Das „Luhmann Handbuch“ archiviert nicht nur die Lebensleistung des Bielefelder Soziologen. Es listet auch alle bislang bekannten Beschimpfungen gegen Luhmanns Systemtheorie auf.
In einem 1973 geführten Interview für das WDR-Bildungsfernsehen „Philosophie heute“ wird Niklas Luhmann abschließend gefragt, welche Kritiker seiner Systemtheorie er am meisten fürchte. Der damals 45-jährige Soziologieprofessor schaut verschmitzt in die Kamera und antwortet: „Die Dummen.“ – Liegt auch in diesem Selbstbewusstsein der Grund, weshalb die Systemtheorie Niklas Luhmanns quer durch die Disziplinen argen Beschimpfungen ausgesetzt ist?
Da erfindet ein Verwaltungsjurist zur nüchternen Beschreibung der immer komplexer werden Gesellschaft in den 1960ern eine neue Terminologie, die beschreibt, wie die einzelnen Systeme unserer Gesellschaft funktionieren: Recht, Wirtschaft, Bildungswesen. Sie alle beobachten ihre Umwelt unter einem zweiwertigen Code. So interessiert es die Bank, zum Finanzsystem gehörend, überhaupt nicht, ob der Kunde schön, charakterfest, oder ein guter Athlet ist, sondern allein, ob er „besitzt oder nicht besitzt“. Klingt einfach.
Die Philosophie nannte diese Theorie reflexartig trivial und methodologisch unterbelichtet. Jürgen Habermas qualifizierte Luhmanns Überlegungen als herrschaftsstabilisierend und konservativ ab. Ideologien, moralische Sperren oder gar Gesellschaftskritik spielen in der Systemtheorie keine Rolle. Sie bediene sich eben nicht der „Attitüden des Besserwissens“, der Kritischen Theorie, rechtfertigt Luhmann.
„Man kann derartige Einwände bereits als Topos der Rezeption bezeichnen“, sagt Oliver Jahraus, einer der Herausgeber des „Luhmann Handbuchs“ (hier geht es zu einer Leseprobe). Germanist Jahraus und Soziologe Armin Nassehi, beide Professoren der Ludwig Maximilians Universität in München, haben sich mit ihren Teams zusammengetan, und in deutlicher Überschreitung des vom Verlag J. B. Metzler anvisierten Umfanges 104 Aufsätze zusammengestellt.
Dazu gehören Begriffserläuterungen, Bezüge von der Systemtheorie zu ihren Vordenkern wie Hegel und Heidegger und einzelne Texten über die wichtigsten Werke, vergleichbar mit den Artikeln in Kindlers Literaturlexikon. Dazu kommt ein 90-seitiger Versuch, die Luhmannrezeption von der Ethik bis zur Psychologie nachzuzeichnen.
Das Ganze ist derart umfangreich zusammengestellt, in Art der „genauen Buchführung“, die Luhmann auszeichnete, dass man sich verlieren kann. Literaturangaben führen weiter und vor allem tiefer ins Bergwerk Systemtheorie hinein, und wer sich ein paar Tage Zeit lässt wähnt sich irgendwann in Luhmanns berühmtem Zettelkasten, also dort, wo er seine Lektüre notiert, seine Gedanken entwickelt, seine komplette Wissenschaftskarriere gestaltetet hat.
Zirka 50 Monographien und über 500 Aufsätze hat Luhmanns bis zu seinem Tod im Jahr 1998 geschrieben. Nicht alle sind bereits veröffentlicht. Dauernd erscheinen Schriften aus dem Nachlass, zuletzt sowohl „Macht im System“ als auch „Kontingenz und Recht“ 2013 bei Suhrkamp.
„Dieses Handbuch führt Intellektualität vor, aber keinen Intellektuellen im klassischen Sinn.“ So steht es denn auch im Vorwort, wo die Herausgeber ihr Gemeinschaftswerk als „ein Manual, eine Toolbox, ein Begriffsregister“ beschreiben, um dann sehr zugänglich einzusteigen: mit Biografischem.
Peter Fuchs, erst studentische Hilfskraft, dann Ko-Autor beim Luhmannbuch „Reden und Schreiben“, erinnert sich, „jenes Aufleben, das sonst durch Nähe erzeugt wird, stieß ihm zu, wenn es um die Sache, also fast immer: um Hochabstraktionen ging“. Distanzbrüche (so nennt es Fuchs tatsächlich), tauchten allein dann auf, wenn Luhmann krank war, „und lange über die Krankheit und ihre Bewandnisse redete, wie es sonst nur Hypochonder tun“.
