Die Leipziger Buchmesse 2020 fand bekanntlich nicht statt, deshalb auch nicht die traditionelle Verleihung der Kurt-Wolff- Preise. Es fehlte das Scheinwerferlicht, es fehlte der Applaus, es fehlte die Berichterstattung. Wir begegnen uns allein auf dem Papier. Mit dieser Absage wurde uns vor Augen geführt, was zugleich Thema dieser Lobrede sein soll – nämlich, daß ohne die Begegnung mehr fehlt als hochgehaltene Sektgläser, daß wir ohne die Begegnung zurückgeworfen sind auf die Literatur, die verwirklicht, was uns die Realität manchmal versagt. Der Wert der Bücher wird uns noch deutlicher vor Augen geführt, wo wir einander nicht sehen, uns nicht begegnen dürfen, wo uns das unmittelbare Gespräch und die mit diesen Gesprächen einhergehenden Impulse fehlen. So ist diese Nicht- Feier zugleich eine Feier des Mediums, dem sich die Verlage Arco und Hentrich & Hentrich verpflichtet haben. Es ist eine Feier der Schrift.
Nicht nur die Ehrung haben diese beeindruckend engagierten Verlage gemein, sondern auch ihre Aufgabe, die beschrieben werden kann als eine Bewahrung und Weiterführung der jüdischen Geisteswelt, der jüdischen Literatur und Kultur. Sie verteidigen damit, was nicht erst 1933 und nicht nur bis 1945 in diesem Lande bekriegt wurde. Es wurde plötzlich als etwas »Fremdes« gesehen, obwohl das Jüdische eng verwoben ist mit der sogenannten deutschen Kultur. Millionen Menschen wurden aus diesem gewachsenen Zusammenhang gerissen, ihr Sein und ihre Geschichte, ihr Denken und Fühlen sollte »ausgemerzt« werden. Ein Angriff, der selbst in unserer für stark gehaltenen Demokratie weiterhin täglich stattfindet.
Beide Verleger, Nora Pester vom Verlag Hentrich & Hentrich, der den Förderpreis erhält, und Christoph Haacker vom Arco Verlag, werden ausgezeichnet ob ihres Schaffens, das uns allen ermöglicht, nicht nur Leser, sondern als Lesende auch Zeugen zu sein. Das ist keine Kleinigkeit. Zeuge zu sein ist eine moralische Verpflichtung, die der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, angedeutet hat, als er in »Die Untergegangenen und die Geretteten« von einer erschütternden Beobachtung berichtete: Levi erzählt von einem Traum, den Häftlinge verschiedener Konzentrationslager auf ähnliche Weise hatten.
Heilung entsteht durch Zuhören
In diesem Traum erlebten sie ihre Rückkehr nach Hause als Freigelassene, als Überlebende. Und als sie, endlich fern der Vernichtungsanstalten vor den Nächsten anfangen möchten zu reden über das, was ihnen widerfahren ist, wird ihnen nicht geglaubt. Oder niemand hört zu. Oder, das ist die brutalste Variante dieses Traums: Jene, denen sie klagen wollen ob der erlittenen Greuel, wenden sich ab und verlassen ohne mitleidzeigende Geste den Raum, verlassen damit auch jenen anderen Menschen, der Opfer ist, der so lange schweigen mußte, der keinen Ansprechpartner hatte, der endlich sprechen will.
Die US-amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin argumentiert, daß wir eine moralische Verpflichtung zur Zeugenschaft haben, also eine sittlich gebotene Aufgabe, die darin besteht, jenen zuzuhören, deren Stimmen ansonsten wie stumme Schreie in dunkler Nacht wären. Heilung, auch das beschreibt Benjamin, erfahren wir als Individuen und als Gesellschaft erst, wenn wir zuhören, wenn wir bezeugen, was geschehen ist, und wenn wir diesen Berichten Raum zur Entfaltung geben. Wer nicht vor Zuhörenden sein Leid aussprechen kann, bleibt innerlich verwüstet, und eine Gesellschaft, die das Wort ihrer Opfer nicht hört, wird aus ihrem Innersten heraus zugrunde gehen.
