Mittwoch, 27.02.2008 Autoren wie Nick Hornby kriegen kiloweise Fanpost. Mir schicken Verlage dagegen zentnerschwere Buchpakete. Gut. Ich lese, um darüber zu schreiben und damit das, was ich schreibe, wiederum gelesen wird. Oder ich sage es im Radio. Die Welt ist ein Kreislauf. Mein Postbote (ich sage „mein“ Postbote, obwohl auch andere Parteien im Haus Kataloge, Rechnungen, Sendungen in „neutralen Umschlägen“ usw. bekommen), mein Postbote legt die Bücher inzwischen vor meine Wohnungstür. „Ist einfacher.“ Sagt er. Manchmal schellt mein Postbote an und gibt mir die Päckchen direkt in die Hand. Ich wohne Parterre. Meine Klingel schalte ich vormittags ab. Ich lese nachts und schlafe gern bis zirka 12 Uhr am Mittag. Deshalb hört man mich im Radio nur, wenn es dunkel und spät ist. Morgenprogramme liegen mir nicht.
Ich finde Nächte toller. Dann ist mehr Ruhe, und wenn mein Schlafrythmus total aus den Fugen geraten ist, zum Beispiel sonntags, lasse ich mich gern von Klaus Fiehes Sendung wecken. Das ist zum frühstücken wunderbar. Man kommt viel sanfter rein, in alles, in den Tag. Mein Postbote weiß, dass er an mein Fenster klopfen kann, wenn die Klingel abgestellt ist (Parterre). Mein Postbote vergisst leider, dass ich ihn immer wieder bitte, genau das zu unterlassen. Ich bin ein schreckhafter Mensch. Es gibt Tage, an denen klopft mich mein postgelber Weckdienst aus dem Bett und sagt grinsend: „Hey Jan, habe ich dich geweckt?“ Wir duzen uns. Ich glaube, mein Postbote findet es lustig, mich mit Vornamen anzureden, weil er den von den Adressfeldern kennt. Selbstverständlich hat er sich mir nie vorgestellt. Anyway.
Was hat das mit der lit.Cologne zu tun? – In den letzten drei Wochen hat mein Postbote fast jeden Morgen ans Fenster geklopft. Ich bin jetzt sehr müde. Viele Bücher liegen hier rum. Es sind Romane (fast) aller Autoren, die vom 29. Februar bis 9. März in Köln lesen werden, auf dem 8. Internationalen Literaturfestival lit.Cologne. Ich habe versucht, alle Bücher zu lesen. Klappt nicht komplett, aber fast. – Für Euch werde ich berichten: über Charlotte Roches „Feuchtgebiete“, über „Waffenwetter“-Romane und über alkoholkranke Ex-Chirurgen, über Hartz-IV-Menschen, die ihr letztes Geld zur Rennbahn tragen, über alles, was in Geschichten und in echt passieren wird, zehn Tage lang, ab Freitagmorgen, nah am Dom. Ich bin 28 und komme aus Wuppertal und auf dem Foto (links), das bin ich auch. Hiermit stelle ich mich vor.
Ihr könnt mir schreiben, Kommentare zum Beispiel. Ich schreibe auch zurück. Ganz sicher und manchmal auch recht schnell. Denn zur lit.Cologne werde ich früh aufstehen, sechs Uhr. So habe ich mir das vorgenommen. Wenn ich wüsste, wo mein Postbote wohnt, würde ich auf dem Weg zum Bahnhof bei ihm vorbeischauen, zum „Morgen“-sagen. Es ist wichtig, dass man Träume hat. Manche sagen: „Literatur ist wie träumen“. Mich hat Paulo Coelho nie interessiert. In Helge Schneiders neuem Roman „Eine Liebe im Sechsachteltakt“ (KiWi) steht: „Draußen schloss er sein Bike auf und trat in die Pedale. Bis New Jersey war es weit, aber da wollte er ja nicht hin.“ Oder um es mit Peter Licht zu sagen, der auch bei der lit.Cologne lesen wird: „Dann werden wir eben siegen.“ Kommt einfach mit. Ich freue mich auf euch. (18:04 Uhr)
Donnerstag, 28.02.2008: An Honest Mistake
„Schlagfertigkeit ist das, was einem auf dem Heimweg einfällt“ Ich bin nicht Winston Churchill, wollte ich nie sein, denn dann wäre ich längst tot. Churchill galt als schlagfertig. Fast jeder Reader’s-Digest-Artikel über „Schlagfertigkeit“ steigt mit Churchill ein. Goethe hat einmal gesagt: „Zur rechten Zeit fällt einem nie was ein, und was man Gutes denkt, kommt meistens hintendrein.“ Zitate helfen über Blackout-Fallen, sind Brücken, manchmal auch Blogeintragseinstiege. Hin und wieder fallen mir ungute Antwortsätze ein: „Eigentlich habe ich nichts gegen dich, nur persönlich…“ Ein Zitat, anstelle dieses Gedankenblitzes, dieses verbalen Blindtextes, hätte anschließende Diskussionen verhindern können. Man muss nicht alles sagen. Auch nicht, wenn man es gerade denkt. Das neue Buch von Heinz Strunk heißt übrigens „Die Zunge Europas“ und erscheint im Oktober bei Rowohlt. Als ich vorhin im Radio die lit.COLOGNE-Lesung des „Fleisch ist mein Gemüse-“ Autors ankündigte, ach was, ANPRIES, dachte ich en passant: „Ist der Titel des neuen Heinz-Strunk-Buchs schon raus?“ Und sagte: „Der Titel ist nicht bekannt. „Wollte damit sagen: “ …ist MIR nicht bekannt.“ Ich werde bis Oktober „Die Zunge Europas“auswendiglernen, also den Titel. Ist kein Akt, ich weiß, es gibt keine Werbung mit dem Buch, auch keinen wikipedia-Eintrag. Aber in der Rowohlt-Verlagsvorschau steht es.
Da wir immer einen Schuldigen suchen: “ 9/11, Egon Krenz, Egon Krenz und HipHop-Bands“(Kettcar). An diesem Versprecher, „nicht bekannt“, ist „Element Of Crime“-Sänger Sven Regener schuld. Der hat einen neuen Frank-Lehmann-Roman geschrieben, will aber nicht verraten, wie der heißt. Ich habe wochenlang versucht, wenigstens eine Zeile des neuen Textes lesen zu können. Keine Chance. So was prägt. Ich warte ungern, auch wenn es in diesem Fall lediglich bis zum 6. März ist, wenn Sven Regener im Theater am Tanzbrunnen liest. Ich denke ständig daran, dass es etwas gibt, was ich nicht weiß, aber eben gerne wissen würde. Inzwischen glaube ich, darüber vergesse ich alles Andere. – Jetzt sitze ich in der Regionalbahn von Köln nach Wuppertal und weiß: „Schlagfertigkeit ist das, was einem auf dem Heinweg einfällt… oder der Titel des neuen Heinz-Strunk-Buchs, wenn man gerade im Internet surft.“ Die Zunge Europas. Die Zunge Europas. Auf dem Cover ist übrigens ein Kabinenroller. (23:59 Uhr)
Freitag, 29.02.2008: Sommertag
„Den ganzen Unsinn werde ich nie verstehen, da hilft nur einatmen und vorwärtsgehen, es ist ganz einfach, es ist ganz einfach!“ (Gisbert zu Knyphausen – SOMMERTAG) In 1LIVE werden Popstars, Soapsternchen und DJ-Nachthelden geduzt. Auf WDR 3 werden die gleichen Menschen (und auch alle anderen) freilich gesiezt. Ich habe genau ein Jahr, von der letzten lit.Cologne bis zur aktuellen, als Schamüberwindungszeit in den Sektor ziehen lassen müssen, bis ich mich vor drei Tagen durchrang, endlich, endlich einen Schriftsteller zu duzen. (Ich wurde häufiger daran erinnert. Dieses verdammte „Sie“). – Es war Dietmar Dath, der sich somit ankumpeln lassen musste. Dath gehört zur alten Popschule, war Spex-Chefredakteur von 1998-2000, dann bis 2007 Redakteur im FAZ-Feuilleton, er ist Verschwörungstheoriensammler, Diedrich-Diederichsen-Überholer, und er rockt gerade mit dem genialen Roman „Waffenwetter“ usw. Dietmar Dath eröffnete heute, zusammen mit Andreas Platthaus, „1LIVE – Lesen auf Rädern“ die tägliche Lesereihe in unserem schönen Doppeldecker.
