#93 In wenigen Stunden werden Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron die Frankfurter Buchmesse offiziell eröffnen – ich werde um 17:35 Uhr in der Deutschlandfunk-Sendung „Kultur heute“ berichten. Bis Sonntagabend werden der „Büchermarkt“ und „Lesen mit Links“ herausgefordert, mit Interviews, Messeempfängen, mit der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises am Freitag, einer „Streitkultur“ über Schreibschulen am Samstag und einigen Standbesuchen (Hanser, Edel, Orbanism Space). Unter dem Motto „Francfort en français / Frankfurt auf Französisch“ werden 180 französischsprachige Autorinnen und Autoren in der Buchmessewoche in Frankfurt erwartet und 300 Veranstaltungen stattfinden, außerdem wird es Live-Sendungen von der Deutschlandfunk-Bühne geben – und damit wir alle auf dem gleichen Stand sind, gibt es einen Vor-Messe-Linkradar mit dem Wichtigsten und Schönsten, was die vergangene Woche zu bieten hatte. Das Beitragsbild zeigt den Blick vom Fleming’s Club zu den Türmen des Frankfurter Bankendistrikts.
„Lesen mit Links“ ist kein feministischer Blog, sondern hat sich allein der Gerechtigkeit verschrieben. Aus zweiterem Grund habe ich gesprochen mit Katharina Herrmann, die auf 54books den Beitrag „Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen“ veröffentlicht und Diskriminierungsphänomene aufgelistet hat, über die man auch für den Übersetzungsbereich hier im Guardian gelesen hat – und mit stets neuer Verwunderung registriert. Deshalb zeigt das linke Bild ein Cover von „The Letters of Sylvia Plath“, das hier bei Jezebel sehr luzide thematisiert worden ist mit den Worten: „If the bikini-beach-read Plath is eye-rolling, then it’s indicative of a broader problem of how to handle the visual representation of women writers and also their books. “Feminine signifiers” are standard for the covers of women’s books: lipstick, laundry on the line, and laying on a beach commonly grace the covers of books written by women, no matter how highbrow or serious.“
„In nur fünf Jahren reduzierte sich der Umsatz gedruckter Bücher um dreizehn Prozent auf etwa acht Milliarden Euro im Jahr 2016“, schreibt Tanja Tricarico hier im Abendblatt und fragt nach, was getan werden kann, denn: „In der Branche herrscht kurz vor der Buchmesse in Frankfurt am Main eine Stimmung aus Resignation und Furcht vor der Zukunft. Denn der Trend zeigt weiter nach unten. Laut Börsenverein des deutschen Buchhandels haben im vergangenen Jahr rund 30 Millionen Menschen Bücher gekauft – im Vorjahr waren es noch über zwei Millionen mehr.“ (links: der S. Fischer-Messestand heute Mittag im Aufbau-Stadium.)
Die Schriftstellerin Jagoda Marinić erzählt in ihrem lesenswerten taz-Artikel „Was heißt eigentlich Leistungsträger?“, weshalb Freiberufler keine Lobby haben und wo die vermutlich kaum bekannten Schwierigkeiten stecken: „Es ist eine Berufsentscheidung, die zur Krake wird, deren Arme in jeden Lebensbereich reichen. Kann der Partner mit dieser Selbstverwirklichung? Ähnlich, wie die Vegan-Bewegung mit dem Slogan „Du bist, was du isst“ wirbt, müsste dieser Einzelkämpfer-Leistungssektor mit „Du bist, was du tust“ arbeiten. Das klingt gut, aber ich möchte weder als Chiasamen noch als Start-up-Projekt aufwachen. Was bleibt?“
Pausenbild
Diese Tür, geschlossen, ist minutenlang im Bild während des Live-Streams der Schwedischen Akademie (den Hubert Winkels, Felix-Emeric Tota und ich natürlich gemeinsam angeschaut haben), bevor Sara Danius, die ständige Sekretärin der Schwedischen Akademie pünktlich um 13 Uhr den neuen Preisträger verkündet. In diesem Jahr hatten die Buchmacher unter anderem Ngũgĩ wa Thiong’o, Margaret Atwood und Haruki Murakami ganz weit oben gesehen – doch das Rennen gemacht hat Kazuo Ishiguro, über den Andreas Platthaus von der F.A.Z. später im „Büchermarkt“ sagte: „Was mich beeindruckt, ist die Eleganz des Schreibens, das unglaubliche Formbewusstsein, was er hat, das Spiel mit den verschiedenen Möglichkeiten. Gerade in seinem letzten Buch ‚Der begrabene Riese‘ gibt es immer wieder einen durch Fußnoten in die eigentliche Handlung hinein regierenden und agierenden Erzähler, der alles das wieder neu infrage stellt, was da berichtet wird. Das Ganze ist ganz tief in der englischen Geschichte im angelsächsischen Bereich um die Artus-Sage herum angesiedelt. Die Breite auch der Themen ist sicherlich etwas, was Kazuo Ishiguro bemerkenswert macht, weil man nie sicher sein kann, welchen Themen er sich zuwenden wird.“
Buch der Woche
Deutscher Buchpreis: Verdienterweise heißt der diesjährige Gewinner Robert Menasse, auch wenn man einwenden könnte, dass Sasha Salzmann mit „Außer sich“ schon allein deshalb den gewaltigeren Europa-Roman geschrieben hat, weil sie ihren Schauplatz ins Asiatische ausdehnt bis nach Russland und die Türkei – und auch hier etwas spürt von jenem Spirit, der die kulturelle Verfasstheit Europas charakterisiert. „Die Hauptstadt“ erzählt vom ins Groteske ausartenden Versuch der Brüssler Generaldirektion „Kultur und Bildung“ zum 50-jährigen Kommissionsjubiläum einen Parallelakt auszurichten konträr zu den nationalchauvinistischen Feierlichkeiten der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten – mit den letzten verbliebenen Auschwitz-Überlebenen. Das wiederum eröffnet ab Seite 101 die Möglichkeit, über das Shoah-Gedenken mit Lubitsch, Chaplin und Benigni im Hinterkopf zu lachen, wenn einer der EU-Beamten per E-Mail eingeladen wird mit den Worten: „Sehr geehrter Herr Susman, ich freue mich, Sie schon bald in Auschwitz begrüßen zu können.“ Großes Buch.