Linkradar: Einhörnergrillen im Winter

Wie sieht sie aus, die Zukunft des Buchmarktes? Und wie brät man eigentlich ein Einhorn? Eine Novelle muss sich gegen christliche Eiferer durchsetzen. Es gibt ein kostenloses E-Book, die Chance auf 10×10 Bücher, einen Einblick in Clemens J. Setz’ prägeniale Frühphase und eine schwule Leseempfehlung für Wladimir Putin, anlässlich der bald beginnenden Olympischen Winterspiele in Sotschi. Das alles jetzt: im Linkradar – mit einem Special-Tipp für alle Freischreiber: die haben jetzt ihre eigene Bibel.

BuchmarktZur Zukunft der Buchindustrie“ hat das Fachmagazin BuchMarkt ein Dossier zusammengestellt, das kostenlos runtergeladen werden kann. Wie kann ich Geld verdienen ohne Verlag? Es gibt ein Bekenntnis zu Inhalten, die ausnahmsweise mal nicht „Content“ heißen müssen. Gut ist auch das sich langsam durchsetzten Bekenntnis zur Emotionalität der Ware „Buch“, die immer noch im Handel weitestgehend ignoriert wird.  Schönste Info zum Wochenende: „In den europäischen Wohlfahrtsstaaten haben die Menschen heute ca. 100 Tage mehr Freizeit als in den Fünfziger Jahren.“ Zum Wandel passt auch, dass in dieser Woche erstmals die Top Ten bei Amazon komplett aus Selfpublishingtitel bestand.

IMG_1679Heute lag sie endlich in der Post, festgelesen habe ich mich sofort: In der Freienbibel des Freischeiber-Verbandes. 282 Seiten über Honorarverhandlungen, Blog-Kapitalisierungen, über Elterngeldanträge, einem Basiskurs zur Auftragsakquise, Recherche- und Dokumentationshinweisen, „innovativen Geschäftsmodellen“, kurzen Werkstattberichten freier Journalisten aus allen Bereichen (Print, Radio, Fernsehen, Fotografie, Internet, CP, PR et cetera). Wie verdiene ich auf der ganzen Welt Geld mit meiner freien Tätigkeit? Auch die „andere Seite“ kommt zu Wort – festangestellte Redakteure basteln sich ihren Lieblingsfreien. Die Hymne des Verbandes gibt es hier.

Zweier„Ich las schon im Oktober, vor der eigentlichen Lesereise, an einer Realschule in Schwäbisch Hall. Dort empfing mich eine nervöse Lehrerin. Sie sagte, dass sich ihre Schule gegen ‚Zweier ohne‘ entschieden habe, weil ‚christliche Eltern‘ das so wollten. Warum soll ich dann hier lesen, fragte ich. Die Schüler sollten mal einen Schriftsteller kennenlernen, sagte sie. Max Frisch sei ja schon tot.“ – Dirk Kurbjuweit geht in einem SPIEGEL-Text der Frage nach, weshalb seine angeblich christliche Gefühle verletzende Novelle nicht mehr alleinige Prüfungslektüre in Baden-Württemberg ist und „Zweier ohne“ gegen „Andorra“ gesetzt wurde. „Es geht um eine Konkurrenz der Ekstasen.“

Buchtitel„Zweier ohne“ würde nicht gewinnen: Im Rahmen der Leipziger Buchmesse wird das Social-Reading-Portal „Was liest Du?“ den „Ungewöhnlichsten Buchtitel des Jahres“ prämieren. Unter allen Teilnehmern 10 x 10 Bücher verlost. In England genießt die Auszeichnung des „Oddest Title of the Year“ seit Jahrzehnten einen wahren Kultstatus und geht bis ins Jahr 1978 zurück, als Bruce Robertson, ein Buchhändler der „Diagram Group“, die Idee zu dieser besonderen Prämierung hatte. Weitere Infos gibt es hier. Die Jury setzt sich zusammen aus „Generation Doof“-Autorin Ann-Kathrin Schwarz, Thrillergott Sebastian Fitzek, SAT 1-Rezensent Peter M. Hetzel, Nido-/jetzt-/Neon-Erfinder Timm Klotzek und mir.

cccSuhrkamplektor Lars Claßen (Bild) spricht in einem Interview über gute Literatur und schreibt jetzt im Open-Mike-Blog über die Kraft des Eremitischen und wie man als Autor zur finanziellen Sicherheit kommt. Wer sich bereits durchgesetzt hat, las am Donnerstag beim HAM.LIT-Festival auf St. Pauli. In diesem Jahr gibt es ein schönes Geschenk: Die lange Nacht der jungen Literatur und Musik gibt’s jetzt nämlich auch zum Mitnehmen. In Zusammenarbeit mit CulturBooks entstand ein kostenloses eBook mit allen Texten der diesjährigen Autoren wie Stefanie de Velasco, Roman Ehrlich, Nora Gantenbrink, Dmitrij Gawrisch, Gunther Geltinger, Katharina Hartwell, Dorian Steinhoff, Uljana Wolf.

