Linkradar: Twitteratur, Pop und Shakespeare-Shots

Dass nun auch noch Roger Willemsen sterben musste ist eine Schweinerei – und es überrascht beinahe, dass der Kult um den beliebten Intellektuellen (jedenfalls auf meiner Facebook-Timeline) Helmut Schmidtsche Ausmaße angenommen hat. „Niemand sollte sterben. Und Roger Willemsen schon garnicht.“, schreibt hier Bachmann-Preisträger Peter Glaser und das NDR schaltet noch einmal eine Gesprächssendung mit Willemsen frei, die 2010 stattgefunden hat. – Soll man nun überhaupt noch Fernsehgucken? Die Buchbloggerin Nordbreze hat hier aufgemalt, welche Literatursendung man gucken sollte, schön sortiert nach Langschläfer und Frühaufsteher, nach Rotwein und Rivella (von ihrem Blog ist auch das obige Beitragsbild geklaut).

PapegoSwitchen leichtgemacht: Es gibt eine neue Bücher-App. Sie heißt wortspielerisch Papego. Wer ein Papierbuch kauft kann mit Papego  die zuletzt gelesene Seite einscannen und rund 25 Prozent des Buchs kostenlos auf dem mobilen Gerät weiterzulesen (vermutlich ein Kniff, um die unterschiedliche Besteuerung von Print- und E-Books zu umgehen). Buchreport schreibt: „Piper bringt als erster Verlag ab März schrittweise 65 Papego-fähige Titel in den Handel, darunter Titel wie  ‚The Best Goodbye‘ von Abbi Glines, ‚Feuerstimmen‘ von Christoph Hardebusch und ‚Die rote Olivetti‘ von Helge Timmerberg.“ Klingt nach einer guten Idee – fraglich ist nur, ob mit 65 Titel ausreichend „Buzz“ auf der Entwicklung von ‚Karl Olsberg’ alias Dr. Karl-Ludwig von Wendt kommt.

51i6-rAwwqL._SX302_BO1,204,203,200_Die Nachtigall singt nicht mehr: Am gestrigen Morgen verstarb die 89-Jährige Bestsellerautorin Harper Lee in ihrer Heimatstadt Monroeville in Alabama. „Gehe hin, stelle einen Wächter“ erschien im vergangenen Jahr bei der Deutschen Verlags-Anstalt und stand wochenlang auf den internationalen Bestsellerlisten. Die deutsche Ausgabe erscheint mittlerweile in der 7. Auflage mit über 100.000 verkauften Exemplaren. „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist zeitlich vor dem bei Rowohlt ebenfalls in einer Neuausgabe präsentierten „Wer die Nachtigall stört“ entstanden. Es handelt sich um Harper Lees Erstlingswerk, dessen Manuskript nie veröffentlicht wurde und als verschollen galt, bis es eine Freundin der Autorin im September 2014 fand.  Thomas Rathnow, Verleger der Deutschen Verlags- Anstalt sagt in der Pressemitteilung: „Mit Harper Lee verliert die Welt der Literatur eine der bemerkenswertesten und wirkungsvollsten Schriftstellerinnen unserer Zeit.“

10505599_789473817766176_5082617449518848653_nLyrik lehren: Ende Januar fand in Köln die „Poetica“ statt, dazu ein Workshop mit Ilma Rakusa und Aleš Šteger. Miriam Zeh (Bild) hat hier über ihre Workshop-Erfahrungen berichtet und wundert sich über die Ablehnung gegen die literarische Kreativausbildung. „Denn lange, bevor ich auf die Idee gekommen wäre, die Autorenfeder in die Hand zu nehmen, studierte ich an einer Institution, die seit Jahrzehnten fest davon überzeugt ist, durch sie könne Kunst erlernt werden. An der Hochschule für Musik und Tanz Köln lehrte mich mein Klavierlehrer die richtigen Etüden, mein Gesangslehrer die richtige Phrasierung, mein Tonsatzlehrer die richtige Harmonisation – nicht selten mit schulmeisterlicher Härte und der Forderung nach Disziplin, Fleiß und Ausdauer.“ Demnächst wohnt Miriam in Frankfurt und sucht kurzfristig ein WG-Zimmer. Hinweise bitte an frl.mzeh[at]gmail.com.