Wer Texte verfaßt, der möchte in den meisten Fällen, daß seine Worte erfahren, gelesen, nachempfunden werden. Durch Verlage wie Arco oder Hentrich & Hentrich wissen wir um Geschichten, die allzugern verdrängt werden. Wir wissen beispielsweise um Ludwig Winder, der nach Kafkas Tod dem engeren Prager Kreis um Max Brod angehörte und 1939 über Polen nach England floh, wo 1943 sein Roman »Die Pflicht« entstand. Es ist eine bemerkenswerte Widerstandsgeschichte, die mit präzisem Blick ein beispielhaftes Einzelschicksal in der besetzten ČSSR Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre schildert.
Heimchen im Terrarium
Als dieser vergessene Roman 2004 zum ersten Mal nach 1949 bei Arco erschien, war ich 25 Jahre alt und wußte wenig über das jüdische Leben und die Zeit des Exils, trotz meiner Begeisterung für die Elberfelder Dichterin Else Lasker-Schüler, die in ihrem Werk jene steil ansteigenden Treppen beschreibt, die auch ich dort täglich genommen habe.
Durch den Arco Verlag lernte ich permanent Neues, mit Christoph Haacker verbrachte ich zahlreiche Abende bei bulgarischem Wein, während seine Heimchen im Terrarium zirpten und wir in seiner Altbauwohnung auf dem Ölberg über Literatur sprachen, wenige Straßen entfernt von meiner halbjüdischen Großmutter, die vermutlich nur deshalb die Zeit des Nationalsozialismus überlebt hatte, weil in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 1943 britische Lancaster-Bomber die Stadt angriffen und der Familie meines Urgroßvaters die Möglichkeit gaben, aus Wuppertal nach Süddeutschland zu fliehen, wo sie von braven Katholiken gerettet wurden.
Meine Großmutter sprach häufig über diese Zeit, obwohl in meiner Familie kaum jemand zuhören wollte. Also besuchte sie Schulen, erzählte dort, ging zu den Abenden der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Elberfeld, die auf dem Fundament des am 9. November 1938 angezündeten Gotteshauses errichtet wurde. Ich erinnere, daß auf der Brache zunächst ein Parkplatz entstehen sollte, der die Vergangenheit asphaltiert hätte. Meine Großmutter ging auch zur Bergischen Synagoge in Wuppertal-Barmen, die am 8. Dezember 2002 feierlich eröffnet worden war. Ich erinnere mich daran, wie ein Freund meiner Großmutter zu den Bauarbeiten meinte, an dieser Stelle sollten besser Kindergärten errichtet werden.
Kaddisch für meinen Vater
Ich kam also aus dem Schweigen und dem Verschwiegenen in die Räume von Christoph Haacker und dem Arco Verlag, wo Berufliches und Privates fließend ineinander übergingen. Der Verlag war kurz zuvor gegründet worden, 2002 von den Brüdern Christoph und Markus Haacker, von Michael Obst und Torsten Volkmann – vier Schulfreunden, die als einen ersten Schritt neue Bände der letzten Überlebenden nationalsozialistischer wie stalinistischer Verfolgung veröffentlichen sowie vergriffene Geschichten wieder zugänglich machen wollten.
Ihre ersten Bücher waren 2003 »Kaddisch für meinen Vater« des damals bereits 92-jährigen Fritz Beer und Walter Seidls »Der Berg der Liebenden«, gefolgt von Georg Kreislers »Mein Heldentod« und »Feuer im Osten / Der rote Mond« von Eugen Hoeflich, zwei Wienern. Drei dieser vier Autoren waren jüdisch. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb Peter Demetz seinerzeit: »›Der Berg der Liebenden‹ ist ein wahrhaftiges Lebensbuch, denn Seidl zögert nicht,
Das Haus an der Brücke
Ereignisse und Figuren bis an den Rand mit seinen eigenen intimen Erfahrungen zu sättigen, ohne Scheu, sich selbst eine Blöße zu geben.« Vor einigen Jahren wurde Demetz mit einem Buch über Bernard von Bolzano selbst zum Arco-Autor. Karl-Magnus Gauß würdigte in der Neuen Zürcher Zeitung »Kaddisch für meinen Vater«, erkannte hier einen »scharfsichtigen Erzähler« und eine »atmosphärisch dichte, perfekt gebaute Kurzprosa«. Er wunderte sich, daß Fritz Beers Kriegsnovellen von 1949 keine Klassiker geworden waren.
