reinschaufeln, bei der Prüfung auskotzen, dann wieder neues Wissen reinschaufeln.
So viele Probleme; aber eine Radikalisierung der Proteste findet seltsamerweise nicht statt. Niemand schmeisst Steine. Warum? Wo soll die Radikalität denn herkommen? Die Leute haben für Radikalisierungen einfach keine Zeit. Ein Semester Streik bedeutet, ein halbes Jahr später das Studium abzuschließen. Die Nachteile überwiegen oft den Nutzen der politisch erreichbaren Ziele. Und es ist ja auch eine zynische Situation: Alle klopfen den Studenten auf die Schulter, geben ihnen Recht – aber es ändert sich nichts, der schwarze Peter wird zwischen Bund, Ländern, Gremien und Ausschüssen hin- und hergeschoben. Irgendwann haben die Studenten natürlich auch keine Lust mehr, sich verarschen zu lassen. Ab da siegt dann der Pragmatismus: Augen zu und durch, Scheine bekommen und abschließen.
Wird Goethe irgendwann keine Rolle mehr spielen? Provokant gefragt: Was bringt mir Goethe für meinen Arbeitsalltag? Eigentlich nichts. Man versteht vielleicht den Chef, wenn der eine „Gretchenfrage“ stellen will. Aber das war es auch schon. Und natürlich ist genau das unser Problem, diese Verengung und diese Verarmung des Bildungsbegriffs. Denn das führt wiederum zu der Klage, unsere Absolventen seien unreif. Reife braucht Zeit. Die kann man nicht in sechs Semestern durchprügeln. Einerseits wird immer davon gesprochen, dass straff und effizient studiert werden muss, also unter enormem Zeitdruck. Andererseits gehen Universitäten mit der Zeit der Studenten nachlässig bis fahrlässig um, wenn Leute, die zum Beispiel die Uni wechseln wollen, mal eben quer durch die Republik geschickt werden und ein paar hundert Kilometer fahren müssen, nur weil ihnen ein Stempel fehlt. Ein simpler Stempel! Das muss man sich mal vorstellen! Das ist eine Unverschämtheit.
Was hilft? Wie kommen unsere Studenten zum Erfolg? Aus Sicht der Studenten hilft wahrscheinlich nur, dass man unglaublich laut wird – und das tun sie ja auch im Moment. Dass man Lärm macht und Hörsäle besetzt und sagt: „So geht‘s nicht weiter“. Was die Studenten immerhin erreicht haben, ist: Die Leute klopfen ihnen auf die Schulter und geben ihnen Recht. Aber das bedeutet natürlich noch keine Veränderung im Alltag. Dafür müssen sie weitertrommeln. Sollte der Protest jetzt wieder einschlafen, kann es leider sein, dass alle sagen: Ja, ihr hattet Recht – und anschließend passiert gar nichts. Und ich möchte mir, ehrlich gesagt, nicht ausmalen, was das bedeuten würde, wenn die heutige Studentengeneration mit solch einem kollektiven Scheitern in die Zukunft gehen würde: dass ihnen bei der Problemanalyse alle Recht geben, aber ansonsten fast schon hochschulpolitische Agonie herrscht. Wer die drängenden Probleme an den Unis einfach aussitzen will, der verarscht eine ganze Generation.
Armin Himmelrath: “Das Handbuch für Unihasser”, KiWi, 200 Seiten, 7,95 Euro