„Fehlstart – Training“, hieß 1978 der Debütroman vom damaligen F.A.Z–Literaturkritiker Michael Zeller. „Die Ansätze zu leitmotivischer Dekonstruierung – etwa im Bild des Blattes im Fluss, des geschlagenen Köters und andere Randexistenzen – bleiben etwas unbestimmt“, schrieb damals die Neue Zürcher Zeitung und schloss mit den Worten: „Ein epischer ‚Fehlstart‘,? Eher ein Roman-‚Training‘, das zu einigen Hoffnungen berechtigt.“ – Etliche Gedichtbände, Essaysammlungen und weitere Romane später, am Sonntag vergangener Woche, feierte Michael Zeller seinen 70. Geburtstag in Wuppertals City Kirche Elberfeld nach. Ein Kuriosum.
Günter Grass’, Martin Walsers’, Hans-Magnus Enzensbergers 70. Geburtstage wurden mit großen Texten, bei Walser sogar mit einer 12-bändigen Werkausgabe gefeiert. Für Michael Zeller (Bild), 1944 in Breslau geboren, seit 15 Jahren beheimatet in Wuppertal, fallen die Feierlichkeiten zwar kleiner aus. Aber auch er hat eine große publizistische Karriere hinter sich, als Wissenschaftler (1974 promoviert mit einer Arbeit über Thomas Mann, 1981 habilitiert in Erlangen), als Rezensent (für das Feuilleton der F.A.Z. unter Marcel Reich-Ranicki) und als vielfach ausgezeichneter Schriftsteller (darunter Werke wie „Café Europa“, „Die Reise nach Samosch“ und „Falschspieler“). Ihm zu Ehren haben am Sonntag des 2. Novembers nahezu 80 Kollegen und Freunde trotz goldener Novembersonne den Weg in die Citykirche gefunden.
Es war ein Blick in den Möglichkeitsraum meiner eigenen Zukunft, deshalb hatte ich doppelt gern zugesagt, eine Stelle aus Zellers Debüt „Fehlstart-Training“ zu lesen. Zudem war es die Chance, Michael Zeller ein paar Dinge zu fragen (weiter unten), und endlich in Ruhe kennenzulernen: Karl Otto Mühl (91, aber cool wie eh und je) und Hermann Schulz (76), die vermutlich bekanntesten lebenden Schriftsteller des Wuppertals. Zu beiden gibt es etliche Geschichten.
So war Karl Otto Mühl Buchhalter in jener Firma (Stocko), in der meine Eltern in den 70er Jahren gelernt und sich getroffen haben (1979 wurde ich geboren). Immer wieder sahen wir Karl Otto Mühl mit BILD-Zeitung unterm Arm den Westfalenweg entlang joggen. Sein Angestelltenroman „Siebenschläfer“ wurde von Walter Jens in Kindlers Literaturlexikon der Weltliteratur aufgenommen und von ihm habe ich als Jugendlicher das erste Buch eines Wuppertaler gelesen: „Ein Neger zum Tee“, eines von vielen erfolgreichen Stücken Karl Otto Mühls, der in den 70er Jahren mit „Rheinpromenade“ und „Wanderlust“ glänzende Erfolge feiern konnte. „Ein Neger zum Tee“ ist wiederum im hiesigen Peter Hammer Verlag erschienen, den viele kennen durch Wolf Erlbruchs „Der Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“, lange Jahre zuerst von Bundespräsident Johannes Rau geleitet, später (1967-2001) von Hermann Schulz, der vor allem nach seiner Verlagskarriere als Autor reüssierte: „Iskender“ und „Der silberne Jaguar“.
Wie sieht so eine Jubiläumsfeier aus, bei der ein Großteil der Wuppertaler Kulturszene anwesend ist? Es gab, typisch für diese Stadt, südamerikanisch angehauchten Jazz (hier sagt man „Jatz“, nicht „Jääässs“) von Erhard Ufermann (einst Gefängnispfarrer, und zwar der denkbar coolste, jetzt Pfarrer der City Kirche), Martin Zobel (Flügelhorn) und Hayat Chaoui (Gesang). Im Vorraum des Kulurtempels Blechkuchen und Kaffee. Vorm Altar sitzend versammelt: die Gästeschar. Von der Kanzel selbst zum Teil salbungsvolle Worte, wie die des schreibenden Wirtschaftswissenschaftlers Wolf von Wedel Parlow, der düster raunend bekundete:
„Zu einem Anlasse wie diesem gehört auch das Dunkle, ein Memento Mori. Erst die Flecken am Himmel lassen die Feier umso heller erstrahlen.“ – Ich saß in letzter Reihe, wartete auf meinen Einsatz und notierte mit, wie seinerzeit als Lokaljournalist. Damals gehörten Sonntagstermine wie diese zum täglich Brot/Brötchen (für 25 Cent die Zeile oder 30 Euro pauschal, wenn es um Kulturelles, inklusive Techno im Butan-Club, ging). An diesem Nachmittag dann gab es kurze Blicke in Michael Zellers Werk, vorgetragen von Kollegen und ein verstörendes Lied des Wuppertaler Komponisten Lutz-Werner Hesse, das auf einem Gedicht Zellers basiert.