Ich schrieb via Email: „Lieber Dietmar, ich wage das Du in der Hoffnung, Dich damit nicht zu verärgern. Du hast einen großartigen Roman geschrieben, ich habe Waffenwetter verschlungen und würde das gerne beim WDR-Radiosender 1LIVE auch sagen, im Rahmen der lit.Cologne-Berichterstattung. Können wir uns am Freitag (vormittags?) in Köln treffen, zwecks Interview, O-Ton-Aufnahme etc.? Das wäre großartig. Ich freue mich auf Deine Antwort, Jan“ – Danach hörte ich: nichts. „Du kannst doch Dietmar Dath nicht duzen!“ schimpfte ein Freund am Telefon, dem ich von meinem Dilemma berichtete. Ich war verzweifelt. Ein bisschen überfordert. Ich dachte an Gisbert zu Knyphausen. „Den ganzen Unsinn werde ich nie verstehen…“ Ich melde mich klagend an die immerfreundliche Suhrkamp-Pressestelle, wieder via Email:
„liebe frau büscher, herr dath hat sich leider nicht gemeldet, ich hoffe, er ist nicht verärgert, weil ich ihn geduzt habe, in der mail: wie es spex-pop-menschen eigentlich unter androhung ewigen beleidigt-seins immerfort fordern, wie es in waffenwetter gar thematisiert wird. despektierlich war es jedenfalls nicht gemeint. glauben sie, die chancen stehen gut, dass ich morgen für 1live mit dem autor reden kann? herzliche grüße, jan drees“ – Dann wartete ich erneut und hörte: nichts. Ich las meine Mail noch einmal und mir fiel auf, dass ich keine Großbuchstaben verwendet hatte. Das ist nicht Suhrkamp-äquivalent. Also rief ich Frau Büscher an. Sie lachte. Alles gut. Herrn Dath erreicht man immer schlecht. Er reist viel. „Ich denke nicht, dass das Du ein Problem darstellt“, sagte Frau Büscher. Ich war mir nicht sicher und beschloss, Dietmar Dath vor der heutigen Lesung, direkt am Bus, abzufangen. – Er war dann auch pünktlich vor Ort, mit Andreas Platthaus. Ich ging auf ihn zu und versuchte, einen Satz zu formulieren, der förmlich, duzend, das Problem und die evtl. notwendige Entschuldigung catchen würde. Wahrscheinlich habe ich ein bisschen gestammelt und Dietmar Dath sagte, eine, wie man sagt „wegwerfende Handbewegung“ beschreibend: „Ach, das ist, nein, unwichtig.“ Vor seiner Lesung, die heute um 18 Uhr im Kölnischen Kunstverein starten wird (die beiden lesen den kompletten „Waffenwetter“-Roman), werden Dietmar und ich einen Kaffee trinken. – „Es ist ganz einfach, es ist ganz einfach, das Leben leben!“ (15:28 Uhr)
Party Like Us (Udachi Remix)
Als mir die Techniker vom Radio vor zwei Tagen dieses Siemens-Notebook mit UMTS-Flatrate-Karte in die Hand drückten, damit ich von ÜBERALL bloggen kann, sagte ich: „Leute, muss das? UMTS? Ich mein, ich blogge ja nicht aus einem Krieg oder so. “ – „Nimm schon!“ Man hielt mir einen Rucksack – Arme dabei gestreckt – vor meine raucherschmale No-Sports-Brust. Es war nicht dieses „Nimm schon!“ das man hört, wenn Karamellbonbons in einer Glasschale gereicht werden. Ich nahm. Also: der 1. Tag lit.COLOGNE ist gleich rum, Dietmar Dath und Andreas Platthaus lesen noch bis 3 Uhr nachts an „Waffenwetter“ und ich habe das Gefühl, auch wenn Oma jetzt SCHARF protestieren wird: „Ich blogge DOCH aus einem Krieg.“ Jede Zigarette könnte die letzte sein. Beim Von-Ort-zu-Ort-Hetzen bin ich heute beinahe von einer Straßenbahn erfasst, von einem orangefarbenen Ford-Irgendwas an der GRÜNEN Ampel überrollt, von mindestens drei querulanten Fahrradkurieren knapp geschnitten worden.
Als ich vorhin im Dunkeln zur S-Bahn-Station spazierte, kamen mir zwei bissig ausschauende Hartz-IV-Köter entgegengehastet. Ich hatte die lit.Cologne-Jutetasche in der linken Hand, randvoll mit Büchern des Tage und mein erster Kampfgedanke war: „Kommt nur näher – ich erschlag‘ euch mit meiner Literatur.“ – Tatsächlich bin ich es, der von der Literatur gerade erschlagen wird. Auf dem Zettel für morgen steht: „Wechselhemden einpacken!“ Meine Sneaker schauen aus, als wäre ich mit ihnen nicht bloß durch Pfützen, sondern über ein mittelalterliches Schlachtfeld gegangen. Im Kunstverein, bei der „Waffenwetter“-Veranstaltung habe ich im Rausgehen hastig ein KitKat, einen Kaffee und eine Wasserflasche vom Verpflegungsstand draußen geschnappt, wie ein verdammter Marathonläufer an Kilometer 35. – Wer sagt, in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unsrigen müsste man niemals hungern oder Durst erleiden, der rannte nie,14 Stunden lang mit UMTS-Laptop, Rucksack, Romanen, Mikrofontasche, Kabelsalat durchs verregnete Schalttags-Köln. Ich glaube, gleich schaue ich mir irgendeinen Film auf DVD an, zum Beispiel „Der Swimmingpool“ mit Alain Delon, als Vorbereitung für den morgigen Tag. Was das mit der lit.COLOGNE zu tun hat? Dazu später mehr… (22:27 Uhr)
Samstag, 01.03.2008: Das achte Mal – Reprise
Seit ich um sechs Uhr morgens aufstehe, für die lit.COLOGNE, kann mich mein Postbote nicht mehr wecken. Abends fand ich dann diesen Zettel im Briefkasten: Auf der (hier im Scan durchschimmernden) Rückseite steht übrigens die Standardbenachrichtigung, mit Sendungsnummernfeld, Stempel usw. Ich habe am Schriftbild übrigens nichts verändert, die Durchstreichungen stammen nicht von mir. Schön auch: die fliehenden Buchstaben beim Wort „Express“. (12:30 Uhr )
Sonntag, 02.03.2008: des Visages des Figures
Der „Heartcore-„Autor Albert Ostermaier sieht (aus der vorletzten Reihe betrachtet) ein bisschen aus wie Jayson Tyler Brûlé, er kann besser bahnfahren als Uwe Timm und die alte Adidas-Jacke von Moderator Mike Litt ist einen Überfall wert. Das sind drei kleine Erkenntnisse, die ich aus dem Arkadas-Theater mitnehmen werde. Der wunderbare Schriftsteller Albert Ostermaier las anderthalb Stunden lang aus seinem Debütroman „Zephyr“. – „Zephyr“ ist der Name eines Pariser Lokals, in dem das Liebespaar Bertrand Cantat (Sänger der französischen Band „Noir Désir“) und Schauspielerin Marie Trintignant Austern gegessen haben, bevor der Musiker seine heiße Geliebte oder auch Heißgeliebte im fernen Vilnius aus Eifersucht erschlug. Und der Zephyr ist zugleich ein Westwind, ich zitiere vom Roman Seite 220: „Hörst du mir zu? Ich höre dich schon wieder kaum atmen. Zephyros heißt ursprünglich; aus dem Land der Finsternis. Es ist der Wind, der aus der Nacht kommt. Er ist blond, goldhaarig und der Vater des Eros, und es zog ihn zu allem Schönen hin, auch zu dem schönsten Jüngling, Hyakinthos. Zeus, der die guten Winde schickt, schickt auch den Atem des Todes.“
Der funkelnde Roman erzählt die Geschichte eines Drehbuchautors, der Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten kann. Er fährt, in solchen Fällen eine schlechte Idee, an die Côte d`Azur, um seinen ersten Roman zu schreiben. Das Thema: Bertrand Cantat, und seine fatale, tödlich geendete Liebe zu Marie Trintignant. Großes Thema, erstaunlich wenig Musik, kaum Pop, absolut lesbar, ein bisschen wirr, Gefühl, Gefühl, Gefühl und schöne Streitsätze vom Kaliber: „Wenn du so gut im Bett wärst wie in der Küche, hätten wir kein Problem.“ – Es war kein Zephyr, sondern Orkan „Emma“, der die Veranstaltung beinahe verhindert hätte. Albert kam aus München und sogar an, im Gegensatz zu Kollege Uwe Timm, der nicht zur Lesung mit Christof Hamann erscheinen konnte. Randnotiz. Ich möchte nicht zu viel über den Roman erzählen. Albert kopiert sich, seine Gedichte an vielen Stellen, was nicht das Schlechteste ist. Aber Blutvoll. Aber Manisch. Fettgedruckte Liebesbezeugungen usw.
Albert saß also mit schwarzem Schal und schwarzem Oberteil sogleich als Klischeebild und dessen Widersprechung im Theater. Der Mann ist für einen Lyriker eigentlich viel zu schön; soweit ich das beurteilen kann, die Schönheit eines Mannes. Er erinnert mit seiner kurzen, kein bisschen geheimratseckigen Shortcut-Frisur an Jayson Tyler Brûlé, Gründer des Style-Magazins „Wallpaper“. Und über den wird immer wieder gesagt, er sei so schön, der „schönste Mann im Mediengeschäft“. – Wer sowas schreibt, hat am heutigen Abend nicht Mike Litt in seiner schwarzen Adidas-Trainingsjacke gesehen. Ich glaube, eine riesige Stoppuhr war auf dieser abgebildet und es war spannend zu sehen, wie die beiden Jungs miteinander korrespondierten, auf der Bühne. Der Mann mit der Stoppuhr und der Mann mit dem schwarzen Schal. (Jetzt im Nachhinein bin ich mir nicht mehr sicher, ob es TATSÄCHLICH ein Schal, oder eher ein ungünstig ausgeleuchteter Schatten war.)
