„Der Whiskeyflaschenbaum“ ist Katharina Bendixens Traum vom ökologisch-korrekten Alkoholgenuss. Wer eine leere Single-Malt-Flasche in harter Februarerde vergräbt und später tüchtig gießt, kann im darauf folgenden Sommer ernten. Zum Promilletanken reicht es, aber: „Es ist kein Baum, der Schatten spenden würde.“ Gleiches gilt für die Geschichten der 1981 geborenen Autorin. Hier gibt es wenig Schutz.
Literatur ist immer wieder auch eine Geschichte vom Warten. Der leidende Werther wartet bei Goethe auf seine heiß geliebte Lotte (bis er stirbt). Hans Castorp wartet wie irr in Thomas Manns Zauberberg auf die Rückkehr vom Sanatorium ins Flachland (bis er stirbt). Die beiden Streuner Estragon und Wladimir warten bei Samuel Beckett auf Godot (bis sie ebenfalls sterben, höchst wahrscheinlich). Dahinter steckt immer wieder die große Frage, was dieses Warten bringen soll? Bei Katahrina Bendixen warten trauernde Familien, katzenliebende Omas, böse Kinder, eine Souffleuse, mehrere Paket- und Briefempfänger, eigentlich wartet jeder Held ihrer 21 kurzen Debüt-Geschichten auf irgendetwas und wird währenddessen nicht gerade glücklicher. Denn selten warten sie auf etwas Schönes. „Als mein Bruder fünf Jahre alt war, wurde er von einem Trecker überfahren, und obwohl mein Vater den Traktor lenkte, war nicht nur er schuld am Tod meines Bruders, sondern wir trugen die Schuld zu dritt.“
So beginnt Katahrinas Bendixens erste Erzählung „Der Grashalm“, in der eine geschockte Familie im Kreis drehend auf so etwas wie Erlösung wartet, weil jeder Mitschuld am Tod des Bruders trägt: „Meine Mutter stand in der Küche und passte durch das Fenster auf meinen Bruder auf, der neben dem Haus in der Sonne spielte. Für einen Moment schaute sie jedoch nicht nach draußen, sondern auf den Kartoffelbrei, statt meinen Bruder im Blick zu behalten.“ So geht es Jahr für Jahr, Gedanke und Gedanke, Tag für Tag. Die Familie sucht Schuldige, sucht überhaupt Schuld und Gründe, warum der Kleine vom Trecker überfahren wurde, sie suchen, weil niemand das Wort „Schicksal“ aussprechen mag, weil dieses traurige, weil dieses schreckliche Ereignis, weil dieser Unfall irgendwie begründet werden muss. Gibt es letzte Gründe? Weder im Grashalm, noch im Tod des Bruders, oder allen anderen Naturdingen gibt es einen Sinn – weshalb alle weiter warten (und wenn sie nicht gestorben sind, so warten sie noch heute).
Es ist schon seltsam, wie Katharina Bendixen in ihrem schmalen Geschichtenband eine immer wiederkehrende Enge beschreibt, wie man sich die ganze Zeit gefangen, eingeschlossen fühlt. „In einer kalten Winternacht vor ein paar Jahren erfror uns die Großmutter in der Laube.“ – „Im Sommer kehrt sie sicher zurück“, sagte die Mutter über den Zaun. – „Redest du im Theater so viel, dass du zu Hause nicht mehr sprechen willst?“ – „Natürlich kommt sie Weihnachten nach Hause“, sagte die Mutter im Winter über den Zaun.
Man kann einzelne Sätze aus verschiedenen Geschichten beliebig kombinieren, immer werden die Collagen von der großen Tristesse erzählen, die Schicksale der vielen Menschen vermischen sich, bis man bei aller Trostlosigkeit nur noch an Hermann Hesse denken kann: „Seltsam, im Nebel zu wandern! / Leben ist Einsamkeit. / Kein Mensch kennt den andern, / Jeder ist allein.“
Die schweigsame Souffleuse, die demenzkranke Großmutter, deren Katze tragisch verhungert, die Versandhaussüchtige, die ihrem Paktzusteller-Liebhaber das gemeinsam gezeugte Baby im Karton überreicht, die weit entfernt lebenden Kinder („Die Tochter wohnt in einer Stadt, in der Sinologie gelehrt wird.“), sie alle tragen ihre ganz großen Sehnsüchte mit sich herum („Ein Schotterweg führt hinein nach Neu-Brasilien). Aber diese Sehnsüchte werden nie erfüllt. So viel Traurigkeit steckt in den kleinen Geschichten, so viel Mutlosigkeit, dass man nach 132 Seiten aufspringen und ganz laut und befreiend schreien will. – Keine schlechte Reaktion auf Literatur.
„Der Whiskeyflaschenbaum“ wird vom wunderbaren, neuen Poetenladen-Verlag veröffentlicht, der neben Katharina Bendixen noch einige andere entdeckenswerte, ungewöhnliche Bücher herausgibt, wie Sandra Trojans Gedichte „um uns arm zu machen“, Carola Grubers „Alles an seinem Platz – 66 mögliche Geschichten“ und David Lerners „Die anmutige Kurve eines Marschflugkörpers“ (zweisprachig, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt vom großartigen Ron Winkler). Für den Einstieg, nach „Der Whiskeyflaschenbaum“ lohnt sich das „poetmag“ (wie alles aus dem Haus liebevoll gestaltet, ungewöhnlich, mit 8,80 Euro nicht zu teuer). Beitragsbild: Benjamin Gladis