Am 6. September wurden Matthias Jügler und Marlen Pelny im sachsen-anhaltinischen Quedlinburg ausgezeichnet – mit dem Klopstock-Preis und dem Klopstock-Förderpreis des Jahres 2022. Für meine Laudatio auf Matthias Jügler habe ich noch einmal sein Debüt „Raubfischen“, den 2021 erschienenen Roman „Die Verlassenen“ und seine zahlreichen, sehr klugen Essays gelesen.
Wir sind an diesem Abend zusammengekommen, um die Literatur von Matthias Jügler zu ehren, ebenso jene von Marlen Pelny – und natürlich auch die Schriften Friedrich Gottlieb Klopstocks, der dem hier verliehenen Preis seinen herausgehobenen Namen stifte und der höchstselbst in seiner kuriosen, 1745 gehaltenen Abiturrede bekennt – er habe die Dichter „stets wegen der Vortrefflichkeit und beinahe Göttlichkeit ihrer Kunst von ganzem Herzen unter den Menschen schätzen zu müszen geglaubt.“ (aus dem Lateinischen von Carl Friedrich Cramer).
Wir sind zusammengekommen in Quedlinburg, wo der Dichter der „Messias“-Gesänge und der „Deutschen Gelehrtenrepublik“, wo der Begründer unserer klassischen deutschen Literaturepoche am Sonntag des 2. Julis 1724 geboren wurde – als ältestes von später insgesamt 17 Kindern einer pietistisch-gottesfürchtigen Familie, die von 1732 bis 1736 im ländlichen Friedeburg an der Saale lebte, wo der Vater zunächst Pächter war, um kurz darauf sein Vermögen zu verlieren.
Die gekränkte Männlichkeit
Die Klopstocks kehrten nach Quedlinburg zurück, wo sich alsdann der gesellschaftliche Niedergang dieser stolzen Familie vollzog. Und vielleicht kann im Nachhinein gefragt werden, ob der hymnische Ton, den wir in den Schriften Klopstocks noch immer vernehmen, auch in eben diesem Niedergang begründet ist, im Scheitern – und dass dieses Scheitern später auf literarische Weise kompensiert werden musste.
„Sing‘, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung“, so eröffnet Klopstocks Erster Gesang des „Messias“ – und fragen wir nun nach einer Verbindung, die vom Namensgeber des Preises hin zum heute geehrten Matthias Jügler führt, so können wir zumindest festhalten, dass wir hier nicht nur zwei Literaten von offensichtlicher Bedeutung zusammenziehen, sondern dass wir auch in Matthias Jüglers „Raubfischen“, dass wir in „Die Verlassenen“, und ebenso in seinen journalistischen und gesellschaftspolitischen Einmischungen von all jenen Phänomenen erfahren, die gleichsam im Wirken Klopstocks geborgen sind:
Wir erfahren von Kränkungen und Sünden, von dem Wunsch nach einer Erlösung – und von jener Verfasstheit, die beiden, Klopstock wie Jügler, bekannt ist und über die in diesen Tagen so intensiv nachgedacht wird – nämlich jene der gebrochenen, der gekränkten Männlichkeit.
Das Unheimliche und Verdrängte
„Raubfischen“, Matthias Jüglers Debütroman von 2015, erzählt eine Enkel-Großvater-Geschichte und beobachtet, wie ein Mann aufgrund der ihn anheimsuchenden, neurodegenerativen Krankheit ALS verstummt. „Erst viele Wochen, nachdem Großvater seine Stimme verloren hatte, habe ich mit der Suche begonnen“, steht da – und weiter: „Eine Suche, an der ich niemanden teilhaben lasse, die ich nur für mich betreibe. Großvaters letztes Wort.“
Es ist also eine literarische Suche, die danach fragt, welche Möglichkeiten des Erlebens und Erinnerns im sprachlosen Raum existieren. Während diese Geschichte erzählt, spricht sie paradoxerweise vom Nicht-Sprechen, vom Schweigen und Verschweigen, vom Stummen und Verstummen, vom Innehalten – und selten wird so viel geschwiegen wie beim Angeln, während durchs dunkle Wasser, das natürlich immer auch das Unheimliche und Verdrängte symbolisiert, die Fische ziehen, die Hechte, Welse und Karpfen.
