Gemischt waren hierzulande die Reaktionen, als 2018 die Übersetzung von Otessa Moshfeghs „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ erschien. Wer das Buch 2022 liest, erkennt die hellseherische Qualität einer Geschichte, die vom Lockdown berichtet, bevor die Corona-Pandemie ihren unheilvollen Anfang nahm.
An einer Stelle offenbart die Ich-Erzählerin gegenüber ihrer besten Freundin: „Mir geht’s nicht so gut, Reva.“ Und die entgegnet: „Du siehst aber blendend aus.“ Es ist das Jahr 2000 in New York, rund zehn Jahre nach Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ und kurz vor der Wahl George Bushs zum 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Die 26-jährige Erzählerin sieht nicht nur gut aus, sondern hat vor Kurzem so viel geerbt, dass sie in einem schicken Apartment an der Upper East Side leben kann, ohne für ihren ungewöhnlich hohen Standard arbeiten zu müssen. „Ich schluckte mindestens ein Dutzend Tabletten am Tag. Aber ich hatte das Gefühl, es verlief in geordneten Bahnen. Alles war voll korrekt. Ich wollte einfach nur schlafen, sonst nichts. Ich hatte einen Plan.“
vDie junge, gut ausgebildete Frau spürt nach dem Tod ihrer Eltern eine Traurigkeit, die zur Depression anwächst. Ihr werden die üblichen, gut gemeinten Empfehlungen gegeben: „Du musst dir Filme angucken, die dich aufheitern.“ Ihre zweifelhafte Therapeutin Dr. Tuttle ist überzeugt: „Eine Menge psychischer Krankheiten werden in öffentlichen Verkehrsmitteln übertragen.“
Die Heldin hat keine Lust auf ihren schlechtbezahlten Job in einer von New Yorks hippen Galerien, kündigt auf kreative Weise und gibt sich fortan einem Ennui hin, der stellenweise an die Verfasstheit des Adeligen Des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans 1884 erstveröffentlichten Décadence-Roman „Gegen den Strich“ erinnert.
Besucht wird die Stillstehende von ihrer kapitalistisch-anorektischen Freundin Reva. Die ist weniger gut situiert und möchte dennoch, obschon Jüdin, einen White Anglo-Saxon Protestant-Lifestyle leben. „Sie war besessen davon, die richtigen Marken zu tragen, dazuzugehören, nicht aufzufallen. Sie fuhr regelmäßig runter nach Chinatown, um sich die neuesten gefälschten Designerhandtaschen zu besorgen. Zu Weihnachten hatte die mir mal ein Dooney-&-Bourke-Portemonnaie geschenkt. Ein andermal kaufte sie nachgemachte Coach-Schlüsselanhänger im Partnerlook für uns beide.“
Die ästhetische Herausforderung des 2018 im Original erschienenen und in den USA euphorisch aufgenommenen Romans liegt in der Gleichförmigkeit des hier geschilderten Winterschlafs. Alle Tage floaten, traumwandlerisch gehen die Szenen ohne Kapiteleinteilung ineinander über. So entsteht der Eindruck, „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ schwimme wie eine verankerte Jacht auf der Stelle. Die Fühllosigkeit der Depression wird zum Strukturelement, sie durchzieht Geschichte, Handlung, Figuren.
„Reva war wie die Tabletten, die ich schluckte. Sie verwandelte alles, sogar Hass, sogar Liebe, in Flusen, die ich mit einer Handbewegung beiseitewischen konnte. Genau das wollte ich – Gefühle wie vorbeiziehende Scheinwerfer, die etwas vage Bekanntes einen Augenblick lang beleuchteten, bevor sie wieder vergingen und mich im Dunkeln zurückließen.“
Moshfeghs „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ ist zwei Jahre vorm ersten Corona-Lockdown erschienen und nimmt die Handlungsarmut all jener Geschichten vorweg, die seitdem das Spannungsverhältnis zwischen Stillstand und Handlung ausloten. Hiert kann man sich noch einmal ansehen, wie es gelingt, vom Nichts zu berichten. Der Roman erfindet Therapiesitzungen, damit seine Figur wenigstens hin und wieder rauskommt. Rückblenden verlängern den Fortlauf in die vermeintlich ereignisreichere Vergangenheit. Sie zeigen ebenfalls, dass die Ursache von Depressionen grundsätzlich in zurückliegenden Ereignissen wurzelt.
Es gibt psychische Blackouts, die nicht erzählt, sondern nur anhand digitaler Spuren angedeutet werden. Wie in „American Psycho“ erscheinen einige Szenen als Wahnvorstellungen, als sexuelle Entgrenzungsphantasien eines überfluteten Bewusstseins, das an sich selbst und seiner Umgebung krankt. Irgendwann spricht Reva sichtlich beunruhigt über das Loma-Prieta-Erdbeben von 1989. Ihre Freundin entgegnet: „Wir sind hier in New York. Hier gibt es keine Erdbeben“, niemand müsste befürchten, unter Trümmern begraben zu werden.“ Sie irrt.
Am Ende ereignen sich die islamistischen Terroranschläge vom 11. September – und klar ist: Wer 2018 von 9/11 spricht, der denkt gegenwärtige Krisen, der denkt die Klima- und die Ressourcenkrise mit, all jene Herausforderungen, die längst existierten, als Moshfeghs Heldin ihr Jahr der Ruhe und Entspannung zelebrierte. So verbindet diese Geschichte des Stillstands dafür, dass sie vom Nichts berichtet, beeindruckend viel: Depression, Klimakrise und Kapitalismuskritik, in sprachlich berückender Schönheit, die es leichthin mit dem (auch im Original verwendeten) Umschlagsmotiv des französischen Malers Jacques-Louis David (1748–1825) aufnehmen kann.
Otessa Moshfegh: „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, aus dem Englischen von Anke Caroline Burger, Liebeskind, 320 Seiten, 22 Euro.