Was passiert, wenn alle Ordnungsmacht verschwunden ist, wenn Gesellschaften aus der Zivilisation in den Naturzustand zurückfallen? Gäbe es dann einen Krieg aller gegen alle? Sind wir ohne Rechtssprechung, Parlament und Polizei lediglich mordende Wilde? In der Deutschlandradio Kultur-Sommerreihe „Philosophisches Kopfkino“ beschäftigt sich „Sein und Streit“ diesen Monat mit philosophischen Gedankenexperimenten im Film. Über den Naturzustand des Menschen hat der britische Philosoph Thomas Hobbes in seiner staatspolitischen Schrift „Leviathan“ (1651) nachgedacht – und das postapokalyptische Kino hat sich dieses Gedankenexperiments immer wieder angenommen. Einer der ersten, in einer Zeit des drohenden Atomkriegs erschienenen Filme ist „Der Omega-Mann“ aus dem Jahr 1971. Die Adaption des Science-Fiction-Romans „Ich bin Legende“ (1954) von Richard Matheson, erzählt von einer postapokalyptischen Katastrophe und war Vorlage für einen späteren Blockbuster mit Will Smith.
„Mein Gott. Es ist beinahe dunkel. Sie werden bald aufwachen!“ – Derartige Schrecken, wie sie Robert Neville heimsuchen sind in postapokalyptischen Zeiten normal. Charlton Heston spielt den „Omega-Mann“, den letzten Mann auf Erden (in Analogie zu Alpha und Omega, dem ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets). Nachdem die Menschheit von einem Virus dahingerafft wurde existiert nur noch der Wissenschaftler und eine Horde Infizierter, die nachts auf Mordjagd gehen. Sie erscheinen im Film als ein Amalgam aus lichtempfindlichen Vampiren, untypischerweise der Sprache mächtigen Zombies und katholischen Inquisitoren mit schwarzer Kutte. – Es gibt kein Militär, keine Gerichtsbarkeit, keine Polizei, keine Ordnung. Niemand kann den Infizierten Einhalt gebieten. Es ist eine moderne Version jener Szene, die der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem Hauptwerk „Leviathan“ beschrieben hat: „Im Kriege sind Gewalt und List Haupttugenden; und weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit sind notwendige Eigenschaften des Menschen; weil, wenn es nämlich so wäre, sie auch bei demjenigen angetroffen werden müssten, der einsam und allein auf der Welt lebt. Eben daraus ergibt sich ferner, dass es in einem solchen Zustande keinen Besitz, kein Eigentum, kein Mein und Dein gibt, sondern was jemand erworben hat, gehört ihm, solange er es sich zu sichern imstande ist.“
In genau diesem Krieg befindet sich Neville in „Der Omega Mann“. Nachts verschanzt er sich in seiner Wohnung und hält mit schweren Waffen alle Infizierten fern. Doch die Monster, denen jede menschliche Regung fremd ist kommen näher. Angeführt werden sie von dem blutrünstigen Matthias, der das Chaos in der Welt nutzt, um alles Zivilisatorische auszulöschen: „Wir haben auf sie gewartet, Neville, damit sie das sehen konnten, das Ende. Das Ende aller ihrer Taten. Sehen sie, nichts war wirklich. Es war Illusion. Ihre Kunst, ihre Wissenschaft, alles ein Alptraum – und jetzt ist es geschehen. Es ist aus.“ Die Errungenschaften des modernen Lebens gelten den Infizierten als Quell allen Übels, denn jene geheimnisvolle Seuche, die nahezu alle Menschen des Planeten dahinraffte, kommt aus dem wissenschaftlichen Labor Nevilles.