Ein vanille-zuckersüßer Teig
Über den Karpfen hat Matthias Jügler vor einiger Zeit einen Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Er ist den literarischen Spuren dieses beliebten Speisefischs gefolgt und hat, so verlängert sich die Poetik ins Journalistische, an den eigenen Großvater erinnert. Im Essay steht: „Der Karpfen, das habe ich damals in Angel-Magazinen und einem DDR-Angelbuch meines Großvaters immer wieder gelesen, sei vor allem eines: klug, klug, klug. Überall wittert er Gefahr – selbst wenn vor lauter vanille-zuckersüßem Teig nichts vom Haken zu sehen ist, riecht er Lunte und schwimmt davon.“
In „Raubfischen“ wiederum wird entlang der Großvater-Figur berichtet, wie einem Mann, dem es einst gelang, die klügsten Fische zu überlisten, mehr und mehr die Souveränität, wie ihm die Orientierung abhandenkommt, bis er als Pose erscheint – als jener kleine Schwimmkörper, der an der Angelschnur befestigt wird, um sodann den Umwelteinflüssen, den Fährnissen des Wellengangs ausgesetzt zu sein.
Reich genug an Qual
Und auch hier zwingt Matthias Jügler die Orientierungslosigkeit des gekränkten, seiner Krankheit ausgesetzten Mannes in ein literarisches Bild, wenn der Großvater nachts aufwacht und durch die Dunkelheit tappt, unsicher, auf der Suche nach seiner Gattin. Doch die kann er nicht finden. „Denk nach, denk nach“, sagt er zu sich und merkt zugleich, wie ihm die Welt in dieser Nacht schier entgleitet, ihm also nicht mehr gelingt, seine Anschauung auf einen Begriff zu bringen.
„Dieses Leben ist reich genug an Qual, des Denkens Kreis ganz auszufüllen“, wusste Friedrich Gottlieb Klopstock. Wir lesen diese Zeilen in seinem Trauerspiel „Salomo“.
Doch führt die Qual des Lebens, wie sie in „Raubfischen“ ausgestellt wird, eben nicht zur Reflexion, sondern mündet im Undenkbaren, außerhalb jenes Kreises, weist vielmehr auf einen anderen Kreis, den der Natur, in die der Großvater bald wieder eingehen wird.
Es ein Weg, der uns allen vorbesteht, schließlich ist Dasein notwendigerweise Sein zum Tode – das weiß jede große Literatur. Sie ist informiert über das, was wir als „Conditio Humana“ verstehen, die Bedingungen oder Umstände des Menschseins an sich. In dieser Hinsicht ist „Raubfischen“ nicht nur ein literarisch geglücktes, sondern auch sehr empathisches, ein tröstendes Buch, ein Buch über das Sterben, das gleichzeitig von so viel Leben und Erlebtem erfüllt ist.
Verbrechen an der Integrität
In seiner frühen Reife weist „Raubfischen“ bereits auf den folgenden, 2021 hochgelobten zweiten Roman „Die Verlassenen“ hin, einem der wichtigsten deutschsprachigen Romane des Jahres 2021, erneut die Geschichte einer Kränkung, nämlich eines Stasi-Verbrechens an der moralischen, gesellschaftlichen und psychischen Integrität eines Mannes.