Johannes F. K. Schmidt zeichnet die Bedeutung des verzweigten Zettelkastensystems von Luhmann nach und bereitet auf den akademischen Teil des Handbuchs vor: Luhmann und Husserl, Luhmann und Parsons, Luhmann und die Organisationssoziologie et cetera.
Schwierig ist es, sich zu orientieren, zumal aus Platzgründen ein Index eingespart wurde. Man blättert vor und zurück, springt zwischen Begriffen, Theorieentwürfen, da steht ein Aufsatz zu Jacques Derrida, dann ist man schon bei der Genderforschung und fragt sich, zurückblätternd, wie es die Systemtheorie nochmal mit der Kontingenz gehalten hat.
„Luhmann leicht gemacht“, so heisst ein inzwischen in 3. Auflage erschienenes Lehrbuch aus dem Böhlau-Verlag, das am eigenen Titel scheitert, weil die Komplexität der Theorie, ihre umfassende Terminologie zu Luhmann gehören wie der binäre Code „glauben/nicht glauben“ zum System der Religion. Man kann, auch das zeigt dieses Handbuch mal wieder, nur ganz und gar aufgehen in dieser Systemtheorie – oder man scheitert mit dem Halbverstandenen.
Es gab schon etliche Versuche, die Systemtheorie zu sortieren, am besten gelungen in dem ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichten „GLU“, Abkürzung für „Glossar Luhmann“, das mit internen Verweisen arbeitet, also den Zettelkasten nachzubauen sucht. Es gibt ein zwischen Lehrbuch und Begriffssammlung schwankendes „Luhmann-Lexikon“ von Detlef Krause und ein schönes Netzprojekt aus der Schweiz. Zudem versuchen sich einzelne Disziplinen immer wieder an der Gewinnung der Systemtheorie, wie 2011 der von Niels Werber herausgegebene Sammelband „Systemtheoretische Literaturwissenschaft: Begriffe, Methoden, Anwendungen“ bei de Gruyter.
Das Handbuch von Jahraus und Nassehi steht irgendwo dazwischen. Es ist ein Nachschlagewerk, eine Huldigung, ein Zettelkasten und eine Diskursmaschine – obwohl der vermutlich interessanteste Teil, die Gruppe „Diskussionen“ mit 21 Seiten sehr knapp geraten ist. – Für Anfänger ist dieses Handbuch eher nicht geeignet. Da beginnt man besser mit Luhmanns Vorlesungen zur „Einführung in der Systemtheorie“ (im Carl-Auer Verlag). Wer sich immer wieder mal mit Luhmann beschäftigt, wird dagegen seine reine Freude haben. Langeweile kommt selten auf, die Pointen sind gut gesetzt, ironische Spitzen erlaubt. Für die Wissenschaft ist der Band ein Standardwerk. Es wird mit den Jahren, wenn Luhmanns Nachlass weiterhin ausgewertet in Tiefe, Höhe, Breite wachsen. Vielleicht spendiert der Verlag dann einen Index? Diesem gewaltigen Buch sei Ordnung gegönnt. Nicht nur für „die Dummen“.
Oliver Jahraus/Armin Nassehi u.a. (Hrsg.) „Luhmann Handbuch: Leben, Werk, Wirkung“, J.B. Metzler, 480 Seiten, 59,95 Euro
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[…] Vielfalt Herr werden: Es sind immer die Differenzen, die Kommunikation schaffen (da bleibe ich auf Niklas Luhmanns Seite), weshalb es besonders schön ist, wenn neben Amazon, über das gerade trotz Rekorddefizits […]
[…] Armin Nassehi analysiert mit Edmund Husserl die Zeit des Tatorts, seiner Ansicht nach „das Material selbst, das Movens, das Medium, das aus dem Zuschauer, der in Erwartung der Aufklärung lebt, einen aufgeklärten Zuschauer macht. Wie Aufklärungsprozesse eben stets Prozesse sind, ist das Medium des Tatorts damit gerade nicht der Tatort, sondern die Aufklärungszeit.“ (204) „Das Schöne am Tatort ist, dass man sich auf die 90 Minuten konzentrieren kann, weil ein Fall 90 Minuten dauert, der Rahmen aber eine andere Zeitstruktur hat.“ (205) Eine Anspielung auf “Systemtheorie und Literatur” (1990) von Dietrich Schwanitz („Der Campus“)? Laut Schwanitz will der Detektiv den Mord lösen, während ihn der Autor immerzu hindert. […]
[…] „Luhmann Handbuch: Leben – Werk – Wirkung” (Rezension) In (25.3.): […]