„Tigermilch“ erzählt von zwei Schülerinnen in Berlin, deren Leben aus Gelegenheitsprostitution, Alkoholräuschen, kaputten Familien, Knast und Pornosex besteht. Großes Debüt von Stefanie de Velasco.
„Die Müllermilch kippen wir ins Klo. Müllermilch ist für Kinder, wir trinken Tigermilch, und das geht so: Wir kippen ein bisschen Schulmilch, viel Maracujasaft und ordentlich Mariacron in den Müllermilchbecher. Jameelah rührt mit ihrem Finger alles zusammen, ganz lange Finger hat sie, voller Ringe, alle vom Pimpie geklaut.“ Zum Wohl!
Die beiden Berliner Schülerinnen Nini und Jameelah sind der Müllermilch entwachsen, dem süßen Saft aber weiterhin zugetan. Eigentlich wollen sie Mariacron-Erwachsene sein. Doch Mariacron pur, das ist zu hart.
In Stefanie de Velascos grandiosem Debütroman schlittern die beiden mit größtmöglicher Phantasie durch reizüberflutete Monate, die sich eben nur mit dieser ziemlich ekelig klingenden Tigermilch ertragen lassen. Kann schließlich nicht jeder eine Disney-Jugend mit Miley-Cyrus-Soundtrack haben. Bei den beiden Damen geht es ums Eingemachte: Post von der Ausländerbehörde, drohende Abschiebungen, Schwangerschaften, die „aus Versehen“ passieren. „Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa.“ Geld gibt es nur, wenn sich die beiden gelegentlich prostituieren. Sie reden und reimen sich ihr Leben schön, spielen wie Rapper beim Battle mit Worten; aus Kinder-, wird Rinderschokolade. Es gibt zwischendurch Momente der Leichtigkeit.
„Poesie oder poetisches Denken ist, finde ich, nichts, was aus sozialem Status heraus kommt. Das hat erstmal jeder. Und ich wollte es vor allem einer Figur geben, der das prinzipiell erstmal abgesprochen wird. ‚Verbesserung‘ tritt dann durch einen anderen Blick auf die Welt ein. Das heißt: wenn die soziale Realität, in der man beheimatet ist, eine dreckige ist, dann kann man sich sozusagen trotzdem auf die Schuhe spucken und die ein bisschen zum Glänzen bringen“, sagt Stefanie de Velasco im Interview.
„Nini und Jameelah machen sich die Welt halt so schön, wie bei ihnen eben nur geht. Daraus entsteht vielleicht auch das, was in dem Buch vielen so weh tut, dass man aus den Bildern, die Nini von der Welt hat, die ja zum Teil sehr illusionslos sind, herauslesen kann, wie schlecht es den beiden Mädchen in Wirklichkeit geht.“
Doch dann passiert eine Katastrophe: Nini und Jameelah werden Zeuginnen eines „Ehrenmordes“. Mit gelegentlichen Ohrfeigen von den Eltern wurden sie bislang fertig. Dass der Schulunterricht sie eher überfordert, dass sie möglicherweise durch die Ausländerbehörde auseinandergerissen werden, das war mit „Tigermilch“ zu ertragen. Doch dieser Mord macht den beiden begreiflich, dass sie ein Satellitenleben ohne Kontakt zur Außenwelt leben, dass es niemanden gibt, an den sie sich wenden können.
Dass der süße Vogel Jugend oft nur ein Rabe ist, hat bereits Benjamin Lebert in vielen seiner Romane gezeigt. Auch bei Helene Hegemann („Axolotl Roadkill“) besteht die Zeit des Heranwachsens aus deprimierenden Szenen. Wenn man weiter zurückgeht, beispielsweise zu Charles Bukowskis „Das Schlimmste kommt noch“ von 1982 gibt es Situationen wie diese: „Meine Mutter sprang hinter dem Busch hervor. ‚Henry, Henry, geh nicht nach Hause, geh nicht nach Hause – dein Vater will dich umbringen!‘ – ‚Wie stellt er sich das vor? Ich kann ihn jederzeit plätten.‘ – ‚Nein, er ist außer sich, Henry! Geh nicht nach Hause! Er bringt dich um! Ich warte hier schon seit Stunden auf Dich!‘ Die angstgeweiteten Augen meiner Mutter waren richtig schön. So groß und braun.“
Der autobiographische Roman von Bukowski spielt übrigens in den 1930er und 40er Jahren, ist aber auf bemerkenswerte Weise mit „Tigermilch“ von Stefanie de Velasco vergleichbar, die sagt: „Ich glaube, dass Jugend, egal ob in den 1920er Jahren oder den Nullerjahren, immer etwas Gemeinsames hat. Da steckt ein Prinzip hinter, das ist eine Zeit, die kehrt in der Form nie wieder, aus der kann man immense Kraft schöpfen, die kann aber auch gefährlich sein, weil da werden Weichen fürs Leben gestellt.“ Nun könnte man annehmen, dass Nini und Jameelah ein denkbar tristes Restleben vor sich haben; aber „Tigermilch“ lässt den beiden eine Chance. Wer aus der Kinderschokolade eine Rinderschokolade macht und aus einem Fruchtbecher Tigermilch mixen kann, kommt schon irgendwie durch.
Stefanie de Velasco: „Tigermilch“, KiWi, 286 Seiten, 16,99 Euro
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