Sie verstanden sich prächtig, die Protagonisten dieses Abends. Mike zeigt jede Woche in 1LIVE-Klubbing, Eindruck „Trainingsjacke“ hin oder her, dass er ein „ausgewiesener Literaturexperte“ ist (und damit gebe ich sein gestriges Kompliment im Studio an ihn zurück). Albert steht für die Deutsche Fußballnationalmannschaft der Schriftsteller im Tor. Und weil Mike und Albert Pop und Highbrow verbinden können, war die Konfrontation mit dem überwiegend weiblichen Literatur-Gernhab-Publikum beste Unterhaltung. – Mike und Albert unterhielten sich, unter anderem, über die „Absolutheit der Liebe“ . Albert verteidigte die teilweise kitschige Sprache des Romans, die erst einmal verwundert, weil jede Liebe ihre einzigartige Sprache sucht und schnell gefunden haben will und ausgerechnet ein Schriftsteller seines Schlags greift zum frei Herumliegenden? Aber „Zephyr“ spielt mit den Bildern, die jeder glaubt, von der eigenen Liebe zu haben und den Blicken, die von außen darauf geworfen werden und DAS macht es wieder zu echter, neuer, schöner Literatur. Endet hier… (01:02 Uhr)
Sonntag, 02.03.2008: Trash (South Central RMX)
Der letzte Blogeintrag brach ab, weil ich wie ein kapitalismuserweckter Mittelstands-Chinese an meinem Laptop einschlief. Nachtrag: Das lit.Cologne-Festivalcafé ist im Schokoladenmuseum untergebracht. Dunkle Starbuckstische, Rheinausblick ohne Erhabenheitsgefahr, dafür kölsch-nette, gutlaunige, coole Kellner. Wie auf allen Kirmesplätzen, so zahlt man auch diesem das angebotene Rummelvergnügen mit Chips, mit Wertmarken. Ich kaufte am Eingang Chips für 10 Euro und dachte, gut durch den Abend kommen zu können, irgendein Verlegermagnat würde mich bestimmt auf eine erfrischende Brause einladen. Ich bin nicht bestechlich. Ich lasse mich grundsätzlich nur bis zum Betrag von 5 Euro einladen. Aber es gibt viele Verleger in Deutschland. Es lebe die Buchpreisbindung. Nachdem ich an der Theke die Speisekarte gesehen hatte, ging ich mit den Worten „kann ja niemand ahnen, dass ausgerechnet in einem Schokoladenmuseum die Preise gesalzen sind“, zum Eingang zurück und legte noch einmal 10 Euro auf den Tisch. Das reichte für einmal Penne mit Safranstroh, Spinat-Putenbrusttunke, Feigensenfklecks am Tiefer-Teller-Rand.
Roger Willemsen, den ich weiterhin für seinen charmanten Liebesroman „Kleine Lichter“ verehre, stand am Stehtisch, aß… (fast hätte ich es geschrieben, aber eigentlich ist es egal, was Roger Willemsen gegessen hat.) Albert Ostermaier und KiWi-Verleger Helge Malchow waren da, Schauspieler Joachim Król, und viele Menschen, die ich nicht kannte. – Ich setzte mich mittig an einen kleinen Tisch, löffelte meine hervorragenden Penne, die vier Minuten, bevor sie abgegossen worden waren, vermutlich den Zustand „al dente“ erreicht gehabt hatten. Ich las „Der Psalmenstreit“ von Maarten t`Hart. Ich schaute immer wieder hoch, den nahenden Exzess witternd.
Der Exzess ist eine schöne Sache. Ich habe mir von Peter-André Alt im aktuellen Merkur davon erzählen lassen. Dieser glänzende Essay beginnt auf Seite 112 mit dem Satz: „Der Ursprung des Exzesses ist die Ungeduld.“ Ich war zwar ungeduldig – meine letzte Bahn Richtung Wuppertal sollte bald abfahren – aber der Exzess erbarmte sich meiner nicht. Niemand tanzte auf den Tischen. Keiner rezitierte zotige Tafelreden. – Gab es Autoren, die zugedröhnt vom Herren-, oder grinsend wie Bukowski vom Damenklo wankten? Nein! Was ist eine „Quiche vom Gazpacho-Gemüse?“ Wenn der Teller so heiß wie das darin servierte Essen ist – hat die Küche dann eine Wärmeschublade oder einfach eine Mikrowelle? Darf man im Raucherbereich rauchen, wenn nebenan gegessen wird?
Fragen wie diese gingen mir durch den Kopf, als ich, am schimmernden Rhein zurückflanierte, eine kämmende Loreley phantasierend, dabei, mit Bierdurst, den ich nicht zu stillen getraute (6 Uhr aufstehen!), bevor ich, im Zug zurück, den Epilog von Stefan Wimmers „Der König von Mexiko“ (Eichborn-Verlag) las: „In der nächsten Ausgabe:/Hoffnung – Wo ist sie zu finden?/Warum küssen sie den Blarney-Stein?/Was ist von Tanzpartys in Klubs zu halten?/Dein Wille geschehe – Aber wann? (Erwachet, 8. April 2004).“ (10:55 Uhr)
It’s Magnetic (Assembly Now)
Ich bin heute um 14 Uhr in die Kirche gegangen, um meine aufgeriebene lit.COLOGNE-Seele zu besänftigen. Der holländische Schriftsteller Maarten’t Hart (das Apostroph ist richtig gesetzt!) las in der Kulturkirche aus seinem mal wieder wunderbaren Roman „Der Psalmenstreit“. Es gab Bier, ein volles Haus, Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster leuchtete und einen fast sakral anmutenden Nachmittag. Der Psalmenstreit erzählt, als historischer Roman, von einem tatsächlich stattgefundenen Aufstand im Holland des 18. Jahrhunderts. Er spielt in Maarten ‚t Haarts Geburtsort Maassluis. Auf 420 Seiten folgen wir dem Sohn eines Reeders. der in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters tritt, eine verheiratete Frau schwängert und einen Sohn bekommt, den er nur heimlich sehen darf. Dieser Sohn ist später als Rädelsführer in besagten Aufstand verwickelt. Arme Fischer stellen sich gewaltsam gegen die reichen Reeder, die eine neue, schnellere Singweise der Psalmen durchsetzen wollen.
Maarten ‚t Hart, 1944 geboren, zeigte sich in der Kulturkirche von großväterlicher, erwartbar milder Seite. In fließendem Deutsch beantwortete er die Fragen von Moderatorin Heike Mundt. Als die anhob, den literarischen Kompositionsstil des studierten Biologen Maarten ‚t Hart mit Landschaftsgärten zu vergleichen (vermutlich Goethes „Wahlverwandtschaften“ gelesen), sagte der Autor lächelnd: „Das ist sehr schön formuliert, ein sehr schönes Bild, aber nein, so habe ich das nicht gemacht.“ Alte Schule. – Der Junge im Roman macht sich viele Gedanken zur Bibel, fragt sich, ob die Schnecken vier Wochen eher losziehen mussten, um die Arche Noah pünktlich zu erreichen, was mit den Schmetterlingen geschehen ist, die leben doch nur ein paar Tage, können niemals 40 Tage in einem Schiffrumpf ausharren. Er sieht im paradiesischen Baum der Erkenntnis eine fragwürdige Anpflanzung Gottes, die den Sündenfall erst provoziert hat. Und Maarten ‚t Hart hat sich genau diese Fragen als Kind auch gestellt. Wie kamen die Känguruhs beispielsweise von Australien nach Mesopotamien? „Meine Mutter erklärte mir damals, dass Känguruhs sehr hoch springen können und deshalb von Insel zu Insel…“ usw. – Großes Buch. Großer Autor. Große Veranstaltung. Anschließend spielte Maarten ‚t Hart drei beseelte Stücke auf der Kirchenorgel. In seiner Heimatgemeinde vertritt er wochentags den berufstätigen Organisten, „bei Hochzeiten und Begräbnissen“. Und auch hier, in der Musik, schwingt Maarten ‚t Hart die gleichen Seiten in einem an, die seinen Büchern stillen, wehmütigen Glanz verleihen. (17:10)
Sonntag, 02.03.2008: Charlotte Roche ODER Vampire Weekend (Debütalbum)
„Empfohlen nur Besucherinnen und Besuchern, die das 16. Lebensjahr vollendet haben“ steht im lit.COLOGNE-Programmheft zu der Schockerveranstaltung, die ich um 19:30 Uhr im Schauspielhaus besuchen werde. Charlotte Roche, Claus Peymann und Roger Willemsen werden über Provokation, Radikalität, über Ekel und kritische Extreme sprechen. – Der deutsche Theaterregisseur Claus Peymann, derzeit Leiter des Berliner Ensembles, hat 1966 die Uraufführung von Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ inszeniert. Er hat Geld für RAF-Häftlinge gesammelt, mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zusammengearbeitet, Klassiker wie Brecht oder Shakespeare blutig, schreiend, aufreißend auf die Bühne, in den Mittelpunkt gehoben.
Dieser großen Mann ist nun Ex-Viva-Zwei-Moderatorin Charlotte Roche ausgeliefert. Charlotte Roche sorgt seit ein paar Tagen mit ihrem Debütroman „Feuchtgebiete“ für hyperventilierende Interviews und Besprechungen im deutschen Feuilleton. „Feuchtgebiete“ handelt der 18-jährigen Helen, die nach einer missglückten Intimrasur mit einem Anusriss im Krankenhaus liegt. Ich zitiere den Klappentext: „Dort widmet sie sich jenen Bereichen ihres Körpers, die gewöhnlich als unmädchenhaft gelten.“ – Ich habe gestern im lit.COLOGNE-Festivalcafé kurz mit Roger Willemsen sprechen können. Seiner Meinung nach ist „Feuchtgebiete“ bemerkenswert. Roger Willemsen sagt über das Buch: „Feuchtgebiete ist das begabteste Debüt, das ich als Manuskript je in der Hand gehalten habe. Es ist sehr präzise geschrieben. Es ist furchtlos. Es bedient einen Begriff von Moderne, den man schon richtig für vergessen hielt. Es ist kühn. Es ist sogar mutig. Es ist dreist. Es ist ekelig und es stinkt und raucht.“
Ich weiß nicht, welche Manuskripte Roger Willemsen bereits in den Händen gehalten hat. Darum geht es auch nicht. Roger Willemsen kennt man als geschmackssicheren, einfühlsamen, sehr reflektierten Menschen. Es muss also einen Grund geben, weshalb er derart von Charlottes‘ Buch schwärmt. Ich kann allerdings keinen erkennen. Ich finde das Buch langweilig, altmodisch, platt, uninspiriert, schlecht. – Um 21:35 Uhr werde ich im Radio mit Ingo Schmoll über „Feuchtgebiete“ sprechen. Das Buch spaltet. Mir scheint, es gibt die älteren Literaturkenner, die eine bestimmte Idee von Jugend besitzen und diese Idee, dieses Bild in Charlotte Roche und ihrem Debüt verkörpert sehen. Und es gibt die Jugend (dummer Begriff, ich weiß), die – wie häufig – mit dem Bild, das ihr aufgenötigt wird, wenig anfangen kann. Es gibt uns. Schreibt mir. Schreibt Eure Meinung, Eure Kommentare, Eure Empfindungen zu „Feuchtgebiete“. Ich werde später im Blog darauf antworten. Danke. (18:27 Uhr)
Montag, 03.03.2008: The Punks Are Writing Love Songs (Tullycraft)
Martin Bruch und Andrea Franke, Herausgeber des Literaturmagazins Bella Triste [Offizielle Website] sind aus dem Parisurlaub nach Köln angereist. Jetzt stehen sie mit Trolley, Taschen, Rucksack im Kölner Hauptbahnhof. 13 Uhr. Wind. Halsschmerzen, Durst. Egal. Es gibt Menschen, die einem schon beim Auf-Sie-Zugehen sympathisch sind. Martin und Andrea gehören dazu. Andrea wird gleich weiterfahren, hat aber noch Zeit auf einen Kaffee: „Wenn das okay ist.“ – Wir setzen uns in eine Bahnhofsbäckerei. Martin bestellt Apfelsaft und bekommt eine Plastikflasche „Lift“ gebracht. Wir sprechen über Literaturschulen, über Hildesheim und Leipzig, natürlich über Charlotte Roches‘ Feuchtgebiete, über Generationenbegriffe, die immer unsinnig sind. Bella Triste ist kein Generationenprojekt, sondern ein kleines, durch zurecht lobende Feuilletonbesprechungen stetig wachsendes Magazin, das junge Literaturfans anspricht, verträumte und leidenschaftliche Leser, Menschen, die in sich Leben spüren.Kotzen? Krawall? Gibt es hier nicht.
