Oft hört man derzeit die Idiotenformel „falsche Toleranz“ – und man fragt sich, was das eigentlich sein soll, werden die beiden Worte inzwischen auf alles angewandt, Nazis, Linke, Bürger, Ausländer, Männer, Frauen. Da möchte man sogleich Saša Stanišić unterstützen, der in dieser Woche träumte: „Ich möchte bei einer PEGIDA-Demo Hölderlin, Tucholsky und Karl May lesen mit meinem nicht aus Deutschland zu vertreibenden slawischen Akzent, mein rigoroses „r“ wirrd mich verrraten, dem Sprechen ist niemals zu trauen.“ Und bevor wir nun jede Form der Toleranz als falsch bezeichnen, lohnt sich die Frage mit Günter Leitenbauer: „Wusstest du, dass 65% aller Verbrechen von Brillenträgern begangen werden? Und die Polizei tut nichts dagegen. Im Gegenteil, man fördert die noch!“ (Eine schöne Zusammenfassung darüber, wie Rassismus funktioniert.) Passend dazu: das Informations-GIF der Woche. – Das obige Beitragsbild kommt von der New York Public Library, die gerade einen großartigen Katalog freier Fotografien online gestellt haben. Gezeigt wird hier die Sicht auf eine Buchhandlung an der Ecke 4th Avenue – 10th Street (East) aus dem Jahr 1938.
Kurzer Atem: Die Selbstverlegerin Katherina von Haderer (Bild links mit Katze Agathe) hat im Juli 2014 ihr Fantasybuch “Das Herz im Glas” veröffentlicht. Auf ihrem Blog berichtet sie hier, unter unglücklicher Verwendung des Worts „Schreiberling“ (einem der Lieblingsbegriffe Joseph Goebbels) über die Schnelllebigkeit in der Verlagsszene („Wer in den ersten 1-3 Tagen nicht alles aus den Verkäufen rausholt, rutscht unten durch.“). Sie macht eine Beobachtung, die übrigens auch professionelle Autoren bestätigen können: „Die Zerfallszeit eines Buches lag (..) zwischen 1,5 und 3,5 Monaten (…) bis meine Verkäufe wieder ‚unten‘ waren.“
Kurz zusammengefasst: und zwar 1100 deutsch- wie englischsprachige Sachbücher – das ist das Geschäftskonzept des Start-ups Blinkist. Sie versprechen hier auf der Homepage „den schnellen Weg zu mehr Wissen.“ Als Beginn des Weges ist es gewiss nicht schlecht und als Nachschlagewerk durchaus sinnvoll – ersetzt aber keinesfalls die Lektüre guter Bücher. Leo Tolstoi sagte einmal auf Nachfrage, wollte er die Aussage von „Anna Karenina“ geltend machen müsste er das Buch noch einmal schreiben. Für 2016 strebt Blinkist eine Verdopplung des Teams von 20 auf 40 an. Gerade haben die Berliner 4 Millionen Finanzierung erhalten.
Kurz vergessen: Die neue ARD-Serie „Die Stadt und die Macht“ wurde zwar an vielen Stellen verrissen – der Sender ist dennoch stolz, einen „House of Cards“-Klon produziert zu haben. Regisseure und Schauspieler stellen die Serie groß vor; nur eine wichtige Sparte wurde komplett vergessen, berichtet hier die F.A.Z. – die Drehbuchautoren. „Es macht den Anschein, dass erfolgreiche Serien ganz ohne Drehbuchautoren entstehen. Nur schlechte Serien scheinen Drehbuchautoren zu haben. Ein typisch deutsches Phänomen: über Autoren meckern und sie im vermuteten Erfolgsfall verstecken.
Warum hat man hierzulande solche Angst davor, Autoren beim Namen zu nennen? Ist es Futterneid am Erfolg? Ist es die Angst, sie angemessener für ihre Arbeit bezahlen zu müssen? Die Angst, ihnen wie in Amerika mehr Mitspracherecht an der kreativen Umsetzung ihrer Ideen zusprechen zu müssen? (Wobei das in Amerika wunderbar funktioniert, liebe Branchenleute, die nach Kreativen wie in Amerika schreien.)“ Das 400 Seiten umfassende Seriendrehbuch wurde übrigens verfasst von Annette Simon, Christoph Fromm und Martin Behnke (Bild); nach einer Idee von Martin Rauhaus.“
Kurz gelesen: „Wer im Eiltempo liest, bekommt meistens auch weniger vom Text mit“, berichtet aktuell das Magazin Spektrum. 200 bis 300 Wörter können gut trainierte Leser durchaus erfassen, ergab eine Studie der University of California in San Diego, die wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Lesen der vergangenen Jahrzehnte auswertete. Wer nun versuche, sich um das Doppelte bis Dreifache zu steigern, „muss damit rechnen, gleichzeitig weniger vom Inhalt mitzubekommen. Das sei etwa bei Programmen der Fall, bei denen die einzelnen Wörter blitzschnell hintereinander genau im Zentrum eines Bildschirms eingeblendet werden, schreiben die Forscher.“
Kurz kopiert: In der Selfpublishing-Szene gibt es einen pikanten Skandal, der hier von Matthias Matting zusammengefasst worden ist. Katja Piel schreibt auf ihrer Facebook-Seite: „Heute teile ich euch mit, dass die Romane ‚Alles begann mit dir‘ und ‚Das Amulett in mir‘ tatsächlich abgeschriebene Bücher sind. Ich werde die Links an den Verlag weitergeben, damit er es prüfen kann und mit allen Konsequenzen leben.“ Abgetippt, nicht bewusst plagiiert hat die „Autorin“ vor 30 Jahren einen Heftroman der „Denise“-Reihe (Leute, fragt nicht!) – als reine Tippübung. Die Ausrede Begründung ist, dass sie den Text irgendwann auf einem alten USB-Stick wiedergefunden und die Geschichte dann für ihre eigene gehalten hat. – Mir wäre Ähnliches beinahe mit „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann passiert, den ich unter dem Titel „Aschenbach und ich“ hier im Blog als Fortsetzungsgeschichten veröffentlichen wollte, nachdem er auf meiner Festplatte aufgetaucht war. Der neue Roman von Katja Piel wird übrigens „Tod auf Ibiza“ heißen.
Pausenvideo
Kurz erklärt: Ausschnitte der Theorien von Martin Heidegger und Karl Marx aber auch Pop-Philosophie und Pulp-Fiction werden hier in 8-Bit-Videoästhetik erklärt. Der Sound nervt, aber die Beobachtungen sind mindestens so wahr und unterhaltsam wie die Synopsen von Blinkist (und dazu kostenlos).
Konsuminventur
Kurze Clips: In knappen Texten und reduzierten Bildern stellt die „Konsumästhektik“-Seite verschiedene Wissenschaftsprojekte vor, unter anderem von den initieerenden ProfessorInnen Heinz Drügh, Birgit Richard, Moritz Baßler (Zweitgutachter meiner Dissertation) und Wolfgang Ullrich (hier im Blog). Es geht u.a. um „Unboxing als Erweiterung des Konsumfetisch“ (ein Dissertationsprojekt von Eleni Blechinger), um „Schwarze Ästhetik und den Konsum der letzten Dinge“, um „Marken in der Popmusik“ und komplementär dazu um „Popmusik in der Markenwerbung“ (ein Dissertationsprojekt von Melanie Horn).