Macht Liebe blind? Oder muss ein Mann blind sein, um zu lieben? Max Frisch zeigt in seinem letzten Roman „Mein Name sei Gantenbein“, wie eine junge Schauspielerin geliebt werden kann.
Ihr Name ist Lila. Und lila, nicht rosa, erscheint auch das Leben durch jene zwielichtig lila getönte Blindenbrille, die ein Mann nach seinem schweren Autounfall aufsetzt. Jedoch ist er nicht wirklich blind. Er behauptet lediglich, nichts sehen zu können. Er spielt den Blinden, ebenso wie Lila, seine spätere Geliebte, die treue Dame daheim oder tragische Figuren der Weltliteratur auf Theaterbühnen spielt. „Mein Name sei Gantenbein“ ist ein moderner Roman über das Spiel. Ein Thema, das Max Frisch immer wieder beschäftigte, das Spiel des Lebens (wie 1954 in „Stiller“, wo sich der Künstler Anatol Stiller als Jim White ein neues Leben erfindet), das Spiel mit und in Texten (1966/67 bereits im Titel „Biographie: Ein Spiel“ angelegt). Hier heißt eines der Spiele Liebe.
Warum begehrt dieses wunderschöne, Pelz tragende „Erzweib“, diese sogar von einem tanzenden „Einhorn“ umworbene Frau ausgerechnet den blinden Lügner, der nur behauptet, sein Name sei Gantenbein? Warum bezahlt sie wie eine Mutter für den angeblich Mittellosen im Restaurant? Warum lebt Lila mit ihm, obwohl sie weiß, dass er sie hintergeht, dass er durchaus sehen, dass er bezahlen, dass er eigentlich uneingeschränkt durch die Welt gehen kann? Ganz einfach. Weil Gantenbein, um seine Rolle aufrecht zu halten, die kleinen Fehler und Verfehlungen an Lila nicht bemängelt. Er kann sie einfach nicht erkennen. Weil er im Gegenzug alle Nichtigkeiten von der „großen Schauspielerin“ fern zu halten weiß. Weil Gantenbein heimlich, aus dem Hintergrund, ihr Chaos ordnet, Aschenbecher leert und in ihrer Abwesenheit das Geschirr spült. Weil Lila durch ihn glauben kann, es gäbe Heinzelmännchen.
Und weil „Lila als Contessa“ vor ihm nichts verstecken muss, nicht einmal ihre Rauschgiftsucht, „da sie überzeugt ist, dass Gantenbein ihre Drogen nicht sieht.“ Also glaubt sie seine Blindheit, sie glaubt ihm als Spiel. Sie glaubt und sie liebt, ja sie heiratet ihn sogar. „Die Welt hält es für einen schlichten Wahnsinn.“ Man gibt der Ehe höchstens einen „knappen Sommer“. Doch es funktioniert. Obwohl Lila mit ihrem Liebhaber Niels Siebenhagen fremdgeht, ständig mit diesem Mann, dessen Blumen so wunderbar sind, irgendwohin fliegt, ihren Gatten betrügt. Als Gantenbein Lila am Flughafen nach einem ihrer amourösen Abenteuer abholt, erkennt er den Nebenbuhler. Doch darf er ausrasten? Nein. Das sind die großen Dinge, die eine Partnerschaft retten können. Und die kleinen erfährt man dann, wenn sich Gantenbein während einer Theaterprobe auf die Seite Lilas schlägt, den Regisseur mit Argumenten eines Blinden widerspricht, das Bühnenbild korrigiert. Er steht einfach immer zu seiner Frau, sonst nichts.
„Sonst nichts“ kann man dagegen über den Roman niemals sagen. Dieser ist nämlich wesentlich komplizierter gebaut. Die Hauptfigur taucht beispielsweise nicht nur als der Blinde Theo Gantenbein auf, sondern an anderer Stelle auch als Felix Enderlin. Beide Charaktere sind zugleich spielerische Möglichkeiten einer ganz anderen Figur. Und die stirbt zu Beginn bereits. „Ich stelle mir vor: So könnte das Ende von Enderlin sein“, sagt der Erzähler dort, „oder von Gantenbein?“ Wie komplex die dann folgenden Geschichten, die gespielten, möglichen Lebensentwürfe des längst Toten auch gebaut sein mögen – der Erzählstrang um Gantenbein und Lila ist eine der schönsten Liebeserzählungen deutschsprachiger Literatur. Die Bachmann-Preisträgerin Birgit Vanderbeke hat „Mein Name sei Gantenbein“ 1998 mit „Fehlende Teile“ neu erzählt, allerdings aus der Sicht Lilas. Doch das ist eine andere Geschichte.
Max Frisch, „Mein Name sei Gantenbein“, Suhrkamp 290 Seiten, 9,50 Euro