Christoph Haacker war unter dem Eindruck von Beers Erinnerungen »Hast Du auf Deutsche geschossen, Grandpa?« und ersten Begegnungen im Frühjahr 2002 nach Wimbledon gereist. Mit einem schwarzen, alten Londoner Taxi fuhr er zu jenem weißgetünchten »Hill House«, wo ihn Beer erst vor der Tür schmoren ließ und dann grantig begrüßte mit den provozierenden Worten: »Sind Sie Preuße?« Und dies, weil der junge Literaturwissenschaftler aus Wuppertal ausnahmsweise auf die Sekunde pünktlich zur Tea Time erschienen war.
Im Nachwort zum Erzählungsband »Das Haus an der Brücke«, 2011 erschienen in der Arco-»Bibliothek der Böhmischen Länder«, fünf Jahre nach Beers Tod und anlässlich seines 100. Geburtstags, erinnert sich Haacker: »Ich hatte Fritz Beer eröffnet, wir würden gerne einen Verlag gründen, gewissermaßen seinetwegen, um ein Buch mit ihm zu machen – und er ließ sich darauf ein. Jahre später hat er mir gesagt, daß er nie und nimmer erwartet hätte, was dann daraus wurde. Er gab uns dennoch sein Vertrauen. So wurde er zu unserem ersten Autor, wie wir ihn uns besser nicht hätten wünschen können. Daß er zufrieden mit seinem Verlag und dem starken Echo auf sein Buch war, ist dabei eine schöne Fügung.«
Print on Demand ist kein Ersatz
Eine schöne Fügung, zu der es nur deshalb kam, weil der Arco Verlag mit hohem Einsatz Schriftsteller und Bücher gesucht, besucht, veröffentlicht hat. Viele Texte wären sonst vergessen geblieben, zahlreiche Erstausgaben nie erschienen. Der Zwischenbuchhändler Libri hat vor wenigen Wochen in Bad Hersfeld den Grundstein für Europas größtes Print-on-Demand-Druckzentrum gelegt, um schon bald vergriffene Bücher anbieten zu können. Nur werden diese nicht in der FAZ oder in der NZZ rezensiert, sie werden in kein Buchhandlungsschaufenster gestellt, über sie wird nicht neu gesprochen, neu nachgedacht werden – und aktualisierende, einordnende Nachworte fehlen selbstverständlich in den Bestelldruckausgaben.
Ein Text, über den nicht gesprochen wird, ist tot. Eine Stimme, der nicht zugehört wird, existiert nicht. Geschichten, die nicht weitererzählt werden, landen im Vergessen. Und daß der von Primo Levi aufgeschriebene Albtraum zahlreicher KZ-Häftlinge allzu oft Wirklichkeit wurde, kann man im gerade bei Arco erschienenen Erinnerungsbuch »Ein bißchen Leben vor diesem Sterben« des in Prag lebenden Tomáš Radil nachlesen. Der Autor beschreibt, wie er als vierzehnjähriger Überlebender kurz nach der Befreiung aus Auschwitz-Birkenau von einer ungarisch-jüdischen Gemeinde gedrängt wird zu berichten, was ihm widerfahren ist.
»Wir saßen alle um einen großen Tisch, einige in der zweiten Reihe. Ich berichtete ihnen wahrheitsgemäß und in möglichst rücksichtsvollen Worten, was sich in Birkenau abgespielt hatte. Dann schloß ich meine Schilderung, und es blieb eine Weile still. Aber gleich darauf entstand ein Durcheinander. Etwa fünf Leute schrien, daß ich ein Lügner sei. Was ich ihnen berichtet hätte, sei unvorstellbar, solche Dinge könnten gar nicht geschehen.