Überlebt hat er nur durch Zufall, durch einen in der Testphase befindlichen Impfstoff. Wer jetzt noch auf Erden wandelt, der ist geistig geschwächt. Seine Augenfarbe hat sich in ein schauerliches Weiß verwandelt. Ins Licht kann er nicht sehen. Er ist ein in den Naturzustand Gefallener, dem jede Aufklärung fremd ist (die stets mit dem Licht gleichgesetzt und im Englischen als „Enlightenment“ übersetzt wird). – Für Thomas Hobbes war eindeutig, dass eine Gesellschaft ohne Gesetze, ohne Ordnung, ohne Strafandrohungen und ohne Struktur in die Katastrophe fallen würde. In seinem Gedankenspiel über den Naturzustand formuliert er unmissverständlich, dass nur die Furcht vor einem gewaltsamen Tod und das Verlangen nach einem glücklichen Leben den Mensch vom Tier unterscheidet. Für ihn braucht es das Gewaltmonopol des Staates, damit alle Leidenschaften gebändigt werden können: „Aber, möchte jemand sagen, es hat niemals einen Krieg aller gegen alle gegeben! Wie, hat nicht Kain seinen Bruder aus Neid ermordet? Würde er das wohl gewagt haben, wenn schon damals eine allgemein anerkannte Macht, die eine solche Greueltat hätte rächen können, dagewesen wäre? Wird nicht selbst zu unseren Zeiten noch an vielen Orten ein solches Leben geführt?“
Im Film „Der Omega Mann“ herrscht allein das Recht des Stärkeren. Als Neville später auf eine Kommune von wenigen Überlebenden trifft wird ihm klar, dass er am Tag nicht weniger eine Bedrohung ist als die Infizierten in der Nacht. „Das ist es. Das ist alles. Jedenfalls, so weit wir wissen. Es werden noch andere existieren, falls Matthias und seine Brüder sie nicht umgebracht haben.“ – „Ich wusste gar nicht, dass noch welche übrig sind.“ – „Ewig zittern vor der Familie in der Nacht und am Tage vor Dir, der auf alles schoss, was sich bewegte. Mann, haben wir aufpassen müssen.“ – „Ich musste am Leben bleiben.“ Mit dem letzten Satz beruft sich Neville, der als Wissenschaftler einst Vertreter einer rationalistischen Weltbeobachtung war auf fürchterlichste Urinstinkte. Die Stadt durch die er fährt hat nichts mehr mit üblicher Urbanität zu tun. Im Naturzustand sind alle Orte reine Wildnis. Alle Menschen sind eine Bedrohung. Selbst als Neville ein Serum gegen die mysteriöse Seuche entwickelt, will er keinem seiner Feinde helfen und erklärt, dass man es hier lediglich mit „Ungeziefer“ zu tun habe – man kennt Bezeichnungen wie diese aus nationalsozialistischer Hetzte, in der Menschen als Schädlinge bezeichnet wurden, nur um sie dann mit dem bereits in den 1920er Jahren als Ungeziefermittel verwendeten „Zyklon B“ zu ermorden.
Glücklich kann sich schätzen, wer in gesicherten Verhältnissen lebt und nicht permanent fürchten muss, von hinten erschlagen zu werden. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 haben postapokalyptische Filme Konjunktur, darunter Blockbuster wie „The Book of Eli“ mit Denzel Washington und „Children of Men“ mit Clive Owen. Selbst „Der Omega Mann“ wurde neu verfilmt, unter dem Titel „I am Legend“ – mit Will Smith in der Hauptrolle. Die Theaterregisseurin und -autorin Kathrin Röggla, jüngst zur Vizepräsident der Akademie der Künste in Berlin gewählt, hat in ihrem 2014 bei S. Fischer erschienenen Essay „Geisterstädte, Geisterfilme“ (in: „besser wäre: keine“) über postapokalyptische Blockbuster geschrieben und bemerkt, dass diese zumeist auf dem Land, in der Natur, in der verlorenen oder abwesenden Zivilisation inszeniert werden. Es gibt keine Zivilisation ohne den Staat.
Das möchte jedenfalls das Gedankenexperiment von Hobbes’ belegen, indem es vom Gegensatz des damals aktuellen Gemeinwesens (des 17. Jahrhunderts) ausgeht. „Hobbes versucht auf diese Weise zunächst zwei Dinge zugleich zu zeigen: Einerseits ist die ungebändigte menschliche Natur wesentlich weder böse noch verwerflich. Da aber jeder Einzelne seiner Natur nach selbstsüchtig handelt und somit nichts zählt als das Recht des Stärkeren, wirkt die menschliche Natur in den Effekten, die sei hervorruft, andererseits zerstörerisch“, schreibt Bertram in seinem Buch. „Das zerstörerische Wesen des Menschen sieht Hobbes in dem vorgestellten Naturzustand zu vollem Ausdruck kommen. Hier zeigt sich eine Eigenschaft des Menschen in aller Deutlichkeit – und so ist auch der ganze erste Teil des Leviathan dem Menschen gewidmet –, nämlich: dass noch der (scheinbar) Stärkste getötet werden kann.“
Damit steht Hobbes, anders als Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) mit seinem Gedankenexperiment über den „Natürlichen Menschen“ für eine konservative Sicht. Denn ungefährlich ist bei ihm nur der gebändigte, der unfreie, unter der Obhut des Staates Lebende. Man kennt diese Argumentation aus den vergangenen Jahren. Freiheit und Sicherheit werden in den verschiedensten Debatten der Post-9/11-Ära gegeneinander ausgespielt. Wenn das nur alles so einfach wäre: Vorratsdatenspeicherung als Bollwerk gegen Zombies. Was mit erhöhtem Schutz und gesteigerter Überwachung tatsächlich gesichert werden soll zeigen die so genannten „Zombie-Walks“ der absichtlich grunzend durch die Wall Street ziehenden Kapitalisierungskritiker. Wer aber sehen möchte, wie sich postapokalyptische Visionen in der Realität Bahn brechen, der muss nur an die andere Seite unserer Wohlstandsgrenzen schauen. Hier haben strafende Staaten erst geschaffen, was Thomas Hobbes in seinem Experiment verhindert sehen will.
Georg W. Bertram: „Philosophische Gedankenexperimente“, Reclam, 312 Seiten, 12,95 Euro / Kathrin Röggla: „besser wäre: keine“, S. Fischer, 412 Seiten, 22,99 Euro / Thomas Hobbes: „Leviathan“, (herausgegeben von Hermann Klenner und Jutta Schlösser), Meiner Verlag, 674 Seiten, 22,90 Euro