„Nehmen wir an …“, „Angenommen“ oder „Stellen wir uns vor …“ So beginnen üblicherweise Gedankenexperimente in der Philosophie. Der Berliner Philosoph Georg W. Bertram hat 2012 ein Lese- und Studienbuch zum Thema veröffentlicht und 40 Gedankenexperimente vorgestellt – vom „Höhlengleichnis“ bis zum „Gehirn im Tank“. Das philosophische Magazin „Sein und Streit“, immer sonntags ab 13:05 Uhr, bringt das „Philosophische Kopfkino“ mit folgenden Themen: „Gehirne im Tank? Rainer Werner Fassbinder und die Frage nach Traum und Wirklichkeit“ (2.8.) „Der Geist auf der Festplatte – ‚Transcendence‘ mit Johnny Depp und das Streben nach Unsterblichkeit (9.8.) „Künstliche Intelligenz? Annäherungen von Mensch und Maschine mit Kultregisseur Spike Jonze“ (16.8.) „Der Naturzustand – ‚Der Omega Mann‘ und das Chaos in einer Gesellschaft ohne Staat“. (23.8.). Was wird geschehen?
Durch den #Akzelerationismus (hier im Blog) hat das Spekulative nicht nur einen neuen Aufschwung erhalten – auch Filme sind gerade fester Bestandteil aktueller Diskurse in der Philosophie. Eine Denkrichtung, die eine Anbindung an unsere beschleunigte Gegenwart, an die Popkultur und all jene bekommen möchte, die keine merve-Flatrate gebucht haben, ist bestens beraten, mit Marx und auch mit der „Terminator“-Reihe zu argumentieren. In dem Band von Bertram geht es unter anderem um „No Country for Old Men“, um „Matrix“ und um Alfred Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“. Im ersten, 50 Seiten umfassenden Teil, der zu den später vorgestellten Gedankenexperimenten hinführt, schreibt Bertram: „Sofern literarische Texte oder Filme als kontrafaktische Szenarien zu verstehen sind, sind diese erstens nicht so knapp entfaltet wie die Szenarien philosophischer Gedankenexperimente und sind zweitens nicht gleichermaßen philosophisch eingebettet wie letztere.“ Filme haben mehr Raum, um ihr Experiment zu entfalten – gleichzeitig sind in unserer Zeit auch Filme Basis etlicher philosophischer Spekulationen.
Eines dieser Gedankenexperimente fragt ob es denkbar ist, dass wir nur Gehirne in einem Tank sind? Ist es möglich, dass unseren Gehirnen die Realität nur vorgespielt wird? Immerhin fragen die Skeptiker seit Jahrhunderten, ob das, was uns umgibt die Wirklichkeit oder vielleicht doch nur ein Traum ist. Was wäre, wenn man unser Gehirn aus dem Körper entfernen, in eine Nährlösung legen, an einen Computer anschließen und ihm eine Realität vorspiegeln würde die uns so sehr täuscht, dass wir dennoch weiter dächten am Leben zu sein? – Etliche Cineasten haben sich in den vergangenen 50 Jahren mit diesem Thema auseinandergesetzt, Einer der ersten war Rainer Werner Fassbinder, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert hätte. Der Fernsehzweiteiler „Welt am Draht“ von 1973, eine Adaption des Science-Fiction-Romans „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye hat spätere Blockbuster wie „Matrix“ entscheidend beeinflusst.
„Pass mal auf, stell dir mal vor: Wir beide wäre in einem Computer einprogrammierte Wesen. Sitzen hier, trinken Whiskey. Wir würden dabei unsere eigentlich nicht vorhandene Umwelt sehen, als wäre sie real.“ – „Natürlich. Eine elektronisch vorgespiegelte Umgebung ist für ein elektronisches Wesen in der Wirkung real.“ Dieser Dialog aus Fassbinders „Welt am Draht“ findet Anfang der 70er Jahre in einer Kneipe statt und es ist Wissenschaftler Fred Stiller (eine Anspielung an den Identitätsroman „Stiller“ von Max Frisch?), dessen Weltbild hier ins Wanken gerät. Am fiktiven „Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung (IKZ)“ wurde ein Supercomputer namens Simulacron-1 entwickelt. Nahezu 10.000 so genannte Identitätseinheiten existieren in einer Kleinstadtsimulation und werden über Bildschirme von außen, vonseiten der vermeintlichen Realität aus beobachtet. Diese Identitätseinheiten, die aussehen wie wir, ahnen nicht, dass sie lediglich aus kybernetischen Berechnungen und einprogrammierten Gefühlen bestehen.
