Bei einem beliebten Gesellschaftsspiel unserer Szene sagt man reihum, welches Werk der Weltliteratur man bisher nicht gelesen hat – und wer das bekannteste aufsagt, darf sich als mutiger Gewinner fühlen. Dabei gilt es, nicht zu hoch zu greifen, weil Antworten wie Goethes „Faust“ oder Thomas Manns’ „Der Zauberberg“ ins Superpeinliche führen.
Als gestern Michael Stavaric („Böse Spiele“) eine SMS schickte, er werde zum verabredeten Abendessen Büchner-Preisträger Josef Winkler mitbringen, fielen mir zwei Dinge ein: Die freundliche Praktikantin, die ich gebeten hatte, alle für die lit.COLOGNE angekündigten Bücher zu bestellen, hat zwar daran gedacht, mich für die kid.lid.COLOGNE zu bemustern, die relevanten Belletristik-Erscheinungen hatte sie dagegen vergessen, zum Beispiel das neue Buch von Josef Winkler. Von ihm, das zweitens, hatte ich bislang nichts gelesen.
Also setzte ich mich mit zwei eilig gekauften Bänden („Roppongi“ und „Ich reiße mir eine Wimper aus und stech dich damit tot“) in ein todschickes, mit Teppich gedämpfter Wendeltreppe ausgerüstetem, Lounge-House beschalltem Restaurant in Schokoladenmuseum-Nähe, um an der Bar („wenn Sie nichts essen möchten, müssten Sie sich bitte an die Bar setzten) zu lesen von Indien, wo Winkler die Hälfte seiner Zeit verbringt und von seinem Vater, der ein Jahr vor seinem Ableben seinem Sohn übers Telefon mitteilte: „Sepp! Was bist du für ein Schwein, ein richtiger Sauhund bist du! Was hast du schon wieder über den Lemmerhofer Frido geschrieben? Seine Frau soll ihn in den Schweinestall geworfen haben, besoffen soll er gewesen sein, und die Schweine sollen ihm die Hoden abgefressen haben, während er ohnmächtig vom Suff im Dreck gelegen ist? Das stimmt ja alles nicht! Das hat mir der Lemmerhofer auf der Gartenbank erzählt. Was bist denn du für ein Mensch! Ich sage dir nur eines! Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann möchte ich nicht, daß du zu meinem Begräbnis kommst.“
Also bleibt der Sohn ihn Roppongi, als er vom Ableben seines 99-jährigen Herrn hört und schaut stattdessen bei rituellen indischen Begräbnissen zu. Das Buch ist, ebenso wie der Band mit den Erzählungen an keiner Stelle langweilig, an keiner Stelle banal, kein Stück blääde Seminaristenliteratur. Ich bestellte, wenn schon Bar, denn schon Bar einen White Russian und suchte den Abort auf, während der gestriegelte Barkeeper noch einmal die Sahne ansetzte („die ist mir aus Versehen steif geworden“) und ich ging ins Bad, das eine WC-Entsprechung der bekannten Bulthaupt-Küchen sein wollte, wenn es denn mal groß ist, mit einem Waschtisch, bei dem alles versteckt ist (sieht jemand den Abfalleimer?), mit Pissoirs, die wie betende Barlach-Skulpturen an der gekachelten Wand hingen.
Der Cocktail wurde serviert in einem langen, hochstieligem Kelch, wie ein Gegenentwurf zum „White Russian“ des faulen Dude Lebowski im Coen-Brüder-Film „The Big Lebowski“, der seinen „White Russian“ mit Milchpulver anrührt. Ist der White Russian nun ein Männergetränk? Ich überlegte, mir einen Whiskeytumbler bringen zu lassen, aber nach zwei Schlucken war der Kelch bereits leer.
Was hätte Josef Winkler gesagt, wenn ihm ein Barkeeper dieses überkandidelte Glas vor die Nase gestellt hätte? G‘schimpft hätte er vermutlich und zwar fürchterlich, das nehme ich an, weil er mir grummelnd und grantelnd gegenübersaß, während eine Bedienung den Sinn und Zweck des Gästebuchs erläuterte und Winkler schüttelte den Kopf, sagte: „Jetzt kommt auch noch das. Hallo, könnten‘s bitt‘schön die Speis‘kart‘ bringen, bitteschön?“ Winkler gibt im besten Bernhard‘schen Sinne nichts auf die „Ehre“, für ihn gibt es augenscheinlich keine Ehre auf der Welt. Schwärmereien, seine Literatur betreffend, wiegelt er ab, elegant und höflich genervt, er ist eben ein echter Künstler, alles werde ich nun lesen von ihm, diesen annehmbaren Weltekel in Erinnerung behaltend. Winkler verabschiedete sich schnell. Auf meinem Nachttisch liegt bereits „Wortschatz der Nacht“.