Dafür: gut gemachte und anrührend sanft komponierte Erzählungen, immer wieder neue Lyrik, zum Beispiel von Björn Kuhligk („Mit einem Gesicht aus Eleganz und Fresse“): NOCH EINS, BITTE//Gestern spät, das Kissen der Nacht/im Genick, ich sah den Mond/das dünne Licht aus Schnee und/hörte den schallgedämpften Lauf/der Straße, der auf den Mann/der auf zwei Beinen am Tresen/und seine Mundwinkel zielte/aus denen Tropfen aus Wut/hervorzitterten, ja, das sah ich gestern Nacht als Kranich, Adler/nun gut, das stimmt nicht, das fliegt
Kommende Woche erscheint die 20. Bella-Triste-Ausgabe, für 8 Euro bzw. 5 Euro im Abo, das sich auf jeden Fall lohnt (ich habe das Magazin schon lange abonniert, es garantiert wenigstens drei glückliche Tage im Jahr.) Und bevor es dazu Kommentare gibt: NEIN, ich bin nicht unglücklich, ein bisschen müde vielleicht, „I’ll Kill Her“ (Soko) aus dem MP3-Player hilft wenig, klingt wie eine leisegedrehte Remi Nicole, mir ist nach schlafen, ich blättere in der Bella Triste…
…und bin SOFORT wieder wach. Allein die Bilder, die Bella-Bilder, mit dem verträumten Mädchen, gerade (Ausgabe 19) im Pünktchenkleid unter roten Ästen. Das Magazin ist auch zum Anschauen gemacht, zum Sicherfühlen, dass es da draußen noch mehr von uns gibt, dass es sich lohnt, weiterzusuchen. Außerdem herrllich: Andrea und Martin lieben Literatur, sie zerstören sie nicht, zerstören nichts mit trampelnden Interpretationen, mit Literaturbetriebsgequatsche (Hildesheim ist natürlich Literaturbetrieb), sie lassen Raum. Aber dazu später mehr, im Radio nämlich, um 20:45 Uhr mit Ingo Schmoll. Danach sehe ich euch ja vielleicht hier, in den Kommentaren? – Nach dem Kaffee (Andrea ist abgefahren) steht Martin mit mir auf dem windigen Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs und wir unterhalten uns über Schriftsteller, die nichts mit Bella Triste zu tun haben: Über Uwe Timm (sein wunderbares Frühwerk), über Martin Walsers aktuellen Goetheroman „:Ein liebender Mann“, über Rainald Goetz („Rave“) und über „Sonnenallee-„Autor Thomas Brussig. Ich erzähle von der Buchmesse in Kairo, auf der ich 2006 Thomas kennengelernt hatte. – Er war gerade Stadtschreiber der ägyptischen Hauptstadt, ich las mit Christian Kracht in einer zugigen Ausstellungshalle. Und Thomas Brussig war, als frischgebackener Ehemann, bestens gelaunt, erzählte ständig schlechte Witze, einen nach dem anderen. Zum Beispiel diesen: „Was denkt ein Gynäkologe, wenn er abends nach der Arbeit mit der U-Bahn heimfährt? Na? Na? Er denkt: ENDLICH …. Gesichter!“ Nein, Thomas Brussig passt wahrlich nicht zu Bella Triste.
Bella Triste
Kurzer Zwischenstand. Ich sitze im ICE-Restaurant, wenige Meter vorm Kölner Hauptbahnhof und werde gleich Martin Bruch, Chefredakteur des herrlichen Junge-Literatur-Magazins BELLA TRISTE treffen. Große Sache. BELLA TRISTE eröffnet heute die fünftägige lit.COLOGNE-Reihe Junge Magazine. Schaut Euch die Homepage von denen an, es ist ein Ereignis, die Leute stechen avantgardistisch und cool ins Herz der modernen Literaturszene, reißen Gräben auf, züchten neue, schillernde Pflanzen, entdecken Nachwuchsgenies, die nichts Poetry-Slammiges an sich haben. „Schnaps hilft gegen Müdigkeit“ sagte Dietmar Dath am Freitag. Ich bleibe beim viel zu heißen Pfefferminztee. Zug fährt ein, bis gleich…
Dienstag, 04.03.2008: Remmidemmi (Egoexpress RMX)
Ich sitze gerade im Gloria. Gleich beginnt die Lesung von Feridun Zaimoglu. An der Wand hängen dieses Mal kitschige Blumengemälde eines unbekannten Künstler (ich behaupte: einer unbekannten KünstlerIN, Mitglied im BBK, dem BERUFSVERBAND BILDENDER KÜNSTLERINNEN oder dergleichen). Habe mir gerade ein Bier bestellt. Das nette Tresenmädchen stellte mir ein Kölsch auf den Tisch. Nun denn: Dieses Bier ist ein Test. Meine Atem, Sprech- und Stimmtherapeutin (das ist nicht WIRKLICH eine Therapie, man nett es Sprechtraining, nicht mehr) hat bei der letzten Sitzung angeregt, dass ich vor der Sendung evtl. ein kleines Bier oder einen Sekt trinke, „zur Auflockerung“. Sollte ich gleich, um 22:10 Uhr ins Mikro lallen singen, mailt mir. Ich bleibe dann beim Wasser. – Im Foyer steht ein Stand meiner Lieblings-Literatur-Zeitschrift BÜCHER (das ist kein Gegensatz zum BELLA TRISTE-Text, die Bücher schreiben ÜBER Literatur, nicht selber welche) für die ich zuletzt Rufus Beck in Frankfurt getroffen habe. Rufus Beck ist ein sehr höflicher, sehr sympathischer Mensch, daran erinnere ich mich noch. Ich kann auch über diese lit.COLOGNE sagen, dass ich bisher nur höfliche und nette, inspirierende Menschen getroffen habe, die mich mit einem Gefühl von Dankbarkeit durch diese Woche tragen. Keine Poser, keine Wahnsinnigen, und doch immer Menschen, die nicht im Irgendwas steckengeblieben sind, sondern die mit Leidenschaft, Schreibwut, Beschreibungseuphorie beseelt daherkommen. Yippie, yippie, yeah! Aus den Boxen im Gloria: „I want you back“ von den Jackson 5, passend zum Feridun-Zaimoglu-Roman LIEBESBRAND… NACHTRAG 5.3. um 16:09 Uhr: Inzwischen weiß ich, dass ich KEIN Bier brauche, um zu sprechen, oder, um Bernd Begemann zu zitieren: „Ich lerne jeden Tag dazu – und werde trotzdem nicht klug“.
Great DJ (Calvin Harris RMX)
Feridun Zaimoglu hat einen Himmel aufreißenden Roman geschrieben: LIEBESBRAND. Es ist die Geschichte von Ex-Börsenmakler David aus Kiel, der nach einem Massenunfall in der Türkei Erlösung sucht, die Liebe zu einer Frau, die er nur wenige Minuten gesehen hat. Eine Frau, die ihm an der Unfallstelle half, dann wieder verschwand, fadenscheinig, leuchtend, undinengleich. „Es wurde dunkel, es wurde hell, dann aber starb ich“. Das ist der erste Satz des Romans. Das sind zehn Wörter, die seit mehreren Jahren in Feriduns Moleskine-Notizbuch stehen und denen nun gleißende Bilder, die Bilder des Unfalls entgegengestellt wurden. Feridun hatte selbst einen Massenunfall überlebt, wie Held David reiste er im Bus durch die Türkei und wie er kennt der Autor dieses Verzehren nach Liebe, dieses Hinrennen und Verrennen und Weiterrennen, einer Affaire, einer Erleuchterin nach.
