Die Neuausgabe des Romans „Goldener Reiter“ lüftet ein düsteres Geheimnis. Die Geschichte eines Kindes, das die Depression seiner alleinerziehenden Mutter begleitet ist doch keine Erfindung: sondern autobiographisch. Eine Neulektüre, parallel zu William Styrons „Sturz in die Nacht“.
„Für die Lüge und das Verschweigen gab es verschiedene Gründe, und sie haben mit dem Thema zu tun: Scham.“ Mit diesen Worten begründet Michael Weins im Nachwort, warum er über zehn Jahre nicht erzählt hat, wovon sein Roman „Goldener Reiter“ tatsächlich handelt. Anfang der 2000er-Dekade erschien sein Buch bei Rowohlt, war danach lange vergriffen und kommt nun als erweiterte Neuausgabe beim kleinen Mairisch-Verlag heraus.
Wieso nicht wieder bei Rowohlt? „Eine sehr gute Frage, auf die ich als Autor keine rechte Antwort weiß“, sagt Michael Weins. „Vielleicht soviel: Mairisch als Verlag ist ein sehr schöner Ort, nicht überlaufen, herrliche, dunkle Kiesstrände in versteckten Buchten, durch bizarre Felsformationen abgeschirmt. Im Hinterland ein paar nicht zu hohe Berge mit Papageien und Papayas. Mildes Klima, nicht zu schwül, niemals zu kühl. Selbst Sonne im Schatten. Alles immer freundlich und paletti. Genau der richtige Ort, um sich dort mal ein, zwei, drei Jahrzehnte Urlaub zu gönnen.“
Mit Urlaub hat der „Goldene Reiter“ dagegen nichts zu tun. Es ist eine Geschichte, der ein großer Ruf vorauseilt und die mit dem simplen Satz „es riecht nach Zwiebeln im Haus“ beginnt, um auf den folgenden 200 Seiten Heim und Hölle gegeneinander auszutauschen. In schlicht-kindlichem Satzbau erzählt der achtjährige Jonas Fink hier vom krisenhaften Leben mit seiner manisch-depressiven Mutter, die „erst merkwürdig wird und dann verrückt und in die Irrenanstalt eingeliefert wird.“
Ein ganzes Buch im kurzen Satz, so beschrieben von Michael Weins im Interview. Es ist ein Satz, mit dem er sich seit Jahren beschäftigen muss. Der Hamburger Autor arbeitet hauptberuflich als Psychotherapeut, weshalb es 2002 nicht weiter auffiel, wie kenntnisreich er in „Goldener Reiter“ von einem kleinen Helden berichtete, dem das Kindsein unmöglich gemacht wird. Neugierigen Besuchern seiner Lesung sagte er, auf die klassische Frage, ob das alles biographisch sei: „Zu 26 Prozent.“ Damals kam er sich clever vor. „Aber ich habe gelogen, denn in Wirklichkeit sind es 89,2 Prozent.“ Nur konnte er nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken, auch, um seine Mutter zu schützen. – Im Buch ist Jonas‘ Vater tot, und der Junge scheint eine Lücke im Leben dieser Frau füllen zu müssen, die aus ebenso rätselhaften Gründen weinen oder lachen muss. Sie ist ihm peinlich, wenn sie im Wartezimmer des Kiefernorthopäden über einen Donald-Duck-Comic hysterisch kichert.
Er schämt sich, weil sie irgendwann einen Schlüsseldienst kommen lässt, weil sie glaubt, von Terroristen verfolgt zu werden. Irgendwann wird er die Polizei alarmieren und bitten, seine Mutter wegzubringen – sie landet in der Hamburger Nervenheilanstalt „Ochsenzoll“ und der Achtjährige zieht vorübergehende zu den Eltern eines Freundes. Er versucht zu vermitteln, wenn seine Mutter behauptet, die Oma sei „eine böse Frau, eine sehr, sehr böse Frau.“ – „Ist sie nicht.“ sagt er dann und verlässt den Raum, um irgendwo anders Kind zu sein. „Goldener Reiter“ erzählt nämlich eben nicht nur von Depressionen und Verfolgungswahn, von seltsamen Liebhabern und manischen Kaufeskapaden, sondern auch von scheinbar normalen Spielen im Hamburg der Achtziger Jahre.
