Tag 3: Dieser Roman ist „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ – an einem Aprilwochenende im Wendland 1984. „Die Friedlichen, die Radikalen, die Bauern und die Frauen“ (72) demonstrieren gegen den Castortransport nach Gorleben an der Grenze zur Deutschen Demokratischen Republik. Mit dabei sind der 17-jährige Florian, sein älterer Bruder Holger, etliche Freunde und die verehrungswürdige Antonia (von allen Anton gerufen). Doch dann verschwindet im Demo-Chaos eine Dienstwaffe der Polizei und es tritt ein, was auf der ersten Seite des Romans bereits angekündigt wurde: Florian muss sterben.
Jo Lendles Miniatur „Frühes Ende“ (in: „Unter Mardern“) erzählt Jahre vor dem Roman bereits von der atomaren Bedrohung, hier allerdings vom Warschauer Pakt ausgehend. „Man hat mir als Kind den Dritten Weltkrieg versprochen. Bevor ich Zungenküsse kannte, wußte ich, die Reihenfolge meiner Tode. (…) Manchen Nachmittag lag ich auf dem Teppichboden des Wohnzimmers, ein möglichst kleines, querschnittarmes Ereignis in Erwartung umstürzender Regale. Vor den Fenstern gingen friedlich die Menschen, drinnen lag ich in unerklärtem Krieg. In Faltblättern vom Zivilschutz warfen sich junge Männer in weißen Hemden auf den Boden, gleich nach dem Blitz.“
Was nach dem Bombenabwurf oder dem GAU passiert und wie beides verhindert werden soll erzählt „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“, 2009 erschienen und nach „Die Kosmonautin“ der zweite Roman des DuMont-Programmleiters, der im Jahr darauf zum verlegerischen Geschäftsführer des Kölner Verlags berufen werden sollte.
Der oberflächlich harmlos präsentierte, autobiographisch inspirierte Roman ist gleichzeitig eine Erinnerung an AKW-Proteste der Achtziger Jahre, an denen Lendle als Jugendlicher selbst teilgenommen hat: „Dieses Wochenende im Roman gab es tatsächlich. Ich bin damals mit einer Gruppe von Freunden ins Wendland gefahren“ (Jo Lendle In: Unaufgefordert, November 2009). – „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ ist aber mehr als ein Generationenportrait. Es ist ebenso verschlüsselte Schilderung jener Symptome, die bei der damals im kollektiven Gedächtnis bewahrten „Strahlenkrankheit“ auftreten, die beispielsweise in Mike Nichols’ Kinofilm „Silkwood“ oder in Gudrun Pausewangs dystopischem Jugendroman „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (beide 1983) thematisiert wird.
„Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ ist ein ökologischer Abenteuerroman, ebenso eine anspielungsreiche Ost-West-Geschichte in Zeiten des Kalten Krieges: „Das war die Fremde, in die hinein sich das Wendland als spitzer, dreieckiger Stachel bohrte. Es lag abseits von allem, was wir kannten, umgeben von schwer befestigtem Feindesland. Was immer hier passieren mochte, auf dem, restlichen Bundesgebiet würde beim vorherrschenden Westwind nichts davon zu spüren sein.“ (31) Was also mit den Worten „dies ist meine Geschichte, die Geschichte von mir selbst, Florian Beutler“ (9) beginnt, ist hintergründiger als vorderhand zu vermuten.
Was ich vermeiden wollte, war so eine ‚Opa erzählt vom Krieg‘-Geschichte. Ich wollte nicht erzählen, was ich erlebt habe, in Konkurrenz zu heutigen Jugendlichen. Hätte ich meine Geschichte als heute noch Lebender geschrieben, hätte das leicht einen sentimentalen Ton bekommen. Jo Lendle In Margarete Stokowski: „Strahlender Widerstandskämpfer“. In: Unaufgefordert, November 2009.
