Ist es Zensur, wenn ein Buch von der SPIEGEL-Bestsellerliste und aus einer Amazon-Präsentation gestrichen wird? Was bedeutet es für den öffentlichen Diskurs, wenn sich Buchhändler nun weigern, das ohnehin ausreichend umstrittene Machwerk des verstorbenen Rolf Peter Sieferle zu verkaufen? Diese Fragen stehen seit wenigen Tagen im Raum – und der unvermeidliche Hendryk M. Broder schrieb über „Die Lücke auf Platz 6 bei Amazon“ bereits am Samstag: „Auf diese Weise hatten auch sowjetische Zensoren Geschichtsschreibung betrieben. der Konterrevolutionär Trotzki wurde von Fotos wegretuschiert und die Spuren der Retusche ebenfalls beseitigt.“
Markige Worte ist man gewohnt von Broder – und das aus dem Umfeld der Neuen Rechten nun verstärkt gegen das Nachrichtenmagazin Der SPIEGEL polemisiert wird, können möglicherweise nicht nur jene verstehen, die dem Weltbild von Sieferles Buch anhängen. Wo ist er hin, der öffentliche Diskurs? Den hat der SPIEGEL nämlich zu unterdrücken versucht, indem er ein Buch, das zuvor noch auf der Bestsellerliste rubriziert war, klammheimlich streicht, ohne mit seinen Nutzern oder Lesern über diese Entscheidung zu sprechen, ohne mit ihnen zu diskutieren. Woher kommt diese Angst?
Dabei ist die SPEGEL-Bestsellerliste seit jeher keine Meldung des Statistischen Bundesamtes über die meistverkauften Bücher der vergangenen Woche, sondern ein Marketinginstrument, das erstellt wird auf Basis von media-control-Verkaufsdaten und einer redaktionellen Vorab-Entscheidung. Mitnichten können alle Bücher automatisch auf diese Liste kommen, was der SPIEGEL ebenso wie der buchreport, der die Liste ermittelt, auf ihren Homepages erklären. Dort steht: „Nicht berücksichtigt werden damit explizit Nachschlagewerke, Kompilationen, Zusammenstellungen bereits veröffentlichter Texte, Schulbücher, Ratgeber (z.B. Kochbücher, Medizinratgeber, Fitnessanleitungen), Reiseführer sowie Geschenkbücher und Bildbände.“
Der Duden ist nicht auf der Liste. Bei Harry Potter wurde lange diskutiert, ob er ins Bestsellerlisten-Rennen gehen darf, denn: Kinderbücher tauchen ebenfalls nicht auf. Ist das Zensur? Nein. Wenn aber ein Buch wie „Finis Germania“ erst in der NDR-Sachbuchbestenliste auftaucht, danach aber die ganze Liste eingestellt wird, wenn ein Quasi-Monopolist wie Amazon Platz 6 der SPIEGEL-Liste seit Freitagfrüh ebenso verschweigt wie der SPIEGEL, dann wird die öffentliche Kommunikation über ein Druckerzeugnis auf eine Weise erschwert, die der Ursprungsbedeutung des Wortes Zensur erschreckend nahe kommt.
Es erinnert auch an einen zweiten Fall, über den gestern die WELT-Redakteurin Hannah Lühmann berichtet hat. In Berlin schließt ein jüdischer Buchladen, weil er sich nach öffentlichen Angaben von der Antifa unter Druck gesetzt fühlt. Das wiederum ist geschehen, weil die Besitzer des Ladens eine Veranstaltung durchführen wollten über den italienischen Kulturphilosophen Julius Evola, der Futurist war, Dadaist, aber auch Rassenmetaphysiker und der von Steve Bannon, dem Chefstrategen des US-Präsidenten Trump, als Inspiration bezeichnet worden ist.
Die jüdischen Buchhändler waren an der Differenz interessiert – und nicht nur Systemtheoretiker wissen, dass Differenz die Basis jeder Kommunikation ist. Differenz ist auch die Basis einer pluralistischen, weltoffenen Gesellschaft – die hält einen Sieferle aus, die sollte einen Sieferle aushalten. Es ist nur ein Buch. Es ist nur eine Meinung unter vielen anderen Meinungen, die in vielen jener 89.000 Büchern nachgelesen werden können, die jährlich in Deutschland erscheinen. Wir sollten sie aushalten, wir sollten sie diskutieren können – und uns weder von einem Marketinginstrument blenden noch von Buchhändlern vorschreiben lassen, was wir lesen und diskutieren im Jahr 2017, jetzt.