„Zehntausend Menschen. Das sind doch Menschen. Oder?“ – „Wie man’s nimmt. Für uns sind es natürlich nur Schaltkreise. Aber sie selbst. Sie selbst leben wie wir, bauen Straßen, hören Musik. Essen.“ – „Und schlafen miteinander?“ – Auch das. Schlafen miteinander. Bekommen Kinder….“ Stiller, der an dieser Stelle einer betörenden Blondine Auskunft gibt hat allerdings den fürchterlichen Verdacht, dass so einfach die Sache nicht zu erklären ist. Denn seit Neuestem geschehen die monströsesten Unheimlichkeiten. Mitarbeiter des IKZ verschwinden spurlos und niemand kann sich an sie erinnern. Straßen brechen für wenige Sekunden vor Stillers Augen ab ins Nichts. Stiller selbst leidet unter rätselhaften Migräne-Anfällen. Menschen, die sich stets duzten erkennen einander nicht mehr. Könnte es sein, überlegt Stiller, dieser zweifelnde Fachmann für simulierte Welten, dass nicht nur diese Kleinstadt von „Simulacron-1“ eine Täuschung ist?
Wäre es ebenso denkbar, dass seine eigene Wirklichkeit eine Computersimulation ist, programmiert von anderen Wissenschaftlern, die eine weitere Ebene über ihm existieren? „Ich denke“, sagt Stiller, „also bin ich. Ich existiere. Und doch bin ich nicht der Einzige, der sich mit dem Gedanken befasst, dass nichts wirklich existiert. Schon Plato hat die letzte Realität lediglich in der reinen Idee gesehen und erst Aristoteles: der hat die Materie als passive Nichtsubstanz begriffen, die nur durch denken Realität produziert hat.“ Dieses Gedankenspiel einer „Welt am Draht“, martert Stiller so lang, bis man annehmen muss, er sei verrückt. Er kann nicht mehr unterscheiden, wo oben und wo unten ist. Er wird für wahnsinnig erklärt. Er wird zur Fahndung ausgerufen; und von der Polizei verfolgt.
Dabei zweifelt Stiller auf eine Weise, wie schon so viele Denker vor ihm. Klassisch ist das Gedankenspiel des chinesischen Philosophen Zhuangzi, der von 365 bis 290 vor Christus gelebt hat. Zhuangzi träumte, er sei ein Schmetterling. Dann wachte er auf und wusste plötzlich nicht mehr, ob er nun ein Schmetterling sei, der sich als Philosoph geträumt hatte – oder ob er nicht doch Zhuangzi sei: der aus einem Schmetterlingstraum aufgewacht ist. Befände er sich allerdings nur einem Traum, so wäre nichts was er sieht real. Seine Welt sei reine Täuschung. Vorspiegelung. Diese Unsicherheit wird dann im 17. Jahrhundert von René Descartes reformulierte, als er das berühmte Gedankenexperiment über den bösen Täuschergott (Genius malignus) entwickelt: „Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott, der die Quelle der Wahrheit ist, sondern ein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist [genium aliquem malignum] all sein Bestreben darauf richtet, mich zu täuschen; ich will glauben, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles außerhalb von uns nur das Spiel von Träumen sei, durch die er meiner Leichtgläubigkeit nachstellt. Mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut noch irgendeinen Sinn, sondern dass ich mir dies bloß einbildete.“ Und auch der große Blaise Pascal schreibt in seinen „Gedanken“ (bei Reclam erschienen): „Wenn wir jede Nacht dasselbe träumten, so würde uns dies ebenso tief berühren wie die Dinge, die wir jeden Tag sehen. Und wenn ein Handwerker sicher wäre, allnächtlich zwölf Stunden lang zu träumen, er sei König, so glaube ich, daß er beinahe ebenso glücklich wäre wie ein König, der allnächtlich zwölf Stunden lang träumte, er sei Handwerker.“ (803/386)
Diese Annahme hat selbstverständlich etwas Furchterregendes. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“, schrieb Karl Marx in seinen „Thesen über Feuerbach“. Nur, was wäre zu verändern, gäbe es überhaupt einen Sinn in allem, was wir tun, wenn die uns zugeeignete Welt nur ein Spielraum wäre? So martert sich auch Fred Stiller in „Welt am Draht“, nachdem er sich an Rechnerwelt von Simulacron-1 angeschlossen, die Simulation besucht und sie als keinesfalls von seiner Realität unterschieden kennengelernt hat. Der Wissenschaftler, der bislang von der Berechenbarkeit der Welt ausgegangen ist, verliert sich und jeden Bezug zur Wirklichkeit. Seine Reden sind keine Tatsachenberichte mehr, sondern reine Mutmaßungen, Spekulation.