Kein Mensch könne doch solche Bestialitäten verüben. Einer von ihnen schluchzte, es sei doch unmöglich, daß jemand seine drei und vierjährigen, gesunden, schönen Kinder zusammen mit ihrer noch nicht einmal dreißigjährigen Mutter töte.« Genau das haben die SS-Männer den Inhaftierten zahlreicher Konzentrationslager geschworen, daß ihnen keiner glauben würde, wenn sie irgendwann von den erlittenen Gräueln berichteten. Welch’ grausame Antizipation, wie treffend in ihrer unmenschlichen Kälte, welches Wissen um die Verdrängungsleistungen der Menschen, die nicht in den schwindelnd machenden Abgrund schauen wollen.
Ich bin keine Papierhändlerin
Das Beispiel soll erläutern, wie wichtig Zeugenschaft für das Programm des Arco Verlags wie auch für Hentrich & Hentrich ist. Dazu gehören aber ebenso jüdische Lebenswelten, die in Büchern wie Jiří Langers »Neun Tore. Geheimnisse der Chassidim« von 1937 bewahrt bleiben, oder die künstlerische Moderne, etwa in Gestalt der 1942 ermordeten jiddischen Avantgardeautorin Debora Vogel, für deren Edition Arco 2016 mit dem Preis der Hotlist ausgezeichnet wurde.
»Ich verstehe mich nicht als Papierhändlerin. Ich handele mit Ideen und Geschichten. Ein Buch ist sehr viel mehr als nur ein niedergeschriebener Text«, sagte Nora Pester, Verlegerin von Hentrich & Hentrich im Februar dieses Jahres, als wir uns in Berlin trafen, kurz vor der Absage der Leipziger Buchmesse, kurz vor den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Wir sprachen über die Bedeutung von Begegnungen. Mit einem Stamm von gerade einmal drei Personen bietet Hentrich & Hentrich rund 150 Veranstaltungen im Jahr an: »Wir erreichen über das konkrete Buch hinaus in Podiumsdiskussionen, bei Präsentationen, Buchvorstellungen, Gesprächen noch sehr, sehr viel mehr Menschen, bringen sie miteinander ins Gespräch, und das ist mir als Verlegerin eben auch sehr wichtig«, sagte Pester.
Ihr Verlag fußt auf einer längeren Tradition als Arco. 1982 gründete der Berliner Drucker Gerhard Hentrich (1924–2009) in Berlin-Steglitz die Edition Hentrich, deren Publikationen vor allem der Geschichte und Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocausts, der Exilforschung und der Theatergeschichte gewidmet waren. Nach dem Verkauf der Edition Hentrich gründete die Familie 1998 den Verlag Hentrich & Hentrich und setzte diesen Programmschwerpunkt, erweitert um Berlin-Brandenburger Regionalia, fort.
Eine weitreichende Schau jüdischen Lebens
Seit 2010 ist Nora Pester Verlegerin und alleinige Eigentümerin des Hentrich & Hentrich Verlags und veröffentlicht jährlich rund sechzig Neuerscheinungen zur jüdischen Kultur und Zeitgeschichte, darunter zahlreiche Biographien, historische und politische Sachbücher, Essays, Fach-, Lehr- und Gebetbücher. Es gibt im Verlagsprogramm zudem Kinder- und Jugend-, Foto- und Kunstbücher, eine kleine Auswahl literarischer Übersetzungen und sogar ein kleines Kochbuch. Es ist eine weitreichende Schau jüdischen Lebens, Denkens und jüdischer Geschichte über alle Strömungen, Epochen und Länder hinweg.
Einen besonderen Beitrag leistet die Reihe »Jüdische Miniaturen«, die mittlerweile über 250 Bände umfaßt. Herausgegeben von Hermann Simon, dem Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, stellt sie in einem kompakten, praktischen Format, das in jede Jackentasche paßt, und auf leicht verständliche Weise sowohl allgemein bekannte Persönlichkeiten, wie Hans Rosenthal, James Simon, Moses Mendelssohn oder Paul Celan, vor, bringt uns aber auch Menschen nahe, die in ihrer Zeit Wichtiges geleistet haben, ehe sie durch den Nationalsozialismus fast vollständig aus unserem historischen Gedächtnis gelöscht wurden, wie der Kaufhausunternehmer Oscar Tietz, der Zigarettenfabrikant Jacob »Manoli« Mandelbaum oder die Kinderärztin und Mitarbeiterin des Robert-Koch-Instituts Lucie Adelsberger, die im Mai 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie als Häftlingsärztin im »Zigeuner- und Frauenlager« von Birkenau arbeiten mußte – also eben dort, wo Tomáš Radil als Junge gefangen war.