Wasserturm
Angekommen im Hotel Wasserturm (Köln). Verwinkeltes Gemäuer, dunkle Tische, leise Loungejazz, ein Beethoven-Druck gerahmter Druck von Andy Warhols „Beethoven – Pink Book“ hängt hinter mir. Ich frage den Barkeeper, wo ich mir „die Hände waschen“ kann. Hanns Zischler steht neben mir, telefoniert. Aus meiner früheren Sportlerzeit, als 800m-Läufer beim TSV Bayer 04 Leverkusen ist mir der Mehrsterne-Jargon dieser Häuser bestens vertraut. Wir wurden stets in irgendwelchen Maritim-Burgen untergebracht, bei irgendwelchen Meisterschaften. Der Barkeeper fragt, die Augenbrauen hochziehend: „Hände waschen?“. Ich antworte ungläubig: „Ja. Eine Toilette bitte!“ (Dass er mich nicht versteht…) Der Mann weist mir den Weg. Jetzt sitze ich wieder am Lobbytisch. Er nähert sich zaghaft: „Und, geschafft?“ Ich rätsele, ob er Trinkgeld abgreifen will. NACHTRAG 19:25 Uhr: Beethoven darf wieder Komponist sein.
Always Where I Need To Be (The Kooks)
Martin Walser verfolgt mich seit Tagen. „Ein liebender Mann“. heißer Atem in meinem Nacken, bisschen feucht, kurz, mit unregelmäßigen Aussetzern, wie die Literatur dieses Niemals-Nobelpeisträgers (er allein wartet einmal jährlich auf den Anruf aus Stockholm). er verfolgt mich, seit ich, vor drei Wochen, das neue Buch von ihm gelesen habe, in Holland, am Hafen. Martin Walser hat bereits am Freitag auf der lit.COLOGNE gelesen. Ich wäre gerne hingegangen. Ich respektiere ihn, obwohl selbst sein bestes Werk „Ein fliehendes Pferd“ nur eine schlechte Nachdichtung ist, nämlich von Goethes „Wahlverwandtschaften“.
Unter dem wunderbaren „The Kooks“-Titel „Always Where I Need To Be“ werde ich in den nächsten Tagen kurz über Bücher schreiben, die im 1LIVE-Programm unmöglich vorkommen können, über Veranstaltungen, die ich nicht besuchen, bei denen ich nicht „sein“ konnte. Und die dennoch im Fokus stehen. Martin Walser gehört dazu, sein Goethe-Liebesroman, der leider zu wenig erhaben, ein wenig blutarm und greisig von des Dichterfürsten letzten Korb (es war die 19-jährige Ulrike von Levetzow, 1823 in Marienbad) berichtet. Ich habe dieses Ungetüm dennoch gern gelesen, das ist immer wieder verwunderlich, dass man Walser aufschlägt, mit dem Kopf schüttelt, die Phrasen am liebsten streichen würde, und doch bei ihm bleibt, Seite für Seite, auch wenn es eine Schmonzette ist.
Das Voyeurismus-Ding: Ich schaue gern großen Autoren wie Walser beim Scheitern zu. Das ist spannender, als irgendwelchen jungen Nix-Dichter beim Belanglos-Sein Gesellschaft zu leisten. Walsers Ego (übermenschlich) will den Menschen stets das Feuer herabreichen, vom Olymp, Prometheus sein, allein der Geist, der folgt nicht immer, so wie man dem liebenden Goethe nicht immer folgen kann, in diesem Buch. Soll man es dennoch lesen? Ja! Versucht, Walser zu folgen. Ich versuche derweil, ihm zu entkommen. Heute Nacht wanderte ich träumend durch den nebeligen Harz, als es plötzlich in alemannischem Dialekt hinter mir raunte: „Jüngling, so bleib er stehen.“ Ich spähte ins Fadenscheinige, aus dem dann Walser, JA! er selbst, erschien, mich backpfeifte und schimpfte, ich hätte Pfade betreten, auf denen ich Wegezoll zahlen müsse, an ihn. Ich stammelte. Hielt mir die heißen Wangen.
Bin dann schweissgebadet aufgewacht, in den Hausflur gegangen, zur FAZ, die dort immer auf dem untersten Treppenabsatz liegt, herabgesunkener Konservatismus, man muss sich bücken, um diese Zeitung auf Augenhöhe zu kriegen (andere Leser, mit großen, hochliegenden Briefkästen strecken sich evtl.). Ich warf wie immer alles fort, eilig, nur das Feuilleton legte ich neben den Frühstücksteller. Warf einen Blick darauf. – Denn da war er wieder, Seite 37, fettgeruckt: „WALSERS ZUG – Rätselfahrt: MORGEN IN KATAR in Kassel uraufgeführt“. Ich kenne das Stück nicht, ich wusste nicht, dass Walser über Arabien schreibt. Erster Satz des Artikels: „Der Zug strandet irgendwo im Nirgendwo“. Furcht.
Doch dann, oh glückliche Erkenntnis: Das Stück stammt nicht von Martin, sondern von Theresia Walser, der atemabschnürend schönen Tochter. Wo ist das? Kassel? Muss ich hin… Das sind so Träume. Gleich treffe ich Feridun Zaimoglu, im Luxushotel am Alten Wasserturm und wir sprechen über: Romantik. Heute Abend liest der relevanteste aktuelle Schriftsteller Deutschlands im Gloria.
Mittwoch, 05.03.2008: Make It Reverse
Als ich heute morgen um kurz vor sieben Uhr aufwachte und das frühe Sonnenlicht durch die Lamellen auf mein Bett schien, ahnte ich zwei Dinge nicht: Wo Sonnenlicht ist, da ist es nicht zwangsläufig warm, heute ist es sogar VERDAMMT kalt. Und: ich bin um 13 Uhr mit dem derzeit besten Schweizer Autor, mit Peter Stamm, zum Mittagessen verabredet. – Ich beschloss, heute einen Frühlings- und Sammeltag einzulegen: Kaffee und Brötchen und Spiegelei und FAZ lesen, bei offener Terrassentür. Letztere legte ich nach zwei zugigen Minuten wortwörtlich aufs Eis. Mein Thermostat rotierte bereits hektisch, um unter Auferbietung aller Boilerkräfte die von mir eingestellten 21,5 Grad in meiner Bude aufrecht zu erhalten. Ich zog die Eier aus dem Kühlschrank, schaute aufs Haltbarkeitsdatum (28. Februar) und aß den zurechtgelegten Speck roh, mit fettglänzenden Lippen. Dann sortierte ich die Bücher des Tages: Helge Schneiders EINE LIEBE IM SECHSACHTELTAKT, dann HITZE von Bill Buford, die Erzählung von PeterLicht, die er 2007 in Klagenfurt beim Bachmann-Bewerb gelesen und mit dem er den Publikumspreis abgeräumt hat. Alles gut.
Indie-DJ Christian Vorbau mailte mir neue lit.COLOGNE-Musik, zum Weitermachen. Die Post brachte u.a. Alice Sebold. Alles gut. Ich schaltete die Waschmaschine an, telefonierte mir 1LIVE, sprach den Tag ab. Und dann kam die SMS: „sitze so beim Hoteleingang rum. bis gleich. Peter“. Ich dachte zunächst, Peter Grabowski, der CvD von 1LIVE-Kunst warte auf mich. Ich fragte mich: Weshalb? Kurz zuvor hatte er mich (zu Recht, stimmt schon) angezählt, weil ich gestern meine Colaflaschen nicht vom Schreibtisch meines 1LIVE-Kunst-Kollegen Daniel Bäldle weggeräumt hatte. Dann fiel es mir ein, HACKE, Termin mit Peter Stamm, vor Wochen vereinbart, ein Wiedersehen nach über einem halben Jahr.
Ich rief ihn an, unter tausend Entschuldigungen, und Peter fragte, ob ich evtl. einen spitzen Gegenstand mit mir führen würde, zwecks Geißelung. Ich fühlte mich wie Dobby von Harry Potter. Ich sagte: Komme mit dem ICE, in 40 Minuten bin ich am Bahnhof. Was soll ich sagen? Die Bahndeppen haben es nicht gepeilt, diesen ICE, in den ich so eilig einsteigen wollte, OHNE eine Verspätung von 35 Minuten nach Wuppertal zu schleppen. Sitze jetzt in der Regionalplan. Peter hat einen Riesenspaß. Er holt mich gleich ab. Hoffentlich führt er, der Autor keinen spitzen Stift (spitzer Gegenstand usw.) mit sich. – NACHTRAG 23:58 Uhr: Wer den Helge-Schneider-Beitrag gehört hat: Mein Satz “ Ich zog die Eier aus dem Kühlschrank, schaute aufs Haltbarkeitsdatum (28. Februar)“ war TATSÄCHLICH unfreiwillig. Anyway.
Mittwoch, 05.03.2008 Remmidemmi (Scooter RMX)
Nachdem Sarah Wupp im Kommentar fragt, was sie verpasst hat gestern, und Adele, meine Atem-, Sprech- und Stimmtherapeutin unterstellt, ich hätte mehr als ein Bier vorm Studio getrunken, habe ich nun beschlossen, den Beitrag von gestern online zu stellen, zum Nachhören und Selbstbewerten. Mehr als ein Bier… Tst. Da lache ich. – Kulinarisch ist diese lit.COLOGNE eine Pleite. Ich komme nicht zum Essen. Schriftstellerwein am Kamin ist auch nicht drin. Ich bin zu müde, um spätnachts irgendetwas zu kochen, weshalb ich auf das Angebot von „Geile-Automaten“ am Hauptbahnhof zurückgreife: Wasser und dazu Mandelmarzipan, der von Weihnachten übriggeblieben ist. Gestern habe ich mir, da ich nicht einschlafen konnte, Bill Bufords HITZE (Hanser-Verlag, 24,90 Euro) aus dem Regal gezogen. Der ehemalige Redakteur beschreibt in diesem unwerfenden Buch, wie er seinen Job an den Nagel hängt, um von der Pike auf zu lernen, wie man anständiges Essen zubereitet. – Allein die Speisenaufzählungen der ersten Seiten machen hungrig und satt in einem.
