Loretta ist zarte 25 Jahre jung, eine Kindfrau, die ziellos durch die Berliner Großstadt irrt, vor Weidenkätzchen niederkniet und blonde Mädels und blonde Buben miteinander verkuppeln will.
„Ach, Lo-Baby“, sagt der fürsorgliche Malte zu seiner Freundin, „klein, blond und problematisch“. Die Heldin in Julia Zanges Rührstück „Die Anstalt der besseren Mädchen“ ist ein blasses, heillos überzüchtetes Edelgewächs. Wenn ihr Medizinerfreund keinen To-Do-Zettel auf Lorettas Nachttischchen legt, weiß die Kleine nicht, wie sie den Tag verbringen soll. Es ist zum Heulen. Deshalb schreibt er: „Platz eins: sich um einen Therapieplatz kümmern, Platz zwei: die Bücher in die Bibliothek zurückbringen, Platz drei: sich einen Sport aussuchen und anmelden.“ Bevor Loretta, Lore, das Lo-Baby (oder einfach nur: „Lolita“, wer sonst?) loslegt, dichtet sie Kleinherzchenhaftes fürs Poesiealbum: „Mit Lindenschäumen und Blasen aus Flieder drückt dich Nacht in den Nacken wieder schnell säumen die Bilder nieder die Stränge.“ Und so weiter.
Während ihre Umwelt, wie bei fast allen Menschen von Mitte Zwanzig, aus Mode (American Apparel), Musik (Metallica) und Sex (Stichwort: Weidenkätzchen, Kätzchen überhaupt) besteht, ist dieses Über-Girlie gestaltlos gefangen in einem schlichten Kokon. Diese Frau ist kein Mensch. Sie hat ein Porzellangesicht. Sie schwebt scheinbar, die ganze Zeit. Loretta ist begeistert von kleinen Punks, von kleinen Intellektuellen, von blonden Kindern, also von Miniaturausgaben der Wirklichkeit. Passenderweise mag sie Krankenhaushygiene am liebsten. Die ist ähnlich übersichtlich. „Wenn es ein Leben gäbe, wäre ich gern dabei.“ Leiden auf hohem Niveau. Die Prinzessin auf der Erbse im Jahr 2008.
Loretta findet einen Therapieplatz, kein Problem, bei den Neurosen. Sie lernt stricken, wird später schwanger, haut dann mit dem Baby ab und landet in einer obskuren Kommune, wo ein verschworener Kreis einsamer Frauen gemeinsam arbeitet, die gemeinsamen Kinder und manchmal auch sexuellen Gelüste stillen: „Ich bin mit den Mädchen da drüben untergebracht, das ist eine alte Porzellanwerkstatt und eine Weberei. Ein Projekt für arbeitslose, junge Frauen und andere weibliche Problemfälle, sozusagen Vorzeigeprojekt der Agentur für Arbeit.“
Sonntags steht der Kirchgang an. Werktags wird Porzellan gebrannt. Passt zum Lolita-Antlitz Lo-Baby-Lorettas. Man könnte schmachten. Man denkt wie die Heldin an den empfindsamen Maler Vermeer. Zuckersüß. Auf den ersten Blick ist diese Geschichte wunderschön. Auf den zweiten Blick ist seine Handlung überaus krude. Auf den dritten Blick bleibt atemloses Erstaunen über Julia Zanges Talent. Tatsächlich schafft sie ein Text-Vakuum, in dem jeder Schrei sofort verhallt, in dem niemand mehr laut atmen kann, in dem alle eingeschlossen sind in ihren verdammten Ich-Gefängnissen.
Das ist schwierig, mit Worten einfach mal nichts zu beschreiben, obwohl sie doch immer etwas aussagen müssen. Dann gibt es viele Gedichte, die einen respektablen Erstlingsband im Albert-Ostermaier-Style ergeben hätte. Zuletzt beeindruckt der Bauplan. Auf der einen Seite gibt es Lore, die reine Natur, die vielen Bäume, Büsche und Blumen ringsherum und auf der anderen das verwirrende Kultur-Ding, mit Chirurgie, Calvin Klein und RTL. In dieser Hipness-Welt, die erwachsene Frauen als kleine Mädchen, Kleidung nur als Haute Couture begehrt, ist sogar Lorettas Baby ein Fremdkörper.
„Am liebsten würde sie das Baby ertränken, damit Malte wütend auf sie wäre.“ Das Kind ist die Wiederholung von Maltes Blick auf seine Freundin, auf diese junge Frau, die sich eingeschlossen fühlt und Erleichterung verspürt, als ihr das Kind in der Weberei abgenommen wird: „Langsam klären sich ihre Gedanken, und ihre Brüste schmerzen weniger von den gierigen Bissen des Babys.“ Das ist barbarisch. So denkt (bitte) keine Mami. – Oder doch?
Zu Beginn des Buchs erzählt der Text von „Doppelkindchen“. Diese Kinder sind besonders infantil, weil ihre Mütter bereits „ein absolutes Kind im Gesicht und im Geist“ sind. Wenn diese Mütter dann ein Baby bekommen (wie Loretta ihres), so übertragen sich die kindlichen Züge doppelt. „Diese Mädchen sind die potentiellen Verführerinnen, werden oft nicht älter als 25 Jahre, weil sie an Selbstverführung zugrunde gehen.“ Das kennt man vom mythischen Beau Narziss, der so lange im Wasser stand, um sein eigenes Spiegelbild anzuschmachten, bis er, sich selbst innig begehrend, den See hinabtauchte und ertrank. Julia Zange lässt offen, ob Loretta oder erst ihr Baby ein „Doppelkindchen“ ist. Aber klar scheint, dass die junge Frau einen schmalen Grat wagt und kurz vorm Selbstmord steht.
Hier kippt alles, die ganze Zeit, ist surreal, schief, wirkt wie Alfred Kubins Bühnenbild des Schwarzweiß-Klassikers „Das Kabinett des Dr. Caligari“. Es kommt nicht weniger umheimlich daher. Julia Zange wurde 1983 in Darmstadt geboren und sieht selbst wie ein „Doppelkindchen“ aus. 2006 gewann sie den ersten Preis beim Berliner Open Mike-Wettbewerb. Heute lebt sie in Berlin und studiert dort Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Im Gegensatz zu Loretta muss man sich um Julia keine Sorgen machen – wer so anheimelnd schreiben kann, der kommt durch kälteste Zeiten. Interessantes Debüt.
Julia Zange: „Die Anstalt der besseren Mädchen“, Suhrkamp, 160 Seiten, 15 Euro