Die erste Woche nach der Leipziger Buchmesse hat trotz des heutigen Frühlingsanfangs etwas Winterschläfriges, nach endlosen Parties, Betriebsabendessen, Standgesprächen, Moderationen. Ich musste/durfte beispielsweise beim „Preis für den ungewöhnlichsten Buchtitel“ der Mayerschen Buchhandlungen ran den Poetry-Slammer Thomas Spitzer gewann für seinen Titel „Wir sind glücklich, unsere Mundwinkel zeigen in die Sternennacht wie bei Angela Merkel, wenn sie einen Handstand macht“. Am Ende dieses sehr, sehr langen Wochenendes liegt man halbtot im Bett und schaut zur Decke und liest nur noch ganz alte Schinken. So habe ich im Antiquariat das uneingeschränkt empfehlenswerte, da in feinstem Deutsch geschriebene Werk über Immanuel Kant von Houston Stewart Chamberlain erstanden (hier gibt es das Ganze auch kostenlos im Netz). Ein Genuss. Die literarische Welt drehte sich derweil weiter – und wieder wurde debattiert: Über die Bedeutung von Literaturblogs, über ein Buch aus dem Verbrecher Verlag, das leider nur geschwärzt erscheinen darf, über E-Books und natürlich auch über Jan Wagner, der den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Lyrikband „Regentonnenvariationen“ gewann: Was Georg Diez vom Spiegel gar nicht gefiel. Das zu diesem Penis-Moderations“unfall“ passende Beitragsbild kommt heute von dieser kuriosen von boredpanda-Serie mit extrem verstörenden Kinderbuchausschnitten.
Maron mag nicht: Wunderbar war, dass der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe hinter „Verbrecher Verlag“ schrieb: „der wirklich so heißt“. Was war geschehen? Das Erinnerungsbuch „Der Schmuggel über die Zeitgrenze“ von Chaim (eigentlich „Hans“) Noll (Bild) kann nicht ausgeliefert werden, weil Schriftstellerin Monika Maron gegen mehrere, ihr Privatleben thematisierende Seiten vorgegangen ist, die ihr „aberwitzig und niederträchtig“ (Maron im Spiegel) erscheinen. Im Deutschlandradio kommentiert Noll hier die Entscheidung als literaturfeindlich. Maron ist die Stieftochter des DDR-Innenministers Karl Maron, Noll Sohn des in der DDR protegierten Schriftstellers Dieter Noll.
Tabletlesen per du: Es gibt A-, B-, C-Promis und es gibt E-Books. Bei Letzteren bleibt der erwartete Durchbruch aus. Handelsblatt-Kolumnist Hans-Peter Siebenhaar schreibt, dass 2014 das Wachstum bei E-Books lediglich 7,6 Prozent betragen hat. „Im vorletzten Jahr waren es noch 60,5 Prozent. Auch die Zielgruppe der elektronischen Bücherleser wächst nur im Schneckentempo. Nur 3,9 Millionen aller deutschen Bücherleser kauften im vergangenen Jahr ein E-Book. 2013 waren es bereits 3,4 Millionen Menschen.“ Aber sind diese Zahlen ein direkter Beleg, oder verhält es sich hier ähnlich wie bei der Bedarfsschätzung für den IBM 650-Rechner von weltweit 50 Stück? (Bild)
Mutmaßungen über Relevanz I: Die Leipziger Buchmesse lud 2015 erstmalig so genannte Bloggerpaten ein, um über den Preis der Messe zu berichten. Thomas Hummitzsch (Bild) vom Kulturblog „Intellectures“ berichtete später (eben hier), weshalb die Szene mit der Betreuung und Vermarktung unzufrieden gewesen ist: „Wenn die Messe Aufmerksamkeit durch Blogger will, dann muss sie auch Aufmerksamkeit an die Blogger zurückgeben. Das ist kaum gelungen, die mediale Berichterstattung (meines Wissens nach eine DPA-Meldung mit anschließender Verbreitung, ein MDR-Netzreporter-Bericht und einen RadioEins-Beitrag) ist mau, die Onlinevermarktung der Aktion aus Bloggersicht ein Trauerspiel.“
Mutmaßungen über Relevanz II: Die gab es bei diesem Gespräch mit RBB-Redakteurin Anne-Dore Krohn. „Das Thema Buchblogs ist eine Art Hype“, sagt Krohn (Lieblingskunstwerk: Der Blumenstrauß, gezeichnet von Janosch). „Man sollte sich bewusst sein, dass man sich in diesen Buchblogs nicht im Feuilleton bewegt. Da gibt es keine Redaktionskonferenzen und keine Redigatur.“ Lektor Patrick Hutsch (Bild) äußerte sich auch kritisch über zugeflogene Herzchen und Knuddelbärchen im Bloggerkosmos. Aber, auch das weiß ich jetzt: Buchblogs punkten, wenn es um Erotika oder Phantastik geht. Das Feuilleton badet eben nur beim Bachmannpreis in Klagenfurt nackt.
Giersch auf Diez reimt sich nicht: Der Spiegel-Autor, der als bekennender Fan des #Akzelerationismus meine volle Sympathie hat (und der auch Gast dieses Zündfunk-Features war), ätzte in seiner Kolumne über die Vergabe des Preises der Leipziger Buchmesse an Regentonnen-Lyriker Jan Wagner („Weg mit den Weidenkätzchen“). Im Feuilleton von Der Freitag erschien daraufhin meine Erwiderung. Der fundierteste Text, der natürlich nicht so unterhaltsam ist wie der von Georg Diez, kommt von Fixpoetry, die eben hier über die neue deutsche Lyrik informieren (man muss runterscrollen) – anhand einer inzwischen traditionellen Veranstaltung der Leipziger Lyrikbuchhandlung (Bild).
Pausenbild
(Das war natürlich klar: gerade in dem Moment, wo der Scheinwerfer mein Resthaupthaar wegleuchtet drücken die Kollegen von „Was liest Du“ ab und stellen das Bild von der Preisverleihung für den „Ungewöhnlichsten Buchtitel 2014“ eben hier online. Ich fühle mich wie Tom Cruise in „Tropic Thunder„.)
Konsuminventur
Wer findet den Unterscheid beim neuen Design? – Ich schaue gerne in den Supermarktblog von Peer Schader, der sich mit ganz besonderen Konsum-Phänomenen auseinandersetzt. In dieser Woche geht es bei ihm um das überraschend gleichbleibende Discounterdesign von „Ja!“ Alles ändert sich. Selbst Lidl und Penny basteln an ihrem Design und wollen nicht mehr den Standard anbieten. Nur bei Rewe bleibt (fast) alles gleich. Und die Geschichte dahinter ist zwar eine ganz besonders kleine, lenkt aber mit unspektakulären Mitteln den Blick auf etwas, das normalerweise unter dem Wahrnehmungsradar läuft und deshalb bei der Konsuminventur besonders schön aufgehoben ist.