#91 am Wahlsonntag, deshalb mit einigen Parteianspielungen, nach einer langen Bücherwoche, in der Hubert Winkels in meiner Sendung zehn Minuten lang über Frank Witzels „Direkt danach und kurz davor“ gesprochen hat, mit einem Special von Holger Heimann über unser Messe-Gastland Frankreich und mit dem hochinteressanten Buch „Nervöse Systeme“, vorgestellt von Philine Sauvageot. (Das Beitragsbild ist vom „Lesen mit Links“-Instagram-Account und zeigt das Café Books and Brunch in Brügge.)
Es ist vorbei: und damit meint Sandra Kegel nicht die Kanzlerkandidatur von Buchhändler Martin Schulz, sondern die Literatur. „In nur fünf Jahren brach der Umsatz gedruckter Bücher um dreizehn Prozent ein.“ Nur jeder Fünfte liest, selbst Kuchenessen ist beliebter, und dann sind da noch Siegfried & Roy, denn „der intellektuelle Resonanzraum schrumpft stetig – und weicht dem Raum für Events. Statt selbst zu lesen, besucht das Publikum lieber spaßige Veranstaltungen in Literaturhäusern oder bei Lesefesten. Damit ist die Literatur im Unterhaltungssegment angekommen, wo sie mit Comedy-Auftritten, Zaubershows und Facebook konkurriert.“
Dietmar Dath: Gerade ist bei Manesse „Boston“ von Upton Sinclair in einer Neuübersetzung von Viola Siegemund erschienen, hier von Christoph Schröder besprochen als „Buch der Woche“ im Deutschlandfunk. Das CulturMag hat nun Dietmar Daths fantastisches Nachwort online gestellt, das mit der großen Frage beginnt: „Kann ein Roman wahr sein? In welcher Gebrauchsweise des Wortes «Wahrheit» steckt die Möglichkeit, ein Erzählkunstwerk an diesem Wort zu messen?“ – Nun, Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund (Hartmut Lange). Dorthin kommt auch Dath, wenn er schreibt: „Dass Romane wahr sein können, erscheint uns heute noch zweifelhafter als früheren Zeiten, leben wir doch in einer Epoche, da nicht nur die Textwissenschaft, sondern sogar das lesende Breiten und Laienpublikum allgemein Wahrheitsansprüchen von Texten, selbst sorgfältig recherchierten, mit äußerstem Misstrauen zu begegnen gelernt hat.“
Vom Gleichsein und Anderssein: In der „Bücher für junge Leser“-Sendung von Tanya Lieske stellt Maria Riederer hier Kinder- und Jugendbücher vor, die sich dem eminent wichtigen Thema „Inklusion“ widmen, von Klassikern wie Max von der Grüns „Vorstadtkrokodile“ bis zu Tom Tiraboscos autobiografischer Graphic Novel „Wunderland“. Der Schweizer Autor erzählt darin von seiner Kindheit und Jugend, von seiner Familie und seinem künstlerischen Werdegang. Eine zentrale Rolle spielt sein jüngerer Bruder Michel: „Mein Bruder wurde mit zwei verkürzten Armen, ohne Hände und mit einem verkürzten Bein geboren, das dann auch noch amputiert wurde, damit er eine Prothese tragen konnte.“ Riederes Fazit: „Alles gut? Keineswegs. Auch wenn die Protagonisten noch so gut in die gewohnten Erzählformen integriert werden – die Dramatisierung ihrer Andersartigkeit bleibt doch nicht aus. Inklusion ist möglich, aber der Wunsch der Betroffenen nach wirklicher Normalität bleibt in der Literatur – wie im Leben – unerfüllt.“
Besatzungsmacht: Es hätte so wundervoll werden können an der Berliner Volksbühne. Da möchte das Künstlerkollektiv „ Staub zu Glitzer“ ein neues „Anti-Gentrifizierungszentrum“ schaffen, stürmt die wilden Räumlichkeiten, aber Intendant Chris Dercon stellt den Vögeln, die Berlin „geil again“ machen wollen ein Ultimatum. Ich war nach Jan Küvelers fantastischem Text und diesem Satz: „Bitte beachtet, dass wir ein feministischer, antirassistischer, queerer Raum sind“ schon auf dem Weg in die Haupstadt. Daraus wird wohl nix. Stattdessen habe ich mein „Utopia Stage“-Feature bei Soundcloud hochgeladen.
Pausenbild/Konsuminventur
Nichtwähler: Diese interessante Reportage von Deutschlandfunk Nova und Zeit Campus portraitiert die hochbegabte Tochter von Hartz IV-Empfängern, die sehr luzide erklärt, weshalb es Menschen gibt, die aus reinem Frust selbst heute daheim bleiben werden – trotz der wundervollen Robbie-Williams-Wahlplakate, die überall in unseren Städten hängen (Buzzfeed: „This one is very „I just got divorced and decided to try out Tinder for the first time“ and I love it.“). Anna Mayr schreibt: „Dass mein Blick auf die Welt ein bisschen anders ist, habe ich zum ersten Mal gemerkt, als ich in der achten Klasse war. Wir hatten Politikunterricht und sollten eine Tabelle machen, mit zwei Spalten. In die linke Spalte sollten wir Sachen schreiben, die wir brauchen. Und in die rechte Spalte Sachen, die wir gerne hätten oder uns wünschen. Ich habe in die „Brauchen“-Spalte neben Essen und Wohnung geschrieben: „neue Schuhe“. Und ich erinnere mich ziemlich genau daran, wie meine Lehrerin mir erklärt hat, dass das falsch war. Neue Schuhe braucht man nicht. Man will sie, weil man eben eigentlich ein paar zur Auswahl hat. Typisch Mädchen, haha. Aber ich meinte das ernst, mit den Schuhen, weil ich wirklich welche gebraucht hätte. Nur, es war Ende des Monats und gerade kein Geld dafür da, neue zu kaufen. Aber anstatt meiner Lehrerin das zu erklären, habe ich die Zeile durchgestrichen. Ich wollte nicht auffallen.“ (Und bevor Ulf Poschardt wegen des Fotos in die Hände klatscht: Ich bin SPD-Stammwähler.)
Buch der Woche
Schöner Sex: Dieses Buch habe ich für die Linkradar-Überschrift gelesen, weil ich glaube, dass kaum eine Zeile besser klicken kann in unserer (sterbenden, siehe oben) Branche als jene, die Hanser-Verlagsleiter Christian Lindner Jo Lendle („ein anmutig schöner Mann“) in Verbindung bringt mit „Hodensack Scham Muttermund“, was nur ein Zitat ist aus Margarete Stokowskis Gedicht „Wie man über Sex schreibt“ (Akzente 3/17, mit herausgegeben von Navid Kermani). Seit einiger Zeit ist Akzente die bessere „Bella triste“. Dieses Mal gesteht A.L. Kennedy: „Es ist schrecklich schockierend, wenn man entdeckt, dass Sex kein Gratisantrieb ist – sondern eine Examensprüfung, die man als Autor ständig ablegen muss.“ Unerhört erotisch: Liao Yiwu mit seinen „Liebe und Tod“-Miniaturen. Zum Schluss Navid Kermani: „Mein liebstes Wort im Persischen ist hamdam. Es bedeutet so viel wie „Gemeinsames Atmen“ oder „Gleichatmende“ und ist eine Bezeichnung für Eheleute oder überhaupt zwei Menschen, die sich lange lieben.“ Großartig.