„Stop. Sie ziehen gerade an dieser Zigarette. Sind sie sicher, dass das eine Zigarette ist?“, wird er irgendwann bei Tisch fragen und konsterniert angesehen. „Das ist….“ – „Die Idee einer Zigarette. Gewiss. Die echten Zigaretten werden woanders geraucht. Nämlich da, wo richtige Leute auf richtigen Stühlen sitzen. Ist das ein Stuhl? Sagen sie, das ist ein Stuhl.“ – „Das ist ein Stuhl.“ – „Das ist kein Stuhl. Aber: Es ist die Idee einer Idee einer Idee.“ – „Der Mann ist verrückt.“ – „Auf die Vokabel haben wir uns längst geeinigt.“
Mit dem Gedankenexperiment des „Gehirns im Tank“ wollte der amerikanische Philosoph Hilary Putnam 1981 eigentlich beweisen, dass wir zweifelsfrei in der echten Wirklichkeit leben. Die Popkultur hat das wenig interessiert. In Folge dieses Gedankenspiels sind etliche Filme entstanden, die sich der unheimlichen Vision einer vorgespiegelten Wirklichkeit bedienten. Darunter sind Blockbuster wie „Matrix“ mit Keanu Reeves, wo der Austausch zwischen den beiden Welten ebenso wie in „Welt am Draht“ über Telefonzellen stattfindet. Regisseur Peter Weir und sein Hauptdarsteller Jim Carrey landeten 1998 einen Welterfolg mit „Die Truman Show“. Tom Cruise spielte 2001 die Hauptrolle in „Vanilla Sky“, einem Remake von Alejandro Amenábars „Abre los ojos“ von 1997. Selbst Fassbinders „Welt am Draht“ wurde 1999 von Hollywood unter dem Titel „The 13th Floor“ adaptiert.
Der Film mit Armin Mueller-Stahl spielte 18,5 Millionen Dollar ein; jedenfalls in unserer Realität. Inzwischen wurde „The 13th Floor“ von etlichen neuen Filmen dieser Art überflügelt, wie 2010 von „Inception“. Für immer bleiben aber werden der chinesische Traum vom Schmetterling und dieser in nur 44 Drehtagen entstandene Fernseh-Zweiteiler „Welt am Draht“ von Rainer Werner Fassbinder. Dieser mag es vielleicht nicht mit der Rasanz von „Inception“ oder auch von „Matrix“ aufnehmen, diesem 63 Millionen Dollar teuren Superspektakel der Wachowski-Geschwister, ist dafür aber das nachwievor beste und intellektuell beeindruckendste Filmereignis zu einer philosophischen Tradition, die bei Platon ihren Anfang genommen und im „Spekulativen Realismus“ dieser Tage längst nicht zu ihrem Ende gefunden hat.
Rainer Werner Fassbinder: „Welt am Draht“, mit Klaus Löwitsch, Günter Lamprecht, Gottfried John, Ingrid Caven, Kamera: Michael Ballhaus / Georg W. Bertram: „Philosophische Gedankenexperimente“, Reclam, 312 Seiten, 12,95 Euro