Drei Monate verbrachte der (Theater-)Autor und Magazinjournalist in einer brandenburgischen Kleinstadt – jetzt ist seine „teilnehmende Beobachtung“ als Buch erschienen, unter dem schönen Titel „Deutschboden“.
Eine „teilnehmende Beobachtung“ ist eine Methode der soziologischen Feldforschung, bei der Wissenschaftler unmittelbar an den Aktionen der Probanden teilnehmen. Bei Moritz von Uslar bedeutete das: Kopf leer-, Körper freimachen, Bierchen in die Hand nehmen und sich an den Tresen stellen, um mitzureden, wenn ein Haufen sympathischer Hartz-IV-Prolls ihren Mund aufmachen. Kurioses Projekt: „Es gibt diese Idee, dass man weg möchte“, sagt der Autor im Interview, „man kommt ja nicht weg, wenn man nach Thailand fliegt. Man kommt auch nicht weg, wenn man in den schicken Vierteln von New York rumläuft, da sieht man die selben Gesichter wie in Berlin. Aber man kommt komischerweise ziemlich weit weg, wenn man das komplette Tempo runterfährt, und erstmal in ein großes, gemütliches, sandiges Nichts guckt – da kommt man weiter weg, als wenn man in die nächste qualmende und lärmende große Stadt fährt.“
Deshalb ist er für drei Monate in ein 14.000-Seelen Nest gezogen, 60 Kilometer von Berlin entfernt, um sich dort durchzuboxen, im metaphorischen und im ganz praktischen Sinn – als Hobbykämpfer in der örtlichen Boxhalle. Drei Monate lang teilt er „die Molle“ am Tresen mit Hartz-IV-Punks, altklugen Alkoholikern und Ex-Skinheads, die jetzt FDP wählen. Er stellt sich neben eine Rockband an der ARAL-Tankstelle, die hier nur „die blaue Lagune“ heisst und lernt, wie man und lernte, wie man anständig seinen PKW startet: „Man konnte es mit schreienden Reifen und mit schrei-kreisch-jaulenden Reifen tun. Und man konnte so tun, als lasse man den lautstarken Abschied ausfallen, um dann, auf den letzten Metern der Tankstelle, die Reifen umso bestialisch lauter schreien zu lassen. Bloß einfach abfahren von der Tankstelle, das ging nicht.“
Uslar besucht altkluge Alkoholiker, lässt sich „den guten Cappuccino, der aus der Tüte kam“, servieren und inspiziert die Hausbar: „Saurer Apfel, Saure Kirsche, Amaretto, Wodka Rachmaninoff, Wodka Puschkin, Grüneberger Goldbrand, Ballantines, Schwarze Johannisbeere, Cantori, Batida di Coco, Kentucky Highway, Nordhäuser Korn, Goldkrone.“ – Verkleidet als „der Reporterdarsteller“, bewaffnet mit Notizblock und Diktiergerät, Hut auf dem Kopf pirscht er sich an die zunächst misstrauischen Bewohner. „Die von der Stasi haben auf dem Klo mitgeschrieben“, klärt ihn ein Typ namens Blocky auf, „das sitzt bis heute. Denen knallt die Fassung raus, wenn sie einen mitschreiben sehen.“
Doch irgendwann knallt eben keine Fassung raus, irgendwann gefällt es vielen Leuten sehr gut, den Jungs von der Punkrockband „5 Teeth Less“ zum Beispiel, die dem Reporterdarsteller Kalauer und schlüpfrige Gags diktieren, die auch mal Diskussionen über den Sozialstaat auf Sonntagabend-Polittalkshowniveau vom Zaun brechen, die ihn mitnehmen, wo es wehtut und immer wieder überraschen. „Das ist so ein richtiges Paradoxon, das man da erfährt, wenn man fragt: Wen wählt ihr denn? Und es heisst: Die FDP!“, erinnert sich Moritz von Uslar. „Und warum die FDP? – Um die linke Mehrheit zu verhindern. – Also, wow, darauf wäre ich jetzt nicht gekommen, dass cool aussehende, tätowierte Jungs, die in einer Rockband spielen, die Hartz IV kassieren, an einer Kleinstadttankstelle sagen: Unsere Partei bei der Bundestagswahl 2009: FDP, ist doch klar.“ Spätestens ab hier zerfallen die Klischees, mit denen man schnell „Deutschboden“ aufgreift, ja mit denen selbst der Reporter im Buch zu Beginn am Berliner Stammtisch spekuliert.
„Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je von uns war – nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich da hin, wo der totale Blödsinn auferzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzeln der Gegenwart.“ Kommt dann aber alles ganz anders. Der Proll ist plötzlich ursympathisch, auch souverän, hier stellt sich niemand bloß, wird aber auch nicht bloßgestellt, vom Reporter, der sich nach eigenen Angaben „saufend zur Verfügung stellt“. Schnell verliert er die Arroganz, die Moritz von Uslar noch besessen hat, als er im November 1989 mit Kollege Christian Kracht für die Lifestylezeitschrift „Tempo“ zum großen „DDR-Diskotheken-Test“ in die Noch-DDR fuhr.
„Ich gebe wirklich Eins zu Eins wieder, was die Leute da sagen. Das ist ein Stilmittel von mir und dem Buch. Der Humor, die Zweideutigkeit und auch die Abgründigkeit von den Typen, die da sprechen kommt dadurch auch gut raus. Ich habe stundenlang mitgezeichnet und am nächsten Morgen in der herrlichen Pension ‚Heimat‘ gesessen und endlose Computerdateien angelegt. Das sind wirkliche O-Ton-Schätze.“ Moritz von Uslar fühlt sich schonungslos in die Mentalität dieser Bewohner ein, er ist ein Geschichtsschreiber für jene, die allzu leichtfertig von Trash-Dokufilmern im Fernsehen bloßgestellt werden. Die Prolls aus „Hardrockhausen“ haben „Deutschboden“ inzwischen gelesen.
Moritz von Uslar ist persönlich in die Pilskneipe gekommen und hat 20 Exemplare auf den Tisch gelegt. Und wie haben die „Probanden“ seiner teilnehmenden Beobachtung reagiert? – „Erstmal beschämt und gleichzeitig freudig. Das war für die ja keine Überraschung, dass es ein Buch geben wird“, sagt Moritz von Uslar. „Es war rührend anzusehen. Oben auf dem Tisch stand das Bier und unter dem Tisch lag das Buch. Dann haben die angefangen, darin rumzulesen und es gab Gelächter und Freude.“ Schon nachts trafen die ersten SMS ein: „Und die haben mich wiederum gefreut, weil darin stand, dass das hingehauen hat für sie und dass sie das großartig finden.“ – Dem ist nichts hinzuzufügen. „Deutschboden“ ist ein schnelles, unmittelbares, funkelndes Buch, unterhaltsam, wild, ostalgisch. Geil!
(Moritz von Uslar: „Deutschboden – Eine teilnehmende Beobachtung“, KiWi, 382 Seiten, 19,95 Euro)
[…] Saša Stanišić (Bild) hat den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Belletristik gewonnen für seinen grandiosen Roman „Vor dem Fest“ (den Ingo Schmoll und ich hier in 1LIVE Plan B vorgestellt haben) und der auch mein Favorit war. Ja, ich war sogar derart begeistert, dass ich Saša spontan zu einer Lesung nach Wuppertal eingeladen habe. Er wird am 7. Mai im Köhlerliesel zu Gast sein. In Fürstenberg, Fürstenfelde, Fürstenwalde, Fürstenwerder und Prenzlau hat Stanisic für dieses unfassbar komische Buch recherchiert. Ein Mix aus Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch“, den Lyrics von „The Streets“ und Moritz von Uslars rüdem „Deutschboden“. […]