Was Wolfgang Herrndorfs „Sand“ versprach, löst Andreas Stichmanns „Das große Leuchten ein“: Mit seinem grandiosen Spionage-, Abenteuer-, Liebesromandebüt. Mit dabei: Iranische Mörder, Derwische, Schizophrene, Gangsterbräute.
Wenn man eh daran glaubt, dass die Realität nur im Kopf stattfindet, kann man gefahrlos überall hin reisen, auch in den „Schurkenstaat“ Iran. Das Auswärtige Amt warnt zwar aktuell vor einem Besuch. Wer hinfährt, sollte sich in die „Deutschenliste“ eintragen, damit die Botschaft in „Krisen- und sonstigen Ausnahmesituationen“ schnell zur Seite steht. „Von nicht notwendigen Individual- oder Trekkingreisen in die Kurdengebiete im Nordwesten Irans, insbesondere entlang der türkischen und irakischen Grenze, wird grundsätzlich abgeraten.“ Es geht um Kidnapping, Terrorismus, Inhaftierung, sexuelle Übergriffe. Aktuell ist die Lage in der Hauptstadt Teheran laut Auswärtigem Amt „ruhig, aber weiterhin angespannt“. – Rupert, der philosophierende Held aus „Das große Leuchten“, fliegt dennoch in den Iran, weil er glaubt, die Welt befände sich allein im Kopf. Dass er sich vorab in eine „Deutschenliste“ einträgt, wird in Andreas Stichmanns erstem Roman nirgendwo erwähnt. Der somit nicht Registrierte wird begleitet von Robert, in dessen Familie er aufgenommen wurde, nachdem sich seine Mutter auf blutigste Weise umgebracht hat. Gemeinsam wollen der psychisch Kranke und der psychisch Angeknackste ihre Angebetete Ana suchen, die vor wenigen Wochen in ihr Heimatland Iran geflogen – und dort verschwunden ist.
Als Baby ist Ana nach Deutschland gekommen. Als 16-Jährige verliebt sie sich in Rupert, der am Tag ihres Kennenlernens geradezu prophetisch sein T-Shirt zu einem Turban geknotet hat . Der Turbanträger und die Exiliranerin führen von da an eine leidenschaftliche Beziehung, in der vom SM-Sex bis zum Tankstellenüberfall ein Extrem das nächste ablöst. Aus der Ferne beobachtet der semi-eifersüchtige Robert die Beziehung. Er ist ein Wächter. Schließlich behauptet Ana, sie werde von iranischen Spionen verfolgt, die ihren Vater killen haben. Auch deshalb hat man den Eindruck, dass Ana lebt, als sei sie bereits gestorben: furchtlos. Am vorläufigen Ende dieses Wegs steht im Roman Anas Flug in den Iran, um die im Untergrund abgetauchte Mutter, eine engagierte Kommunistin und Staatsfeindin, wiederzusehen. „Das große Leuchten“ erzählt nun auf zwei Ebenen, wie Rupert und Robert gemeinsam mit Anas Familie durch den Iran irren – und wie alles angefangen hat, mit Ana und ihrem Geliebten, mit den Überfällen und Taschendiebstählen. Wie sie immer schneller drehten, um irgendwann aus ihren Umlaufbahnen katapultiert zu werden.
In allen Szenen ist unklar, ob Rupert nur träumt, oder tatsächlich in einer Höhle mit einem Derwisch über abendländisches Denken debattiert, ob er die schönheitsoperierten „Marzipangesichter“ in einem persischen Bordell mit eigenen Augen betrachtet, ob er in der Tat weiß, dass Ana „an unterschiedlichen Stellen ganz unterschiedlich schmeckte: Ihr Hals schmeckte nach Früchtetee, ihre Handgelenke eher salzig – und wenn sie schlief, schmeckte sie insgesamt süße.“ Genauso könnte es Einbildung sein. Um diesen Unterschied zwischen Wachen und Träumen, zwischen Realität und Vision zu wahren, hat sich Rupert eine „Nichtblinzeltechnik“ zurechtphantasiert. Er glaubt, nur mit weit geöffneten Augen die Dinge so zu erkennen, wie sie tatsächlich erscheinen. Klar, das erinnert an den legendären Regisseur Stanley Kubrick, an dessen doppeldeutigen Filmtitel „Eyes Wide Shut“, mit dem er die „Traumnovelle“ Arthur Schnitzler adaptierte. Es ist aber vor allem Zitat seiner bekanntesten Szene aus „Clockwork Orange“. Da sitzt der Kriminelle Alex gefesselt auf einem Stuhl, sein Zwangstherapeut träufelt ihm Medikamente ins Auge. Mit geweiteten Pupillen muss er stundenlang Naziaufmärsche und Kriegsszenen ansehen. So soll er von seinen Exzessen geheilt werden.
Alex‘ Lider sind fixiert. Er muss sich das Grauen ansehen. Rupert, der nicht zum Schauen gezwungen wird, sagt deshalb heldenhaft: „Blinzeln bedeutet Angst haben“. Sich das Grauen anzusehen – ist Mut. So ist „Das große Leuchten“, das seinen Titel übernommen hat von Jack Kerouacs „brennen, brennen, brennen wie phantastische Wunderkerzen“, eine unerschrockene Vision. Das ganze Buch arbeitet sich an den Ängsten, Irritationen, dem Chaos des hypermodernen Lebens ab. „Ordnung ist das halbe Leben“, denkt Rupert irgendwann, „Ordnung ist eigentlich sogar alles, und alles ist miteinander verflochten.“ Man muss sich nur vorstellen, wie jemand ganz allein versucht, das Internet zu sortieren, wo auch alles mit allem verbunden ist – dann hat man eine Ahnung von Ruperts‘ Verwirrung. Ob er und Robert dann tatsächlich durch den Iran fahren, ob Ana verschwunden, nie dagewesen, eine blosse Erfindung der beiden ist, erscheint im Angesicht des Internets, im Angesicht allgegenwärtiger Bedrohungen, im Angesicht des immer stärkeren Verschwimmens von Realität und Virtualität: geradezu lapidar.