Eine Gruppe Jugendlicher fährt am sonnigen Wochenende des 27. bis 29. April 1984 ins Wendland, um Auge in Auge mit der Polizei gegen den Castortransport ins Zwischenlager Gorleben zu demonstrieren. Bei Protesten gegen das im Bau befindliche Zwischenlager im September 1982 verursachten Wasserwerfer des Typs WaWe 6 bei sitzenden Demonstranten Rippenbrüche, Rückenprellungen und Nierenverletzungen; Klagen gingen bis vor das Bundesverfassungsgericht.
„Es war außergewöhnlich warm in diesem April, der Monat hatte die Erwartungen an sein sprichwörtlich wechselndes Wetter lächelnd übergangen. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet, die Schwimmbäder waren vorzeitig geöffnet worden, an Ostern hatten wir uns im T-Shirt auf die Suche nach unseren Schokoladeneiern gemacht und sie zwischen blühenden Krokussen und Hyazinthen gefunden.“ (25)
Die Demonstranten reisen im Gemeindebus, um Straßensperren ungehindert passieren zu können. Über die Seite des Busses „zog sich der Schriftzug ‚Sprengel Nord on tour‘, und auf der Heckklappe pappte ein Aufkleber ‚Die Letzten werden die ersten sein‘. Es war die perfekte Verkleidung. Wir waren der Jugendkammerchor auf dem Weg zu unserer Partnergemeinde in Lüchow-Dannenberg, im Gepäck ein bewährtes Programm geistlicher Liedkunst, im Herzen das Vertrauen auf das Wort des Herrn.“ (18)
Die Gruppe ist heterogen zusammengestellt. Hauptsächliche Verantwortung trägt Fahrer Wolf, „der Einzige von uns, der damals einen Führerschein besaß. Eben mit der Schule fertig, schmal und hochgewachsen, eigentlich hatte er Locken, aber er bekam schon eine Glatze und hatte sich die Haare abrasiert.“ (9) Dann ist da Kordel, „eine Art Albino, ich glaube, sie besaß überhaupt keine Pigmente“ (11), die „bei jedem neuen Lied aufstöhnte und wieder von ihrer Crosby, Stills & Nash-Aufnahme anfing, die aber überhaupt niemand hören wollte.“ (11)
Birte dagegen „war ein bisschen fülliger, die Augen standen dicht beieinander, ihr großes, rundes Gesicht wurde durchzogen von einem langen Mund, der ganz gerade war und sehr schmal, sie hatte die Haut eines Pfirsichs, mit diesen Blutäderchen auf den Wangen und dem Rosa, aber auch mit den kleinen Härchen überall, was immer niedlich aussah, aber richtig hinfassen wollte man auch nicht.“ (10)
Bernd ist ein „kühler, strähniger Typ, keiner riss sich darum, näher mit ihm zu tun zu haben, Lehrerliebling, groß in alten Sprachen, überhaupt Geschichte und Vergessenes, fast konservativ, was damals aus irgendeinem Missverständnis heraus nicht weit auffiel.“ (10) Und mit Holger Beutler reist der ältere Bruder des Helden Florian mit. Noch daheim hat Holger dem 17-Jährigen untersagt, einen „Atomkraft, nein danke!“-Button zu tragen, dieser – im Gegensatz zu ihm – nichts von den physikalischen Prozessen der Kernspaltung versteht.
Da gibt es tatsächlich die Geschichte, dass es meiner Schwester nicht so gefiel, weil sie älter war und sie verstand das mit der Atomkraft, weil sie das durchgenommen hatten, in der Schule und sie meinte, das verstehst du doch gar nicht und dann durfte ich eben einen „Baum ab, nein danke“-Button tragen, weil ich das eben verstand und das hat mir schwer Kummer gemacht. Jo Lendle im Interview mit mir. In: WDR 1LIVE, „Plan B Bücher“, 18.8.2009.