Ein anderes, im vergangenen Jahr veröffentlichtes Buch erzählt von jenen 32 Staaten, die 1938 bei der Flüchtlingskonferenz von Évian über eine geregelte Migration der verfolgten jüdischen Männer, Frauen und Kinder beraten haben. Es folgt Hans Habes Roman »Die Mission« und ist eine umfangreich illustrierte Nacherzählung, Ergebnis eines Pilotprojektes, in dem sich muslimische Geflüchtete aus Syrien ausgehend von dieser Flüchtlingskonferenz mit deutsch- jüdischer Geschichte beschäftigt haben.
Die Juden der arabischen Welt
So war der Verlag auch hier mehr als ein Ort, an dem Papier bedruckt wird. Hentrich & Hentrich war und ist ein Forum für das vielfältige jüdische Leben, und seine Autoren Stephan Grigat, Matthias Küntzel, Alex Feuerherdt oder Florian Markl mischen sich in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten ein. Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn prüft in seinem neuen Buch »Kollektive Unschuld« die deutsche Erinnerungskultur der letzten Jahrzehnte, erschienen sind auch Übersetzungen der Werke des britischen Judaisten Hyam Maccob und der Studie »Die Juden der arabischen Welt« des französischen Historikers Georges Bensoussan.
Dank Hentrich & Hentrich erfahren wir, wie jüdische Geschichte aus jüdischer Perspektive erzählt wird, wir erfahren, daß Juden auch in Deutschland mehr sind als Opfer, daß sie nicht nur zur Erinnerungs-, sondern auch zur Gegenwartskultur gehören. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft von Exilforschern, Historikern, PEN-Mit- gliedern und Experten für die europäische Kulturgeschichte stehen Évian und Birkenau, Pacific Palisades und der Warschauer Stadtteil Wola für Schicksale, die vom zwanzigsten Jahrhundert geprägt wurden. Doch für die Mehrzahl der hier lebenden, für die Mehrzahl der neu zu uns gekommenen Menschen sind diese Orte verdunkelte Zeichen einer unzugänglichen Vergangenheit.
Ein fester Platz für die jüdische Literatur
Vielleicht zeigen die vergangenen Monate des sogenannten Corona-Lockdowns umso deutlicher, warum wir Verlage wie Arco oder Hentrich & Hentrich, warum wir die in der Kurt-Wolff-Stiftung organisierten Verlage bitter nötig haben, um in einer lebendigen, um sich selbst wissenden Gesellschaft zu leben. Es gibt keine Selbstverständlichkeiten, es gibt kein automatisches Erinnern, es gibt Bücher nicht deshalb, weil sie ohnehin geschrieben oder verlegt werden. Unsere Kultur muß täglich neu gelebt werden.
Keineswegs ist hier das große Geld zu machen. Die Lebensbedingungen derer, die zu einer lebendigen und vielfältigen Verlagsszene in der Tradition Kurt Wolffs beitragen, sind häufig prekär. Der nach ihm benannte Preis – ein Höhepunkt des literarischen Jahrs – ermöglicht neue Bücher ausgezeichneter und wichtiger Verlage. Ohne Nora Pester und Hentrich & Hentrich, ohne Christoph Haacker und Arco wäre weit weniger da von dem, was wir mit den beiden Kurt- Wolff-Preisen des Jahres 2020 auszeichnen dürfen. Sie stehen wie wenige andere Verlage in diesem Land für jüdische Literatur und geben ihr einen festen Platz.
Diese Laudatio ist auch erschienen in Heft 3/20 der Zeitschrift „Sinn und Form“