Ich selbst hatte „Fehlstart – Training“ kurz zuvor gelesen (mein Ausschnitt oben), während eines Gabelfrühstücks am Laurentiusplatz; die Geschichte des promiskuitiven Studenten Reisch, über den der Klappentext von 1978 verrät: „Der junge Mann gibt sich als echter Draufgänger. Mit Trommeln und Trompeten zieht er immer wieder los, um nach sorgfältig ausgetüfteltem Plan immer neue Frauen zu erobernden. Freilich nur theoretisch. In Wirklichkeit sackt er nach dem ersten Erfolg jedesmal sehr rasch ab.“ – Es fällt leicht, in Reisch ein Alter Ego Michael Zellers zu lesen, sein Vertrauen in den Kanon („Lächelnd dachte er an die Rom-Seligkeit deutscher Schwarmgeister, an die teutonischen Poeten etwa zu allen Zeiten bis hinauf in die Gegenwart, wo selbst stramme 68er eingeübt waren in diese Stadt“), oder das grantelnd Melancholische der denkenden Jugend („Er ging zurück in den engen Kerker seiner Pension“ bzw. „die Geilheit im Sitzen, die Unmöglichkeit, mit irgendetwas das Air-conditioning aufzureißen“). Es gibt in diesem Buch, das von der Sinn- und Frauensuche seines Helden berichtet, Exkurse über Jimi Hendrix, Dates mit drogensüchtigen Girls und explizite Beschreibungen außerehelichen Geschlechtsverkehrs:
„Sie zogen sich aus, bis auf die Haut, schweigend, sachlich, kein erotisierender Strip, kein Firlefanz mit stöhnendem Vorspiel, keine Sex-Akrobatik, keine Verführungsmanöver, kein Hahnenkampf von ihm, kein seufzendes Erobernlassen bei ihr. Sie lagen aneinander, zwei Körper ohne Fremdheit und beinahe ohne den Stachel des eigenen Geschlechts. Er wollte jetzt nicht unbedingt seinen Samen rausschleudern, sie brauchte nicht die Härte, die sich in dem in rhythmisch federndem Ritual hervorgezauberten Schleim auflöst.“ (Seite 65) – „Fehlstart-Training“ ist ein Aufbruchstext und er war selbstverständlich mit Hoffnungen des Autors belegt, „mit Hoffnungen, die Buch für Buch immer kleiner wurden“, sagte mir Michael Zeller (Andreas-Gryphius-Preisträger 2011) später im Gespräch. „Aber man denkt natürlich als junger Autor: Jetzt hält die Welt den Atem an.“ Es war „ein Buch nebenbei“, da Zeller damals noch an der Uni arbeitete und zugleich fürs F.A.Z.-Feuilleton schrieb – das er 1982 wütend verließ, nachdem ausgerechnet Marcel Reich-Ranicki seinen Mitarbeiter Zeller beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit den Worten angriff, er könne noch zwanzige Jahre weiter schreiben und würde ja doch keinen anständigen Satz zustande bringen.
Ein Jahr später sollte der gleiche Reich-Ranicki dann angesichts der Performance von Rainald Goetz bekunden, Blut habe nichts mit der Bewertung des Textes zu tun. Man kennt derlei Geschichten allzu gut. Deshalb ist es eine große Freude, Michael Zeller zu sehen, der seit fast 40 Jahre am Ball bleibt, seine schriftstellerische Karriere trotz aller Widerstände verfolgt, daraus aber keine Ratschläge ableiten will („da muss jeder seinen eigenen Weg gehen“). Ihm selbst, das klang zaghaft an diesem Nachmittag durch, sagt „Fehlstart-Training“ inzwischen weniger zu als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Auch das ist typisch für einen professionellen Autor, zu sehr wird er Rezensent früherer Texte – und schüttelt über ihnen den Kopf. – Abgegriffen ist übrigens der Band aus dem Sauerländer-Verlag. Behalten kann ich das gute Stück nicht. Es ist Zellers einzig verbliebens Exemplar und antiquarisch ist es schwer zu beschaffen. In diesem Band lagen übrigens ein paar Zettel, darunter die Schreibmaschinen geschriebene Einladung zu einer Frankfurter Lesung (oben abgebildet) und eine Kugelschreiberzeichnung (rechts im Bild), Michael Zeller in jungen Jahren: Im Stress. – In diesem Sinne: Einen herzlichen Glückwunsch dem enervierten Geist. Auf die Fehlstarts. Und das Training.
[…] unterm Arm, den Westfalenweg entlangging. Für mich war Mühl, den ich im vergangenen Jahr eben hier persönlich kennenlernen durfte, immer ein Vorbild. Sein 1975, also vier Jahre vor meiner Geburt […]