Holger „hatte ich es zu verdanken, dass alle mich Flo nannten. Ich selbst stellte mich damals als Ryan vor, was ich ganz lustig fand, aber Holger entschied sich halt für den anderen Teil meines Namens.“ (11/12) Flo ist begeistert von der ebenfalls mitreisenden Anton „die eigentlich Antonia hieß, ich hatte sie irgendwann mal im Spaß so genannt, und alle waren darauf eingestiegen“ (12)
Flo/Ryan und Anton/Antonia sind ein Paar, haben sich bereits mehrfach getroffen und gehofft, ihre Eltern klopften nicht alle fünf Minuten an die Zimmertür: „[W]ir nannten es Musikhören, aber ich habe keine Erinnerung an die schwarzen Scheiben, die auf dem Plattenteller ihre Kreise drehten, während aus den Lautsprechern irgendein langhaariger Sänger di Unzulänglichkeiten der Welt besang.“ (91)
Das Doppelgängermotiv, das Jo Lendles aktuellen Roman „Was wir Liebe nennen“ von 2013 strukturiert, taucht hier sowohl in den zwiefach benannten Figuren auf, als auch vermittels einer narratologischen Paradoxie. Protagonist und Erzähler Flo(Ryan) kündigt schon im ersten Absatz des ersten Kapitals an, im Folgenden von seinem Ableben am Sonntag des 28. April 1984 zu sprechen. Ebenso will Flo beschreiben, wie er mit seinem zu kurzen Dreiviertelanzug aus angeblich dunkelbrauner Schurwolle zusammenkam – tatsächlich: „Hundert Prozent Polyamid, made in Bangladesh“ (205), einem über die Jahrzehnte weiter gereichtes Familienerbstück, das nun als markanteste Verkleidung herhalten muss (Flo gibt vor Mitglied eines christlichen Jugendchors zu sein).
Berichtet wird von einem, der tot ist, und das seit 25 Jahren – das einzige Element des Romans, das nicht überzeugt, weil es der Autor gleich im ersten Absatz verrät, wodurch die Geschichte eine Zwangsläufigkeit erhält, die ihr trotz aller Dramatik im absehbaren Finale nicht guttut (…) Michael Sailer: „Buch & Deckel“. In: Konkret, 11/2009.
Markus Meller argumentiert im Deutschlandradio Kultur, dass die so genannte „Generation Golf“ nach Gorleben von „der Sprache bis zum Dresscode (…) die letzte verbliebene Ideologie entsorgt“ (6.1.2010) hat und dass bei den Anti-AKW-Demos der 1980er Teilnehmer identifiziert werden können „genau jener letzten Generation des 68er Protestes, die 1983 in Bonn demonstrierte und in Gorleben Krawall machte.“ Diesen Sätzen Mellers folgend ist einerseits der dunkelbraune (!) Anzug mehr als ein vererbtes Kleidungsstück und die doppelt benannten („gespaltenen“) Figuren mehr als Ausdruck damals zeittypischer Verkürzungen (Ryan), Genderangleichungen (Anton), Spitznamen (Kordel).
Wo das Kleidungsstück auf die deutsche Geschichte von der NS-Zeit über die 68er-Proteste bis zu neuen ökologischen Bewegungen hinweist, spiegeln die doppelten Namen die Differenz BRD/DDR ebenso wie einige der weiteren, signifikant gesetzten Basisoppositionen im Roman: Polizeiapparat/Demonstrantenkollektiv, Pazifismus/Militarismus, Technik/Natur et cetera. – Ein Toter berichtet vom Lebendigen. Auf der discours-Ebene ist Florian Beutler tot, bevor die Gruppe im Demo-Camp ankommt. Am Ende der Geschichte wird er bei einem Waldbrand verglühen, nachdem ihn tagelang ein unfassbarer Durst gequält hat.
Durch seinen Durst ist Florian dann auch nicht mehr in der Lage, klug oder besonnen zu handeln. Er lässt die Dinge eskalieren. Es gab damals sicherlich auch durchdachten politischen Widerstand, aber diese Gruppe gehörte nicht dazu. Jo Lendle In Margarete Stokowski: „Strahlender Widerstandskämpfer“. In: Unaufgefordert, November 2009.
