Ein Mann erschießt seine todkranke Frau, weil er ihr Leiden nicht mehr verantworten kann, an einem stillen Regentag im Herbst: „Sobald du abgedrückt hast, wirst du warten, dreißig Sekunden lang. Du wirst dich zwingen, hinzusehen.“ Dann sieht er hin, sieht verwirrt in ihr blutiges, zu einem Klumpen verformtes Gesicht. Er schreit. Er klammert sich an seine Geliebte, er schreit und klammert, bis er weinend zusammensackt. (Das Beitragsbild ist von Wikipedia).
„Dann wirst du dir den Lauf in die Mulde unter deinem Kinn setzen. Die freie Hand auf ihre Hand legen. Vielleicht in den Himmel sehen.“ Gleich ist es vollbracht, doch der Mann schafft es nicht, sich zu ermorden. „Er zählt in sich hinein. Er horcht, hört seinen Herzschlag und lässt die Pistole sinken, steigt aus dem Wagen, bleibt erst stehen und beginnt dann zu gehen. Er geht eine Weile. Er denkt an nichts. Er kann an nichts mehr denken. Er marschiert auf den Bahndamm zu.“
„Bis dass der Tod“ verspricht die gleichnamige Geschichte, mit dem der 33-jährige Arzt Jens Petersen Ende Juni den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Sein Klagelied über die letzten Stunden eines gemeinsamen Lebens ist unfassbar traurig. In diesem großartigen, flüsternden Text stecken tausend unterdrückte Schmerzensschreie: „Er hat darüber nachgedacht, ihr dieses Gift zu geben, Phenobarbital, irgendwo in einer düsteren Wohnung in Zürich. Sie aus einem Glas trinken zu lassen, während irgendein Fremder ihr mit regloser Miene gegenübersteht. Sie zuvor bittet, einen Zettel zu unterschreiben, dass sie es wirklich will. Dann hat er die Fotos gesehen: Wie Menschen die Augen verdrehen, wie ihre Glieder sich verkrampfen im letzten schweren Kampf. All die Sekunden, in denen man weiß, dass man tot ist und doch noch lebt, Zeit, in der man vermutlich denkt, vielleicht bereut und im Kopf das Echo seines Herzschlages hört.“
Das bringt der Mann nicht fertig, das kann er nicht ertragen, das ist unvorstellbar, das ist martialisch, brutal. Dem Zwei-Meter-Mann Jens Petersen ist das Überragende, das Überwältigende kein bisschen fremd. In seiner Ausbildung als Facharzt für Neurologie, die der gebürtige Pinneberger in einem Zürcher Krankenhaus absolviert, gehören die Schreie, der Tod, das Weinen und das Klagen zum Tagesgeschäft. Und weil das Sterben sein Alltag ist, kann er beim Schreiben auf große Effekte verzichten, auf den groß gemachten Skandal, der in so vielen Geschichten seiner Mitbewerber steckte, er muss nichts erfinden, nur neu beschreiben.
Da kann in Klagenfurt Philipp Weiss ankommen und seinen Text nach der Lesung medienwirksam aufessen oder der ebenfalls mit einem Preis bedachte Ralf Bönt in seiner gut komponierten Biografie über zwei Wissenschaftler ein Quantenteilchen erzählen lassen, das hilft alles nichts, wenn ein Lebensretter erzählt, wie schmerzhaft das lange Sterben ist, unterschwellig dabei immer wieder ruft: „Schaut hin! Ertragt es! Seht dem Tod verdammt nochmal ins Gesicht!“
Bereits im Mittelalter haben große Schriftsteller im Angesichts des drohenden Endes geschrieben, sich einen Totenschädel auf den Schreibtisch gestellt und sich mit jedem Seitenblick an ihre Sterblichkeit erinnert. Die Literatur war hier auch eine Möglichkeit, irgendwie weiterzuleben. Die Größe vieler Geschichten entstand aus einer wahnhaften Angst vorm kalten Grab.
Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, wo Autoren, Lektoren und Kritiker an ihrem Netzwerk strickten, ihrem notwendigen Tagesgeschäft nachgingen, bewegte sich Jens Petersen mit souveräner Coolness durch den „Betrieb“, kickte beim Fußballspiel der Österreichischen Nationalmannschaft gegen das Team der Autoren und Kritiker mit, spontan, denn eigentlich war er zum Schauen erschienen – doch dann musst ausgerechnet ich mich verletzen und er bot sich an, meine Position zu übernehmen. „Geht es mit dem Bein?“, fragte er und versicherte, dass Eiswürfel und Salbe vollkommen ausreichen würden, während besorgtere Damen und Herren mich freundlich darauf hinwiesen, dass es gleich gegenüber ein Krankenhaus gäbe, „vorsichtshalber.“ Ich vertraute dem Arzt. Zähne zusammenbeissen, das geht alles vorbei.
Der Saab-Cabriofahrer Jens Petersen genoss sichtlich seinen Sommerurlaub, die Augen mit einem lässigen Ray-Ban-Modell gegen die manchmal durchbrechende Sonne schützend. Zur Preisverleihung zog er seine Lederjacke an, lachte in die Kameras, steckte das 25000 Euro hohe Preisgeld ein und ließ den großen Augenblick unaufgeregt vorüberziehen. Bereits Montagnacht arbeitete er im Krankenhaus, Schicht ist Schicht, stand den Sterbenden, Verzweifelten, Verletzten und Verwirrten bei, für die es gleichgültig bleiben dürfte, ob ihnen nun ein frisch gekürter Bachmann-Preisträger beisteht in den letzten schweren Stunden ihres Lebens.
Sein Job unterdrücke Kreativität, hatte Jens Petersen in seinem Video vor der Lesung erklärt – große Literatur verhindert dieser Job allerdings nicht. Im Gegenteil.
[…] Liebe als Passion: Was macht Bachmann-Preis-Gewinner Jens Petersen? Wann ist mit dem 2009 angekündigten Roman zu rechnen? Die Klagenfurter Lesestelle sollte das Ende eines fast abgeschlossenen Projektes sein. Ich schrieb Jens in Zürich an. Er antwortete prompt. Tatsächlich arbeitet er inzwischen an seiner Medizin-Habilitation, schreibt auch literarisch („wobei das Problem nicht fehlende Zeit ist, sondern eine ständige, nicht enden wollende Suche nach einer Tonart, mit der ich zufrieden sein kann“) und er sagt: „zum Glück hilft mir die Medizin jeden Tag, mich vom Schreiben zu erholen.“ Auch zum Cabrio gibt es Neues – in der kommenden Ausgabe vom Freitag. […]