UnicornIn der „British Library“ ist ein Einhorn-Kochbuch aufgetaucht oder vielmehr: eine Rezeptsammlung mit Einhorn-Teil (Knoblauchmarinade, dann ab auf den Rost). Experten gehen davon aus, dass dieses makabere Kochbuch von Geoffrey Fule zusammengestellt wurde, der in der Küche von Philippa von Hennegau, Königin von England (1328-1369) gearbeitet hat. Ich bin via Clemens J. Setz darauf gestoßen (und dann leider auch darauf und darauf – ich lasse es hier dennoch drin), der gerade im Suhrkamp-Logbuch , darunter „Der Tod eines Gentleman, annonciert in der Zeppelin-Zeitschrift“, „Erlebnisaufsatz: Wie ich meinen ersten Sklaven bekam“ und „Mein Abend mit den drei vollkommen identischen Tauben“.

1118 Meisterwerke hat der italienische Künstler Rino Taglifierro animiert und einen schillernd-schönen Kurzfilm geschaffen. Darunter Tizianos „Venus von Urbino“, einige Bilder von Caravaggio, „Rest“ von Paul Peel (interessant fand ich den Hinweis, sein Werk sei „der akademischen Kunst verpflichtet“). Ziemlich unheimlich animiert: „A young girl“ von Jan Lievens, ebenso die „Abtei im Eichwald“ von Casper David Friedrich. Wer zu letzterem mehr erfahren möchte ist laut F.A.Z. gut aufgehoben bei diesem Buch von Johannes Grave, das sogar mit Niklas Luhmanns Systemtheorie argumentiert. (2012 erschienen bei Prestel, 225 S. 99,- Euro.)

SchalkoDer Special-Tipp: Lieber Wladimir Putin – Du bist doch ein kerniger Bursche. Du liebst die Wälder, die Seen, das klare Wort. Genauso wie Jörg Haider, der verstorbene Hauptmann von Kärnten. Über den hat David Schalko (Bild) ein wunderbares Buch geschrieben – „Weiße Nacht“. Eine schwule Liebesgeschichte zwischen Jörg Haider und seinem „Lebensmenschen“ Stefan Petzer war ein voller Erfolg. Auch konservative Politiker dürfen sich, das wissen wir jetzt, nah in der Manndeckung üben. Dafür bekommt niemand seinen Judo-Gürtel aberkannt. Lies „Weiße Nacht“ von David Schalko und kuschel‘ Dich an Deinen Lebensmenschen. Ist doch kalt. So ganz allein im Winter von Sotschi. #BuchtippsFürPutin #Olympia.

Konsuminventur

tinderAm gestrigen Abend saß ich mit Kopfschmerzen da und dachte, mein Hirn würde zerspringen. Lag vielleicht am Internetseiten klicken, ein Zappen, das einen später benebelt zurücklässt.? Das brachte mich auf eine Idee. Kaum kann man sagen, welche Bilder und Schrift-Informationen stundenlang vorbeigerauscht sind. Nun verlangt ja niemand, das Internet komplett zu lesen, weniger täte es auch – aber das ändert nichts an der Idiosynkrasie. Es gibt den Wunsch, das Leben zu verstehen, zu ordnen, greifbar zu machen. (Zwischenzeitlich dachte ich darüber nach, alle Gegenstände, die ich besitze, zu besprechen – doch dann gefielen mir die bereits hier vorgestellten

rezensionProduktrezensionen von Wolfgang Ullrichs Team so gut, dass ich diese Sache erst einmal begraben habe). Jedenfalls geht es bei dieser Idiosynkrasie nicht nur um Ausstellungen, Clips, Bücher, Songs und Stars,sondern ebenso: um die schnell nebenbei bediente App, um ein neues Produkt im Supermarkt, um den Beipackzettel eines Medikaments. Das müssen nicht alles die hippsten Innovationen sein. Deshalb folgt nun: Eine Konsuminventur. Inspiriert vom „Cultural turn“ der Geisteswissenschaften versuche ich mich ergänzend an einer Lebens- und Medienmitschrift, ein Absatz nur, unterhalb des Literatur-Linkradars. Persönliche Spielwiese. Zur Eröffnung eben dies:

SmoothieIm Supermarkt gesehen: Smoothies der ohnehin sehr interessanten Marke „Innocent“ mit Urban Knitting-Anmutung – eine Aktion, die bereits seit 2011 läuft und dazu geführt hat, dass allein für 2014 eine viertel Million Mützchen eingeschickt wurden, von Konsumenten die zu den Stricknadel gegriffen haben nach Anleitungen, die Innocent hier online gestellt hat. Für jeden verkauften Smoothie mit Mütze spendet Innocent 20 Cent an das Deutsche Rote Kreuz, „das damit ältere Menschen warm durch den Winter bringt“. Enkel strickt für Oma. Ich nehme es als schönes Beispiel dafür, welcher Nutzen im  Jetzt-Archiv liegt (ich hatte es fotografiert, aber wusste nicht so Recht, was die Mätzchen bedeuten).

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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