Auf Inhaltsebene ist dieser Durst mit der Desorganisation von Flo und seinen Freunden begründet, ihrer fehlenden Bereitschaft, an Autobahnraststätten etwas zu kaufen (26), mit ihrer Unkenntnis darüber, dass Löschwagen der Feuerwehr außerhalb von Einsätzen kein Wasser in ihrem Tank mitführen (138), darin, dass auf dem Dorf nachts alle Tankstellen geschlossen sind (150). Werden aber die Flammen des Waldbrandes auf den letzten Seiten mit dem Tod auf der ersten, dem brennenden Durst dazwischen und der AKW-Thematik verknüpft, deutet alles auf GAU/Bombe (der Brand), die daraufhin einsetzende Strahlenkrankheit (zu deren Symptomen der unstillbare Durst infolge der Zerstörung des Magen-Darm-Traktes gehört) und den späteren Atomtod hin.
Florians Durst, der immer stärker wird, ohne dass er ein Getränk auftreiben könnte (während über ihm die Wasserwerfer spritzen), ist das Motiv, das Lendles Roman durchzieht und das Geschehen auf den Straßen des Wendlands vom Skurrilen ins Absurde und schließlich ins Existentielle gleiten lässt. Wiebke Porombka: „Das Verlorene, das wir nie hatten“. In: Der Tagesspiegel, 10.9.2009.
Die Gruppe erreicht das Camp, baut ihr Zelt auf, beteiligt sich an Vorbereitungen für die morgigen Blockaden, ist aber spürbar nicht an einer politischen Lösung des Konflikts interessiert. Im Plenum vor der Demo, als viele Diskutanten „gegen das unaufhörlich weitersprechende, rufende, fiepende Megafon“ (72) nicht ankommen ist es Flo nur Recht, dass die Debatte zum Erliegen kommt. Er ist kein Mann des Worts, sondern der Tat, hat bereits im Jahr zuvor mit kreativen, gewaltfreien Mitteln den Bau eines Panzerzielfeldes daheim sabotiert. Pazifismus und Militarismus stehen sich gegenüber. Als Zwölfjähriger schreibt Flo bereits ans Kreiswehrersatzamt und verweigert vorsorglich den Militärdienst.
Die frühe nächtliche Räumung des Camps wirkt als Katalysator folgender Ereignisse. In dem Chaos wird eine Dienstpistole der Polizei entwendet. Besagte Waffe gelangt am kommenden Tag zufällig in Flos Hände. Der literarischen Technik von „Tschechows Gewehr“ folgend („Man kann kein Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand die Absicht hat, einen Schuss daraus abzugeben“) wird diese Pistole abgefeuert, Flo zwar nicht erschossen, aber durch die daraus folgenden Umstände sterben. „Er fällt zwar auf der Ostseite des Zauns zu Boden, da aber ist er schon tödlich getroffen. Die DDR bleibt in diesem Buch letztlich eine Randerscheinung“, sagt Michael Kuhlmann in der SWR 2-Sendung „Forum Buch“ am 20.9.2009 und geht seltsamerweise nicht auf das bekannte Ende der John LeCarré-Verfilmung von „Der Spion, der aus der Kälte kam“ (1965) ein, in dem Richard Burton in seiner Rolle als Alec Leamas aus selbstmörderischen Motiven auf der Ostseite der BRD/DDR-Grenze hinabklettert.