Meine Kollegin Wiebke Porombka, sie ist Mitglied der diesjährigen Klopstock-Jury, schrieb 2021 in der F.A.Z.: „Matthias Jügler thematisiert aber nicht nur eine Schuld, die jene eines Systems oder dessen unmittelbarer Handlanger ist. Es geht um mehr, um das Gesamtgefüge. Die Gesellschaft, die ‚Die Verlassenen’ in den Blick nimmt, ist bestimmt vom Schweigen – und das in einem ebenso grundsätzlichen wie bleischweren Sinn.“
Wir erinnern uns mit „Die Verlassenen“ – als die Deutsche Demokratische Republik im Jahr 1989 zusammenbrach, zählte das Ministerium für Staatssicherheit zirka 189.000 Inoffizielle Mitarbeiter. In der DDR-Gesellschaft wurden sie „Spitzel“, „Denunzianten“ oder „Kundschafter“ genannt. Durch sie war die paranoide Staatsführung engmaschig über das politische und private Leben ihrer Mitbürger informiert. Die Machenschaften dieses Systems griffen fatal in den damaligen Alltag der Bürgerinnen und Bürger ein. Auch nach der sogenannten Wende war die Stasi verantwortlich für zahlreiche Tragödien. Menschen erfuhren, dass sie von ihren engsten Freunden bespitzelt worden waren. Familien zerbrachen, Nachbarschaften wurden zerstört.
Kein Wut-Bürger
Eine dieser Tragödien erzählt Matthias Jüglers herausragender Roman „Die Verlassenen“. Johannes Wagner, ein Verwaltungsangestellter, Anfang der Achtziger Jahre in der DDR geboren, erkennt viel zu spät, welches Unglück die Stasi über sein Leben und das seiner Eltern gebracht hat. Als die Geschichte im Frühsommer des Jahres 1994 einsetzt, weiß der damals Zwölfjährige nicht, „warum Mutter wirklich starb, warum Vater zwar immer wieder vom Schreiben sprach, ich ihn aber nie schreiben sah, und erst recht wusste ich nichts von einem Bruder und all den anderen Dingen, von denen ich erst viel später erfuhr.“
Offiziell ist Johannes Mutter 1986 an einem Herzinfarkt gestorben. Tatsächlich steckt hinter dem Todesfall eine ungeheuerliche Wahrheit, die integral mit dem Unrechtssystem der DDR verbunden ist. Uns könnte diese Geschichte wütend machen – so wie das Sterben des Großvaters in „Raubfischen“ wütend machen könnte – doch Matthias Jügler ist kein Dichter, der sich der Wut hingibt. Wann immer er seine Stimme erhebt, ob in seinen Romanen, seinen Essays oder auch in den Vorworten seiner beiden politischen Anthologien „Wie wir leben wollen“ (2016) und „WIR.GESTERN.HEUTE.HIER“ (2020), lesen wir die Gedanken eines Mannes, der Poet und Bürger, doch niemals Wut-Bürger ist.
Karpfen unter den Literaturpreisen
Literatur kann ein Notausgang sein, der Ariadnefaden durch Zeiten und Verfasstheiten, die uns schier an den Rand der Verzweiflung bringen. Matthias Jügler schenkt uns diese Notausgänge und Ariadnefäden. Seine Texte sind ein poetisches Angebot. Und man kann sich nur wünschen, dass dieses Angebot nicht nur wie an diesem Abend mit dem Klopstock-Preis ausgezeichnet, sondern auch angenommen wird.
Lesen Sie Matthias Jügler, lassen Sie sich auf keinen Fall „Raubfischen“ und „Die Verlassenen“ entgehen – es lohnt, ihm, einem der herausragenden Schriftsteller Sachsen-Anhalts, über diesen Abend hinaus: zuzuhören.
Deshalb mein Dank, lieber Matthias, denn Dein innerer Reichtum bereichert uns alle. Dafür wirst Du heute geehrt, mit dem Klopstock-Preis des Jahres 2022, diesem Karpfen unter den Literaturpreisen, den Du mit Ausdauer, Klugheit und Poesie erschrieben und mit Deinem Schreiben sozusagen erangelt hast, weshalb ich Dir, dem passionierten Schriftsteller und Angler an dieser Stelle nicht nur meine herzlichen Glückwünsche ausrichten will, sondern auch für die Zukunft Deines literarischen Wirkens ein zünftiges „Petri Heil!“