Donnerstag, 06.03.2008: Always Where I Need To Be (The Kooks 2)
„In zwei Stunden gelesen. Geweint, glücklich gewesen, wunderbar!“. Mit diesen Worten wird Elke Heidenreich (LESEN!) auf dem Buchrücken von Milena Agus‘ kleinem Roman DIE FRAU IM MOND (Hoffmann &Campe) zitiert. Die Autorin war ebenfalls zur lit.COLOGNE eingeladen, bereits am 2. März, im Italienischen Kulturinstitut. Ich war nicht glücklich, ich war erst einmal verwirrt, als ich dieses wirklich schöne Buch vorhin noch einmal las. Die Geschichte erzählt von einer italienischen Bauerstochter, die Liebessehnsüchte hat aber niemanden an ihrer Seite, der diese Sehnsüchte mit ihr teilt. Stattdessen gibt es ständig Senge. Ihre Mutter schleift sie aus der Kirche, weil das verliebte Mädchen für ihren Schwarm die Haare während des Gottesdienstes geöffnet hat. „Kaum waren sie zu Hause, schloss Urgroßmutter die Tür und schlug mit allem auf sie ein, was ihr in die Finger kam, dem Bauchriemen für die Pferde, Gürteln, dem Wasserkessel, dem Teppichklopfer, dem Seilwerk für den Brunnen, sodass ihr das Mädchen schließlich, derart zugerichtet, schlaff wie eine Puppe zwischen den Händen hing. „Anschließend lässt sie den Pfarrer kommen, auf dass er den Teufel aus ihrer Tochter treibe.
Das ist erbarmungslos. Das ist (noch einmal der Link zu Charlotte Roche), RADIKAL. Das ist ganz klassisch erzählt, ohne Zuckerwerk. Das ist die Suche nach Zuneigung in der Kälte, es ist die kurze Erzählung über eine Frau, die stellvertretend für ihre Verwandtschaft alle Unordnung des Lebens auf sich genommen hat. Und damit auch: stellvertretend für den Leser. – Diese Literatur, streift nicht einmal zaghaft „Pop“. Diese Literatur wird – ebenso wenig wie irgendwelche Kompositionen moderner Klassikkomponisten – in 1LIVE stattfinden. Aber wer im Stress ein kleines bisschen Ruhe sucht und sich nicht daran stört, in ein erwachsenes, in ein vergangenes (also nicht in ein „jugendlich und aktuelles“) einzusteigen, dem sei DIE FRAU IM MOND empfohlen. Und jetzt geht es Richtung Hauptbahnhof, mit dem ICE zum Pop, zu Sven Regener, zu Herr Lehmann, in den Tanzbrunnen. – Noch einmal Milena Agus: „Vielleicht muss man sich in der Liebe einfach der Magie anvertrauen, damit alles gut geht, statt nur danach zu trachten, eine bestimmte Regel zu befolgen, etwa das Sakrament der Ehe.quot;
Finger weg von meiner Paranoia
Wir haben hin-, wir haben herüberlegt, abgewogen und gemessen, im Radio: Zwei begeisterungswürdige Schriftsteller beehren heute das lit.COLOGNE-Programm. Es sind Clemens Meyer und Sven Regener. Clemens hat einen leuchtenden Erzählungsband geschrieben: DIE NACHT, DIE LICHTER (S. Fischer). Und Sven Regener wird heute im Tanzbrunnen Ausschnitte seines neuen, im Herbst bei Eichborn erscheinenden Romans, vorlesen. – Über Clemens wissen wir alles. Das Buch steht in den Regalen. Wegen Eile kann ich nur sagen: Lest es! Es ist amerikanisch und underdog-ostdeutsch zugleich. Es ist brachial, mit der Akt gehackt und dann wieder mit kleinem Messer geschnitzt. Über Sven wissen wir nichts. Selbst der Titel des Romans wird erst ab 20 Uhr, in wenigen Stunden, vom Autor selbst mitgeteilt. Hartnäckige Nachfragen beim Verlag, Bitten und Drohungen, Bestechungsversuche und Sanktionofferten führten nur zu einem Ergebnis: zu keinem.
Wir müssen also warten. In wenigen Stunden ist es soweit. Aktuell sitzt Sven mit seiner Lektorin Esther Kormann im ICE von Berlin nach Köln. Er bereitet die Show vor. Um 22:15 Uhr werde ich im Gespräch mit Ingo Schmoll mehr über den „,Neue Vahr Süd“-Nachfolger erzählen können. Bis dahin lese ich Bill Bufords HITZE. Und zu Clemens: Wir haben ihn zu 1LIVE-Klubbing eingeladen. Er wird nicht untergehen, bei uns. Wir sind Fans. O-Ton eines Redakteurs: „Clemens Meyer ist der Beste!“
Destroy Rock&Roll (Mylo)
Das ist beinahe ein Kooks-Rubriken-Text: Es geht um Daniela Danz‘ kleinen Roman TÜRMER (erschienen bei Wallstein). Über BELLA TRISTE habe ich weiter unten geschrieben (das mag ich an Blogs: die vergangene Zeit ist, wie bei einer großen Sanduhr herabgesunken). Daniela Danz veröffentlicht bei BELLA TRISTE, sie ist Lyrikerin, und jetzt gibt es also TÜRMER: Der Held heißt Jan. Deshalb gibt es für mich gewisse Identifikationsmomente. – Der Roman erzählt von Jan Facher. Er ist Sohn eines Türmers. Jan hält mit seinem Vater Ausschau. Er beobachtet die Kampflinien im 1. Weltkrieg, bevor beide eingezogen werden, an die Front. Die neuen Meldesysteme sind so weit entwickelt, dass Türmer überflüssig geworden sind. Im zweiten Teil des Buchs reist der Key-Account-Manager (Kandidat für unsere 1LIVE-Reihe „Jobs – cool oder spießig“ Michael Thurner (man beachte den Gleichklang „Türmer/Thurner“) dorthin, ZITAT Wallstein-Homepage: „wo der Krieg am Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Attentat seinen Ausgang nahm und wo erneut Gewalt das Zusammenleben der Menschen bedroht: nach Jugoslawien.“
Auf dem Turm stehen, nichts sehen, über allem stehen, nicht dabei sein (das DSF-Ding reverse), das ist Thema dieses Buchs. Ich möchte es hier kurz vorstellen, weil Daniela auf der lit.COLOGNE gelesen hat, weil es der absolute Gegensatz zum schwärmerischen, übervollen Romantikroman LIEBESBRAND (Feridun Zaimoglu) ist, weil es beispielhaft für eine junge Literatur steht, die in verblassenden Farben sieht. Das wird manchmal bemängelt. Aber dieser Gegensatz: Zwei Kriege, Stahlgewitter und zugleich: Windhauchstille im Text. – Eine wunderbare Szene: Michael Thurner malt, eine vom Himmel herabgefallene Taube, die sich auf einer Sonnenurh aufspießte. „Es war einfach passiert, weil ein Vieh – und Viecher sind wir alle – so ums Leben kommen kann. Durch so einen dämlichen Zufall.“
My Rave (Nid & Sancy)
Langsam schleicht sich dieses bei Fightclub beschrieben Kopiergefühl in die lit.COLOGNE-Tage ein. Müde stehe ich vorm dezent angeleuchteten Herrenklospiegel im Sendestudio. Ich fühle mich wie Bret Easton Ellis in LUNAR PARK. Ich fühle mich unwirsch, uneins (nur ohne die Drogen). Dabei sorgt dieses Beauty-Licht für einen mattierten Teint. Absicht. Damit die Angestellten keine Erschöpfungssymptome erkennen können. Ein Hoch auf den Medienbetrieb, der fahles Spiegellicht, Feel-Good-Imperative und Coke-Zero für 65 Cent anbietet. – „Du solltest im Blog nicht den Eindruck erwecken, du könntest deinen Job nur unter Alkoholeinfluss erledigen“, riet mir heute ein Kollege, „mir haben die das auch empfohlen, beim Sprechertraining, Sekt. Das ist aber Wahnsinn.“ Stimmt. Ich glaube, dieses eine Kölsch in den Knochen zu spüren, ohne die frischen Billo-Business-Hemden würde ich mich jeden Morgen wie ein Grottenolm fühlen.
Was hilft: Menschen, die wesentlich beschädigter ausschauen, alte Säufervisagen mit fettigen Haarschmalzlocken, Frühstücskornkenner treffen und lachen dürfen, für ein paar Stunden über sie, um das eigene Nichts-Sein fortzuwischen. Das ist eines von vielen Erfolgsgeheimnissen des erleuchteten und erleuchtenden Komikautors HELGE SCHNEIDER. Er kultiviert das VOLLKOMMEN-Im-Sack-Leben stellvertretend für uns alle. Bei seiner Tanzbrunnenlesung, hat der er den abgewrackten Autor Robert Fork zur Premiere mitge-bracht, er war Robert Fork, der egomane, blödwitzelnde, studienratweise Book-On-Demand-Toscanaproll, eine Figur, die zusammengeklaut ist – aber genial, in dieser Kombination. – Helge zog (als Robert Fork) zu Beginn einen Wecker auf, langsam, lange. Er kommentierte die Publkumslacher mit den Worten: „Das, was ich hier mache, das können SIe auch zu Hause machen“ (Lachspurlachen an dieser Stelle.) Es war dreiste Lebenszeitvergeudung, es war eine Hommage an Harald Schmidts „Verstehen Sie Spaß?“-Scoop, mehrere Minuten Prime-Time-Sendezeit allein dafür zu nutzen, ein Metronom schlagen zu lassen. Das war seine Krawalllphase, als Harald Schmidt noch raussprang, um 20:15 Uhr und dem Publikum entgegenrief: „Guten Abend und Herzlich WIllkommen, liebe Insassen von Ludwigshafen“. Und wer jemals den absurd megalomanen Betonschluchtwindfallen-Bahnhof dieses von H. Kohl protegierten Ortes besucht hat, der ahnt, dass Herr Schmidt seine Begrüßung nicht zwangsläufig beleidigend gemeint haben muss.