Früh erzählt „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ vom Zonenrandgebiet, den „nackten, blinden Wachtürmen“ (30) und Selbstschussanlagen, auch von Selbstmörder, die sich in die Minenfelder begeben, um in ihnen zu sterben. „Sicher war es nicht gerecht, aber so war für uns dieses Land jenseits der Grenze ein Ort des Todes geworden, ein abgeschlossenes Reich, hinter dessen Zaun die Nachkriegszeit gefangen blieb und der ganze Krieg gleich mit.“ (31) Ebenso wie sich die etliche Atomkraftgegner am Rand des Todes wähnen und der Tod des Erzählers Gewissheit ist, so wird auf räumlicher Ebene die Differenz zwischen Leben/Sterben durch derartige Szenen aktualisiert.
Selten wurde der barocke Vanitasgedanke „Media vita in morte sumus“ vergleichbar omnipräsent in einem Werk der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur instrumentalisiert. Jo Lendle hat die ihm entgegenschlagenden Kritiken an keiner Stelle entkräftet, vielleicht, weil sie doch allzu absurd wirken. Die Zeit nennt den Roman „eine volle Ladung Altersweisheit für junge Leute“ (Walter van Rossum, 24.9.2009) und Deutschlandradio Kultur bezeichnet einige Passagen des Romans als „unfreiwillig komisch“ (Marius Meller: 6.1.2010), vor allem diese: „Wir waren Atome, vereinzelt, geladen, erregbar, unter zu hohem Druck in zu großer Menge geballt, als dass es am Ende gut gehen konnte. Zusammen waren wir Brennelemente ungesichert, ungesteuert, längst liefen Prozesse in uns ab, die sich jeder Kontrolle entzogen, Immerzu brodelte es in uns. Wir waren die kritische Masse.“ (71)
Ich wollte etwas schreiben über die Zeit der 80er – weil ich die spannend finde, weil ich die literarisch unberücksichtigt finde – und es ist natürlich auch die Zeit, in der ich selber in diesen aufregenden Jahren war, wo man die Welt doch mit anderen Augen anschaut, und diese Kombination aus jugendlichem Ungestüm-Sein und diesen äußeren Zielen – das fand ich reizvoll. Jo Lendle im Interview mit Michael Kohlmann. „Forum Buch“. In: SWR 2, 20.9.2009.
Tatsächlich sind die inkriminierten Stellen allzu deutliche Rollenprosa, also poetologisch begründbar. Flo beschreibt Antons Augen mit den scheinbar lächerlichen, doch in seinem Alter begründeten Worten Worten: „Es lag eine Ironie in ihrem Blick, und zugleich war er aufrichtig und klar. Ein Teich, an dessen Ufer niemand in Zweifel zog, dass er tief genug sei, darin zu schwimmen“ (106) und Barrikaden werden nur scheinbar unpassend mit einem Mikadospiel verglichen (177). Tatsächlich ist es bei Jo Lendle so:
„Seine Sprache wird dem 17-Jährigen gerecht, schafft gleichzeitig aber Distanz zum Geschehen. Mal bricht sich Poesie Bahn, dann sind Straßen ‚mit Dunkelheit und Stille glasiert‘, mal wartet sie kokett mit Patina auf, dann ‚wirft man sich in Schale‘. Und nie werden die Herren mit Schlagstock und Schild Bullen genannt.“ Christiane Pöhlmann: „Ein kurzes Wochenende der Anarchie“. In: Die Tageszeitung, 5./6.9.2009.
„Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ erzählt, ebenso wie die Raumfahrergeschichte „Die Kosmonautin“ und das Biopic „Alles Land“ mit seinen Heißluftballonfahrten und Erfindungen von technisch determinierten Situationen. Ein Schiffshebewerk wird besichtigt (146), dessen Funktionsweise dem Helden ebenso unbekannt ist wie die Atomkraft, die Funktionsweise von Feuerwehrgerät oder dem korrekten Aufbau eines Tipi. Er ist ein unwissend Staunender, während das Piratenradio Wendland unter dem Slogan sendet: „Wir strahlen aus, damit der Landkreis nicht strahlt.“ (141)
Er ist ein reiner Tor, der nicht einmal popkulturelle Phänomene angemessen beschreiben kann: „Hätte nicht geraden Gordon Matthew Sumner mit brüchiger Kopfstimme seine Liebe zu Roxanne Ausdruck verliehen, man hätte zweifellos ein Raunen durchs Zimmer wogen gehört.“ (93) – Nie ist Sting als Sänger von „The Police“ unter seinem diesem Namen aufgetreten. Oder noch deutlicher: „‚This is the end, my only friend’, klagte der Sänger, und Holger erklärte, das seien die Doors.“ (186)
Allzu vertraut sind die Erinnerungen an die dackelbraunen Oberlippenbärtchen der Wachtmeister, die lila Wallekleider der Frauenbewegten und die Mischung aus Schweiß und Rum-Cola, die nach der Party einfach nicht mehr aus dem elterlichen Wohnzimmer wegzulüften war. Das ist nur einer der Gerüche, die sich während der Lektüre dieses Buches unvermeidlich in der Nase festsetzen. Aber es wird noch schlimmer: Mit den Gerüchen kommt auch der ganze verkniffene Sprach- und Diskussionsmief wieder hoch, der in gewissen, sich als fortschrittlich verstehenden Kreisen vorherrschend war. Sarah Elsing „Störfall im Hormonkraftwerk“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.2009.
Florian Beutler steht als zwischen den zeitgleich auftretenden Popeln, der „Generation Golf“ und der „Atomkraft, nein danke!“-Bewegung, zu der sich noch sein Bruder Holger zählt. Er ist ein Mitläufer, der sich wohlfeile Slogans abgeschaut hat: „[S|ie versteckten sich hinter einer Individualität, die längst zur Uniform geworden war.“ (94), der zwischen den Stühlen und Szenen sitzt. – „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ erscheint auf jene Weise, wie sie Tillmann Severin in seinem Text „Castorchaos vs. Eigenheim“ beschrieben hat: „Wenn einem die etwas niedliche, larmoyante Stimme des Erzählers, der sich an sein kurzes Leben erinnert nicht zu sehr in den Ohren liegt, ist man von der Hintergründigkeit und Doppelbödigkeit der Sprache verblüfft.“ (in: poetenladen.de, 24.11.2009) Genauer gesagt: Es ist diese „etwas niedliche, larmoyante Stimme des Erzählers“, die Jo Lendles zweiten Roman chiffriert, poetisiert und vom Autobiographischen ins Allgemeingültige transferiert, fernab des Niedlichen, des „sprachlich [A]usgewogenen“ (Melle) und des „unfreiwillig [K]omisch[en].“ Es ist ein guter Roman.
Jo Lendle: „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“, DVA, 2009, 258 Seiten, 19,95 Euro
Sekundärliteratur (Auswahl) Jan Drees: „Plan B Bücher“. In: WDR 1LIVE, 18.8.2009. Christiane Pöhlmann: „Ein kurzes Wochenende der Anarchie“. In: Die Tageszeitung, 5./6.9.2009. Wiebke Porombka: „Das Verlorene, das wir nie hatten“. In: Der Tagesspiegel, 10.9.2009. Sarah Ersing „Störfall im Hormonkraftwerk“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.2009. Michael Kuhlmann: „Forum Buch“. In: SWR 2, 20.9.2009. Walter van Rossum: „Damals: 1984“. In: Die Zeit, 24.9.2009. Margarete Stokowski: „Strahlender Widerstandskämpfer“. In: Unaufgefordert, November 2009. Michael Sailer: „Buch & Deckel“. In: Konkret, 11/2009. Tillmann Severin: „Castorchaos vs. Eigenheim“. In: poetenladen.de, 24.11.2009. Alex Rühle: „Lila Gewänder im Wendland“. In: Süddeutsche Zeitung, 8.12.2009. Marius Meller: „Gewinnend selbstironisch“. In: Deutschlandradio Kultur, 6.1.2010. Dagmar Jestrzemski: „Tod im Wendland“. In: Preußische Allgemeine Zeitung, 5./6.2.2010.