Jonas geht fischen und begeistert sich für Hardrock. Er verliebt sich und experimentiert mit dem Chemiebaukasten. Es gibt Augenblicke der Ruhe, wenn er in der Hochhauswohnung seines Kumpels ausharrt, verdünnten Getränkesirup trinkt und sich wünscht, im Krankenhaus vertauscht worden zu sein. Doch fühlt er sich die ganze Zeit schwankend, immer wieder erzählt „Goldener Reiter“ von Flugzeugen und kleinen Tieren, vom Himmel und der Hölle, von den beiden Extremen, mit denen sich Jonas auseinandersetzen muss, ohne genau zu wissen, was das denn bedeutet, wenn jemand eine depressiv-niedergeschlagene oder eine manisch-euphorische Phase hat.
Wer dagegen „Sturz in die Nacht – Die Geschichte einer Depression“ von Pulitzer-Preisträger William Styron gelesen hat (12 Jahre vor „Goldener Reiter“ erschienen), der findet eben dort das Krankheitsbild nahezu identisch beschrieben (allerdings hat Michael Weins im Interview das Leiden der Mutter als schizophren, nicht als depressiv bezeichnet). Das ändert freilich nichts an der Qualität des Sytrontextes. William Styron erzählt von den dunkelsten Jahren seines Lebens, als er scheinbar grundlos seinen Lebensmut verlor und zwischen Niedergeschlagenheit, Verwirrung. Panik und Rastlosigkeit irrte. In diesem kurzen, nachwievor bei Ullstein als Hardcover erhältlichem Band seziert er die Krankheit auf eine Art und Weise, wie sie auch von Psychotherapeuten behandelt wird: Teile und herrsche.
Denn nur wenn man die einzelnen kleinen Beunruhigungen entschärft und (bestenfalls medikamentengestützt) die Angst als etwas Irrationales begreift, kann sie in den besten Fällen besiegt werden. William Styron hat gezeigt, dass der Nicht-Depressive selten verstehen kann, wie groß die Not des Kranken ist. Wer Krebs hat, kann sich ins Bett legen und auf Genesung warten. Doch der depressive Mensch nimmt einen Kampf gegen Windmühlen auf, es gibt keine körperlichen Mutationen. Dabei ist die Todesrate beachtlich. 15 Prozent der Menschen mit schweren Depressionen nehmen sich das Leben. Und auch wenn moderne Psychopharmaka die Suizidgedanken dämpfen und die flächendeckende Debatte über sogenannte „Burn-Outs“ anhält, kann vermutlich nur der depressive Mensch nachvollziehen, was es bedeutet, „grundlos mutlos“ zu sein.
Auf der vorletzten Seite des Nachworts schreibt Michael Weins: „60 Prozent aller Kinder psychisch kranker Eltern entwickeln im Laufe ihres Lebens ebenfalls eine psychische Störung. Innerhalb der Allgemeinbevölkerung sind es etwa 20 Prozent. Ich glaube, dass der Schlüssel zu psychischer Gesundheit vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen in Transparenz und Bindung liegt.“ Dieses golden schimmernde Buch ist also mehr als gute Literatur: Es ist auch Therapie, Sachbuch, Erfahrungsbericht, Expedition und Tagebuch eines Wahnsinns – bei dem nicht viel gereicht hätte, um auch den kleinen Jonas/Michael wahnsinnig werden zu lassen.
Michael Weins: „Goldener Reiter“, Mairisch, 208 Seiten, 19,90 Euro / William Styron: „Sturz in die Nacht“, 128 Seiten, 14 Euro
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