0df13a134c80454a85d22a02e3949c60Less or more: Der eine oder andere mag sich an die Perlentaucher-Debatte des vergangenen Sommers erinnern (hier und hier im Blog). Darin ging es unter anderem um die Frage, ob die Print-Literaturkritik in den vergangenen Jahren quantitativ zurückgegangen sei. Nun stehen zwei widerstreitende Zahlen im Raum. Thierry Chervel vom Perlentaucher sagt hier unter anderem: „Für das Editorial dieser Debatte haben wir uns auch noch mal die Buchmessenbeilagen der FAZ angesehen, die von 64 Seiten im Jahr 2000 auf 26 Seiten im Jahr 2014 geschrumpft waren.“ Für ihn steht fest, dass die Literaturkritik im Feuilleton zurückgegangen ist. Michael Pilz, Leiter des Innsbrucker Zeitungsarchivs dagegen ist anderer Ansicht. Chervel schreibt: „Pilz kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der reinen Literaturkritiken trotz der Zeitungskrise praktisch nicht abgenommen habe. Jüngst hat Pilz seine Zahlen noch mal gründlicher gesichtet und kommt wieder zum Ergebnis, dass die Zahl der Kritiken stabil geblieben sei – trotz des seit Jahren schrumpfenden Umfangs der Zeitungen.“

MERKURKurze Texte: „Was war Twitteratur?“ fragt Elias Kreuzmair im Merkur und beschäftigt sich noch einmal mit Kürzesttexten. „Bemerkenswert ist zunächst, dass sich der Begriff überhaupt herausgebildet hat. Facebookeratur ist kein stehender Begriff, der „1. Facebookroman“ Zwirbler blieb eher unbeachtet. Auch dass der syrische Autor Aboud Saeed ähnlich wie die österreichische Autorin Stefanie Sprengnagel ihre literarischen Karrieren mit Texten auf Facebook begannen und sie diese in vielfältiger Weise wiederverwendet haben, wird als ein eher nebensächliches Phänomen betrachtet.“ Der Text entstand im Umfeld einer hier von der taz beobachtete Tagung zur digitalen Literatur, die jüngst in Berlin stattgefunden hat. Noch mehr Kürzesttexte bietet übrigens dieser Leseautomat an. Die SZ berichtet: „Die ersten acht Exemplare werden seit Oktober in ihrer Geburtsstadt Grenoble getestet. An Orten, wo man oft anstehen muss: im Rathaus, in

51xq3N8VElL._AC_UL320_SR214,320_Bürgerzentren, in der Leihbücherei, im Tourismusbüro. Ein Meter hoch ist der elegante Automat, oben auf dem orangenen Schaltpult fallen drei Knöpfe auf, daneben stehen die Ziffern 1, 3 und 5. Eine, drei oder fünf Minuten Lesezeit – der Kunde kann je nach Laune und absehbarer Wartezeit auswählen, wie viel literarische Unterhaltung ihm die Maschine schenken soll. Der Apparat hat 600 Storys gespeichert, der Zufall bestimmt, wer welchen Text erhält.“ Vielleicht ist das ein neues Geschäftsfeld für AutorInnen – ich erinnere mich, dass der in Wuppertal lebende Bildhauer Tony Craig etliche Skulpturen verkauft hat, die ganz funktional z.B. Klimanlagenblöcke verdecken. Mehr Twitteratur gibt es hier.

Pausenvideo

Shakespeare-Solos: Zum 400. Todestag von William Shakespeare haben mehrere großartige Schauspieler Clips mit den schönsten Stellen aus dem Werk erstellt. Das Video oben zeigt Adrian Lester als Hamlet.

Konsuminventur

svbuchhaus2-0Farewell: Das Düsseldorfer Buchhaus Stern-Verlag schließt Ende März, und Blogger Sebastian Brück schreibt auf Facebook eine rührende Liebeserklärung, die hundertfach geteilt wurde und die davon erzählt, wie er sein Herz an ein Geschäft verloren hat (Plattenfreunde und Vinyl-DJs werden das Lied mit leicht verändertem Text längst kennen). Er schreibt: „Ein Freund hat mir letztens erzählt, er habe sich Deinetwegen sogar strafbar gemacht. Irgendwann Ende der 80er: Gestöbert, dabei die Zeit vergessen und schließlich mit einem unter den Arm geklemmten Buch, das er eigentlich kaufen wollte, das Geschäft verlassen. Aufgefallen ist ihm sein Diebstahl erst zu Hause. Zurückgetraut in den Laden hat er sich aber nicht. Der Fall ist inzwischen sicher verjährt, für Dich hatte er positive Langzeitfolgen: Der Täter hat mir berichtet, dass er seitdem ein umso treuerer Kunde geworden ist – und Amazon bis heute boykottiert.“ Nahezu gleichzeitig plant Amazon die Eröffnung stationärer Buchläden (oder auch nicht). (Bild von der Website des Stern-Verlags).

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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