Helge Schneider ist anders, er hat sich von der entgegengesetzten Seite gezeigt, am heutigen Abend: Robert Fork beleidigt seine Zuhörer nicht, sie sind seine Weggefährten, Jünger, Erleuchtungssuchenden. Robert Fork beleidigt sich selbst ebenso wenig. Das ist Kunst, weder seine Figur, noch den Zuschauer ins Lächerliche zu ziehen, sondern stattdessen: absurd beobachten. Der Weißwein in der grünen Flasche ist ein „grüner Weißwein 2008“. Fork beginnt auf Seite 7 des großen Schicksalsromans, „weil sich de Verlag auf den ersten Seiten gedacht hat: schreiben wir was ganz anderes.“ Und nicht alle Gags funktionieren nach dem Schema „Ei = Hoden“.
Das Schlechte nicht schlecht, sondern lächerlich, absurd darzustellen, das ist Helge Schneiders Kunst. Wer jemals eine Literaturhaus-Lesung mit HOBBYSCHRIFTSTELLERN aus der Region durchlitten hat (dagegen ist das Bühenprogramm von DSDS echtes Entertainment, dekonstruierende Gesellschaftskritik, eine schrille Kittler-Echokoammer), der weiß, was ich meine. Schreiben als Therapie. Schreiben als Posen. Wahre Kunst braucht das nicht. – Ich traf den Schweizer Peter Stamm heute auf einen Kaffee und ein Mann seiner Größe, seines höflichen Intellekts würde niemals die Wirkung seiner Texte durch unsachgemäßes Auftreten in die Tonne treten. Gleiches gilt für Helge (ich weiß, der Vergleich ist gewagt), der nicht sich, sondern immer seine Figur ins Rampenlicht zerrt (gerade habe ich „Lampenricht“ geschrieben. Endet also hier. Zeit fürs Bett. Gute Nacht.
Freitag, 07.03.2008: Seven Nation Army (White Stripes Cover)
Gleich zur Bahn, deshalb erstmal ein kurzer Teaser Endlich daheim, 1:01 Uhr in Wuppertal und es schneit noch nicht: Netter Abschluss eines schönen Abends. Sven Regener hat am Anfang der Lesung augenzwinkend angemerkt: „Dieser Frank-Lehmann-Abend ist der Abschluss der Frank-Lehmann-Woche und der Auftakt zum Frank-Lehmann-Jahr.“ – Der Mann geht mit einer Menge Selbstbewusstsein in die dritte Runde seiner Trilogie. Vorab wurde so wenig verraten, wurden nicht einmal 30-sekündige Interviews gegeben, dass ich gegenüber Sven Regeners Lektor Wolfgang Hörner von Eichborn-Berlin beinahe richtiggestellt hätte, dass es mir NICHT um die Konto-Geheimnummer des Starautors, sondern nur um zwei, drei Sätze zum Buch geht.
Signieren wollte er ebenfalls nicht. Das hätte nicht nur mit Faulheit zu tun, sondern dass man dann so viele Menschen trifft, sagte Sven vor seiner Lesung. Außerdem, Info seines Antiquars, gäbe es von manchen Schriftstellern mehr signierte als unsignierte Bücher. Da wäre ein gebrauchter Band ohne Signatur deutlich wertvoller, als einer mit Unterschrift. Man müsse ihm diese Marotte nachsehen. Außerdem: „Der Kölner hat eine Vorliebe für Freaks.“ Applaus. – Wenn der Kölner den Namen seiner Stadt hört, klatscht er in die Hände. Und er fängt, glaube ich, an zu johlen, wenn noch ein „1.FC“ davor gesagt wird. Auf der Regionalbahnfahrt zurück hatte ich das groteske Vergnügen, mit einer Horde Bayer-Leverkusen-Fußballfans im versifften Großraumwagen zu sitzen. Fans dieses Vereins sind mir rätselhaft. Nun stiegen die Jungs in Schlebusch oder Opladen nicht aus und ich stellte fest: Fans von Bayer Leverkusen, die nicht in Leverkusen wohnen, die machen mir sogar Angst.
Aber ich sollte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, als einziger Nicht-Kurven-Fan im deutschen Literatur-Schreiber-Rezensenten-Betrieb (es gibt Meisterschaften, bei denen Rezensenten- gegen Verleger- und Autorenteams antreten.) Als mich Thomas Brussig vor zwei Jahren fragte, ob ich als alter Leichtathlet nicht mitkicken möchte, im Nationalteam der Schriftsteller, winkte ich Depp ab. Inzwischen reisen die Jungs zu Turnieren in Mailand, Bangkok, Peking usw. Es ist quasi zum Lebensinhalt der Teammitglieder geworden (es hat den Eindruck.) Der letzte Roman von Thomas Brussig erschien vor einigen Jahren. 2007 hat er ein dokumentarisch-verschämtes Buch über die Prostituiertenszene in Berlin geschrieben. Passt.
Irgendwann stiegen die Fans aus (in Gruiten) und mir gegenüber setzte sich ein schwarzhaargefärbtes Indiemädchen mit 1LIVE-pinker Plastikblume und Totenkopf-Fruchtstand. (@Jakob: Du hast doch Biologie studiert. Wie heißt der terminus technicus des inneren Margeriten-Kreises?) Dazu: schwarz-pinke Vans mit martialischen Symbolen, eine schwarze Plastik-Umhängetasche mit pinken Kreuzen und ihre Indiemusik hörte das Mädchen über ein schwarzes Sony-Fotohandy. Das hat mich begeistert: Dieser ambivalente Gestus, der gleichzeitig Abschreckungs- und Süß-Find-Signale aussendet. – Als Sven Regener dann loslegte, mit dem ersten Kapitel des dritten Teils (DER KLEINE BRUDER), hatte er uns alle auf seiner Seite, ich sage UNS, weil dieser Mann es schafft, einen Saal zu einen. Alle haben plötzlich den gleichen, hintersinnigen Oblomov-Humor Frank Lehmanns, jeder fühlt sich nach 80er-Jahre, der authentische Roxy-Music-Hörer wie der MGMT-Fan. Freak hin oder her: Sven Regener ist ein großer Künstler, er las eine Wahnsinnsstelle, ich bin gespannt, ihr dürft es auch sein und bis dahin die ersten beiden Teile aus dem Regal ziehen, bis man NEUE VAHR SÜD hat ist der Sommer ja fast rum…
Samstag, 08.03.2008: The Youth (MGMT)
Es war eine lange (bzw. kurze) Nacht, in der ich für die Dauer von dreimal drei Minuten Nick Hornby erleben durfte. Im Schauspielhaus angekommen, Riesenhektik, wurde ich über die Bühne (Einlass war 5 Minuten später) zum Übertragungswagen der Kollegen vom Deutschandfunk geführt. Der SLAM-Autor stand mir, er selbst auf dem Weg zu einem letzten Kaffee, im Treppenaufgang, gegenüber. Ich sagte „:Hi“, er sagte „Hi“, wir nickten uns zu, gingen dann unserer Wege.
Um kurz nach neun Uhr betrat Nick dann mit Moderator Bernhard Robben den ausverkauften Saal. Sturmflutapplaus infolgedessen. Man setzte sich und Robben gestaltet eine gut vorbereitete, deshalb auch zeitlich ausgedehnte Einführung, während bei mir die Uhr tickte – ich musste um 22:08 Uhr auf Sendung, im KLUBBING-Studio, bei Mike Litt und DJ Larse erscheinen. Robben erläuterte Skater-Fachbegriffe, in der Art und Weise, wie Ranga Yogeshwar in QUARKS & Co. den Zusammenhang zwischen Müsli und Lawinen präsentiert. In SLAM gibt es übrigens SEHR viele Skaterfachbegriffe. Ich stand in Türnähe und wartete auf die ersten Sätze von Nick Hornby.
Und es waren dann auch eben diese ersten Sätze, die ich noch mithören konnte. Bernhard Robben und Nick Hornby unterhielten sich über den Gegensatz ALTER MANN (Autor) und JUNGER HELD (Sam in SLAM). Es ging um Vorstellungskraft usw. Dann musste ich auch weiter, Mikrofon im Ü-Wagen ausstöpseln, mit dem vermutlich ältesten Taxifahrer Kölns zum Mediapark, naja EILEN wäre bei unserem Rentnertempo zu viel gesagt. Radiomachen, da geht alles „Just in time“. unmittelbar, zackig, schnell, schneller, noch schneller. Irgendwie kam ich dann an, im Studio, abgehetzt, mit einem Zettelwust, fadenscheinigen Notizen zum Buch, zum Autor, zum Abend und als ich dann vorm Mikrofon stand, quollen die Gedanken über, sie gingen mal hier, mal dahin und warum ich auf einmal meine absolute Begeisterung für den britischen Ausnahmekünstler JAMES BLUNT verbarg – ach, ich weiß es nicht.
