Junger Verlag, erstes Programm und jedes Buch ist ein Kunstwerk: Secession euphorisiert mit Steven Uhly und dem absurd übersexualisiertem Debüt „Mein Leben in Aspik“.
„Deine Mutter tat alles, um mich zu gewinnen. Und ich mochte mir damals noch nicht eingestehen, dass ich eigentlich deine Oma liebte. Deshalb heiratete ich deine Mutter und hatte einer Affäre mit deiner Oma.“ Das sind Sätze, die kein Sohn von seinem Vater hören will. Der bemitleidenswerte Held aus Steven Uhlys Debütroman „Mein Leben in Aspik“ wird von Kleinkindbeinen an mit Absurditäten malträtiert. Sein Vater ist abwesend, die erotischen Erinnerungen der eigenen Oma überall präsent. Denn die kann ihre Klappe nicht halten.
Als Gute-Nacht-Geschichte gibt es Sex-Schauermärchen aus dem Krieg und kurz vorm 18. Geburtstag ist diesem Jungen klar: „Es ging in der Liebe gar nicht um Liebe, sondern nur darum, wer das Sagen hat.“ In einer sich ständig neue überschlagenden Screwball-Komödie schwängert der Enkel seine eigene Oma, die wiederum im Verdacht steht, den Opa mit Rattengift ermordet zu haben. „Was für eine schreckliche Familie hatte ich nur! Jeder Glaube an Gutes und Reines würde für immer in mir erlöschen, davon war ich überzeugt.“ – Sein Vater bandelt mit einer indischen Schönheit an, die illegal in Deutschland lebt und später mit dem Sohn zusammen kommt. Wegen einer sexuellen Beziehung zur eigenen Halbschwester wird der Held inhaftiert, (der auch einen Namen hat, aber wen man den hier verrät, petzt den Plot). Wenig später kommt er frei und erfährt, Schock auf Schock, von Porno-Vergangenheiten seiner Erzeuger. Es gibt innerfamiliäre Partnertauschs, die alles Dagewesene überbieten. Dagegen wirkt Kuschelbarde Enrique Iglesias harmlos, der seinem Vater Julio einst die Freundin ausspannte.
Folgen nun große Aufschreie? Nein, das Feuilleton jubelt. In einem Interview bemerkte Steven Uhly, dass Pornographie nie weit ist, wenn es heutzutage um Liebe geht. Das stimmt teilweise. Denn während Liebe (machen) als „One Night in Paris“, Snap-Shots der nackten Demi Moore oder als Heidi Klum beim Sex im neuen Video des Schmusesängers Seal auftaucht, gibt es auch keusche Beziehungsinszenierungen, die das Gegenteil propagieren. Dazu gehört das charmante Album „Lovestoned“ von Oliver Koletzki & Fran (Herz-Kaffeetasse und Frühstück im Bett-Romantik auf dem Cover inklusive), ebenso öffentliche Zuneigungs- und Keuschheitsschwüre verknallter Jungchristen in den USA, der Kitschsprech vieler Partnerbörsen.
Im Grossteil der aktuellen Literatur wird pornographisch geschilderter Sex ausgespart, zugunsten von echter, tiefer: Liebe. Pornographie ist zu präsent, als dass man sie in so etwas Zartes wie die eigene Liebesbeziehung einweben wollte. Somit ist Steven Uhlys Debütroman auch ein moralisches Manifest. Indem er vehement über Lust-Ohrfeigen im Bett, Zuhälter-Fehden, verführte Schwiegersöhne und die Verwicklungen seines „Superödipus“ schreibt, erzählt der 46-Jährige vom Gegenteil. – Dass der 2010 gegründete Secession-Verlag, mit „Mein Leben in Aspik“ ins Programm startet, ist übrigens ein kleines Wunder. Steven Uhly, deutsch-bengalischer Abstammung, Übersetzer aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen, hat nur auf sanften Druck des Secession-Verlegers Christian Ruzicska dieses „abgefahrene“ Debüt fertiggestellt. Zunächst war es eine Art Fingerübung. Nun ist es ein kleines Meisterwerk.
Christian Ruzicska war bereits Mitbegründer des Tropen Verlags, den er gemeinsam mit Michael Zöllner bis Ende 2004 geleitet hat. Darüber hinaus hat er seit 1999 mit dem Regisseur Albert Lang an mehren deutschen Bühnen als freier Dramaturg und Übersetzer für Gegenwartsliteratur gearbeitet. Der Mann weiss also, wie man gute Geschichten findet und wunderbare Bücher macht. – „Mein Leben in Aspik“ ist nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch ein Ereignis. Die Münchner Edeldesigner Kochan & Partner haben das Vorsatzpapier auf den Innen-Umschlagseiten (den so genannten „U2“ und „U3“) verlängert und umgeklappt – eine bislang nicht dagewesene Idee.
Das Cover wurde lackiert und fühlt sich aufgrund des exzellenten Papiers wie Leinen an. Das Ganze wurde dann gesetzt aus einer extra eingekauften Schrift, der „9/13 Cordale regular/Iitalic“. Das aufzuzählen klingt jetzt sehr nerdig, aber wer diese Buch einmal in den Händen gehalten hat, es ist unfassbar schwer, wird sofort sehen, dass ein ipad vieles leisten kann – Aura entsteht aber nur bei Texten wie „Mein Leben in Aspik“ und Büchern, in denen ansatzweise so viel Hingabe steckt wie in den Veröffentlichungen dieses feinen Verlags. Es ist etwas Besonderes.
Steven Uhly: „Mein Leben in Aspik“, Secession, 264 Seiten, 22,95 Euro