Ist auch Unsinn, diesen Heavy-Rotation-Helden, Frauen- (und Männer-) Schwarm, diesen Knödelkönig, dessen Konzert in Köln 1LIVE zurecht präsentiert, also diesen absolut beneidens-, beknieens-, bewunderungswerten Musikintellektuellen als PEINLICH zu bezeichnen. Klug ist man meistens hinterher. „Was hat der arme Mann dir denn getan?“ Es ist der Todessünden-NEID. Ich glaube, mit seinen Alben werde ich nicht mehr bemustert, was betrüblich ist, weil ich dann bis zum regulären Erscheinungstermin warten… Ach, ich kann nicht einmal daran DENKEN! ohne mich elend zu fühlen. JAMES BLUNT: „YOU are beautiful. YOU are the Greatest!!!“
Vom Studio ging es dann, ein bisschen geknickt, ins Schokoladenmuseum, wo die ganze lit.COLOGNE-Mischpoke am Tresen das verdiente Feierabendkölsch kippte. Man kennt sich, man grüßt sich, und weil Werner Köhler ohnehin neben mir stand (ich übrigens auch) nutzte ich den Moment, um ihn in Verlegenheit zu bringen, weil ich dann doch zu ihm sagen musste, dass sein unglaublich schöner, schneller, actiongeladener, spannender Krimi „Crinellis kalter Schatten“ vor Kurzem einen meiner Tage versaut hatte – weil ich nachts aus Langeweile das KiWi-Taschenbuch aus dem Regal ziehen musste, die ersten Sätze lesen, um dann dranzubleiben, bis um 7 Uhr morgens. An Schlaf war nicht zu denken. Und Werner Köhler wirkte fast gerührt. Sowas finde ich charmant. Fast alle Schriftsteller sind verlegen, wenn man ihnen ganz ehrlich sagt, dass sie etwas Schönes geschrieben haben. Ich wünsche dem Crinelli viele Auflagen und ein langes Leben.
Ich erinnere mich im Folgenden an diese Augenblicke: Mechthild Großmann lächelt mir zu, als sie Flammkuchen am Tresen bestellt. Eine junge Bedienung wird gefragt, von „wo aus dem Osten“ sie denn käme und das Mädchen antwortet: „Aus Leverkusen. Aber Sie sind schon der Zweite, der das heute fragt.“ Martini-Prosecco von der Tanke, mit einem Feuerzeug (Kronkorken) auf abgesperrten Rheinuferstufen geöffnet, getrunken, aufs schimmernde Nachtwasser geblickt. Nick Hornby wird zur lit.COLOGNE-Limousine geleitet und ich sehe ihn ein drittes Mal. Jetzt geben wir uns die Hand. Gratulationen. Wahnsinnswerk. Ein Ereignis. Nick lächelt und ich werde gefragt, ob ich irgendwohin mitfahren möchte, wo ich hinwill, jetzt, das Café sei doch geschlossen und dann und dann und dann…. – Heute kommt PeterLicht in den Tanzbrunnen! Dazu später mehr.
Sonntag, 09.03.2008: lit.COLOGNE-Playlist
Trash (The Whip) SXSW 2008 Showcasing Artists
Always where I need to be (The Kooks)
The Punks Are Writing Love Songs (Tullycraft)
Every Scene Needs A Center (Twee)
Cost Of Living (The Tunics)
The Truth About Cats And Dogs – Is That They Die (Pony Up!)
It’s Magnetic (Assembly Now)
Sleeping in Seattle (Jakobinarina)
Walcott (Vampire Weekend)
Ba Ba Ba (Miss Li)
You And Me (One Night Only)
Born A Boy (Operahouse)
I’ll Kill Her (Soko)
An Empty Platform (The More Assured)
Education Pt.2 (The Metros)
Great DJ (Calvin Harris Remix) The Ting Tings
Julia, we don’t live in the 60s (The Indelicates)
The Youth (MGMT)
Lightbulbs (James Yuill Remix) The Answering Machine Lightbulbs CDS
Like Knives (Tiger Baby Remix) The Fashion
The Freest Man (CSS Remix) Tilly and the Wall
Diese Playlist, die ich während der lit.COLOGNE auf meinem mp3-Player abgespeichert ahtte, wurde erstellt mit freundlicher Unterstützung von Christian Vorbau (King Kong Klub / Essen)
Wir werden siegen
Nachdem ich am gestrigen Abend, todmüde, auf der Regionalbahnfahrt von Köln nach Wuppertal meinen Text zum Lese-Konzert von PeterLicht im Schauspielhaus geschrieben hatte, blitzte der Monitor meines ausgeliehenen Laptops kurz auf, um sich dann zurückzuziehen, ins schwarze Loch, ins digitale Nichts, wohin er dann besagten PeterLicht-Text mitnahm. Verzeiht, ich bin daheim eingeschlafen und habe es nicht mehr geschafft, den geplanten Blogeintrag zu rekonstruieren. – Jetzt sitze ich am Schreibtisch und höre bereits zum dritten Mal den PeterLicht-Mitschnitt, TATSÄCHLICH ergriffen von einem großartigen Akustikset, das länger, das Wochen (nach-)dauern wird, in mir: Denn nicht „alles, was ist dauert drei Sekunden. Eine Sekunde für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin“ (SONNENDECK).
Ein paar Snapshots: PeterLicht hat es geschafft, dass ein vollbesetzter Saal lauthals zur Sitarbegleitung den Refrain „Wir machen uns eben Sorgen über unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ singt. PeterLicht ist es egal, dass er nicht tanzen kann, er tanzt schrecklich, aber niemandem würde einfallen, zu lachen. PeterLicht ist ein inspirierter und inspirierender Schriftsteller. Er kann lakonisch über seine düstere GESCHICHTE MEINER EINSCHÄTZUNG AM ANFANG DES DRITTEN JAHRTAUSENDS (damit gewann er 2007 den Publikumspreis beim Bachmann-Bewerb in Klagenfurt) schreiben, ohne in großliterarische Dünkel abzufallen (zu verschwinden). Da kann man nicht nur “ bei-, bei-, beipflichten.“. Das kann niemand bloß „Ok-, ok-, okfinden.“ Bei den stehenden Ovationen, jeweils nach Konzert-Lese-Part und den Zugaben, spürte ich die vibrierende Ergriffenheit im Saal. Augentränen. Das Gefühl, diesen schmächtigen Mann nicht beklatschen, sondern umarmen zu wollen. Später mehr. – „Das, das das ist unsere Zeit und die Zeit leuchtet. Lass sie leuchten. Tag für Tag…“
Always Where I Need To Be (The Kooks 3)
Ein wunderbares Buch hat mich durch die lit.COLOGNE-Nächte getragen als Leseentertainment, Einschlafhilfe, Inspirationsquelle: HITZE von Bill Buford. Auf 380 Seiten beschreibt der Autor seinen vasallenähnlichen Weg vom Gourmet zum Koch. Das ist appetitanregend und deshalb für Marathondienste wie zehn Tage Literaturfestival bestens geeignet (und als Mitbringsel für gehobenere Essenseinladungen, als Muttertagspräsent oder Selbstbelohnung). – Ich mag HITZE aus zwei Gründen. Erstens fällt es leichter, Stress zu meistern, wenn man täglich einen überforderten, erwachsenen Mann trifft, der sich als unterster Dienstsklave herumschubsten lässt, seine Finger ständig an heißem Öl verbrennt oder dessen Karottenwürfelarbeit von drei Stunden mit einem sarkastischen Kommentar in den Mülleimer befördert wird. Letzteres rief ich mir gleich dreimal ins Gedächtnis, als mein Rechner abstürzte (siehe unten). Ich wurde übrigens nicht von meinen Kollegen herumgeschubst, dass das nicht missverstanden wird. Aber es simsten, biebten, ringten, skypten emailbenachrichtigen mich die unterschiedlichsten Menschen, von früh morgens bis spät abends. Das ist (unfreiwilliges) Rumschubsen, das ist Modern Life!
Zweitens liebe ich HITZE aus folgendem Grund, bei dem ich ein bisschen ausholen möchte. In den vier Wochen vor der lit.COLOGNE habe ich nicht nur angefangen, die Bücher zu lesen, die dann im Laufe der vergangenen zehn Tage vorgestellt worden sind. Ich habe außerdem gekocht. Ich hatte schlicht und ergreifend Angst, zu verhungern. Also füllte ich meinen Gefrierschrank mit allerhand Leckereien. Ich kaufte zwei tote, einst freilaufende Hühner (keine Suppenhühner, zu fett) auf dem Markt und bereitete mit zunächst angebratenem, dann aufgegossenem Gemüse eine Brühe, die mich vor einer Grippe bewahren sollte. Aus dem Fleisch, braunen, frischen Champignons, Sahne, 750 Gramm Spargel usw. köchelte ich (abgezogen mit 4 Eigelb) ein wunderbares Frikassee. Spinat, Gorgonzola, Cherrytomaten, Sonnenblumenkerne und Olivenöl verschmolzen zu einer göttlichen Nudelsauce. Ich dachte an kräftigende Mahlzeiten: sämiges, mit ausreichend Creme Fraiche abgeschmecktes Gulasch ungarischer Art (Rindfleisch, Paprika, Zwiebeln, Tomaten, Rotwein, Gewürze…)
Kurzum: Ich wurde panisch, wähnte mich Atomkriegzeiten nahe und sitze nun auf einem Menüberg, weil ich die letzten Tage folienverschweißte Schokoriegel aus euroschluckenden Bahnhofsautomaten gezogen habe, bitteren Kamps-Kaffee dazu, manchmal gab es Dönertaschen, viermal die Pizza-Hut-Monatspizza mit indisch gewürztem Ersatzhühnerfleisch. Ich trank gezuckerte Energiegetränke aus bepfandeten Dosen, die ich wegwerfen musste, weil ich Angst hatte, das teure Flashmikrophon im Rucksack zu schrotten. Snackalltag. Rosinenschnecken, in Majonaise getunkte Mehrkornbrötchen, Tankstellen-Sandwiches… – Dank Bill Buford habe ich immerhin von 3-Sterne-Essen geträumt. Ich habe den Mann leider nicht auf seiner lit.COLOGNE-Veranstaltung besuchen können. Deshalb bleibt mir nur ein ferner Gruß und meine Bitte an Euch: Schaut Euch HITZE an! Bill Buford hat es verdient. DANKE. PS: Morgen werde ich mich ein letztes Mal zum Auf-Wiedersehen-Sagen melden. Bis dahin könnt Ihr mir alle schreiben. Ich freue mich darauf. Gute Nacht!