„Die systemtheoretische Journalismusforschung geht von einem schwerwiegenden Synchronisationsproblem für den Fall aus, dass Journalismus als Leistungssystem ausfiele. Eine Gesellschaft ohne Synchronisation würde schlicht nicht mehr wissen, was am anderen Ende vor sich geht, und auseinanderfallen.“ (S. 23) – Doch wer entscheidet, was im Blatt ist? Und warum ist die News nicht mehr das goldene Kalb, um das die Branche tanzt? Der Wired-Redakteur und promovierte Kommunikationswissenschaftler Jakob Vicari hat in seiner Dissertation eine neue Theorie entwickelt und in 16 deutschen Zeitungsredaktionen evaluiert – mit Aufsehen erregenden Ergebnissen, die ab morgen auch hier diskutiert werden: bei der Winterschool „Social Turn in der Literatu(wissenschaft)?“ der Universität Münster.
„Mit der Komposition ist es ein wenig wie mit dem Okapi“, schreibt Vicari auf Seite 33 seines Buchs „Blätter machen – Bausteine zu einer journalistischen Theorie“, das vor Kurzem im Kölner Herbert von Halem-Verlag erschienen ist. „Okapis gehören zu den letzten entdeckten Säugetieren. Prinzipiell wusste man schon alles über Säugetiere, doch nichts über das Okapi. Das Okapi bewohnt dichte tropische Regenwälder hauptsächlich auf dem Gebiet der Demokratischen Republik Kongo. Erst 1909 gelang es, ein lebendes Okapi zu fangen. Bis heute ist wenig über das Leben der Okapis bekannt. So ist es auch mit der Komposition: Den Einheimischen ist sie vermutlich schon lange bekannt. Jeden Tag wird in deutschen Redaktionen komponiert – und zwar bewusst komponiert. Doch erst jetzt startet eine wissenschaftliche Expedition zu ihrer Erkundung und Bestimmung.“
Komposition also. „Mein Ziel ist es, ein geläufiges Verständnis von Journalismus zu kritisieren. Ich möchte der Journalistik eine andersartige Betrachtungsweise zur Verfügung stellen“, schreibt Vicari. Damit setzt er seinen Kompositionsbegriff gegen andere gängige Schlagworte, die ebenfalls erklären wollen, nach welchen Programmen die Themen ihren Weg in die Medien finden: wie Nachrichtenfaktoren, Agenda Setting, Gatekeeping oder Inszenierung. Die These von Vicari ist dem hinzugestellt: „Komposition bringt die ganze Welt in die Form einer Titelseite – eine unglaubliche Leistung bei der Reduktion von Komplexität. Ich bin angetreten, das Geheimnis bei der Entstehung von Blättern wissenschaftlich zu fassen. Mittels Komposition kann ein anderer Blick auf das Problem Blattmachen geworfen werden. Journalismus ist auch ein Kompositionssystem.'“ (181)
Der Kompositionsbegriff ist in der Wissenschaft selten verwendet worden, mit Ausnahme in einem Programm zur Ensemble-Forschung der DDR-Journalistik, das diesen Begriff verwendete. „Angesiedelt in Leipzig, entstanden in den Jahren 1968 bis 1978 in Leipzig 68 Diplomarbeiten und mehrere Dissertationen zum Thema. Sie folgten dem Gedanken, dass nicht nur einzelne Artikel, sondern auch die Zusammenstellung verschiedener Themen eine Wirkung erzielen. Dabei entstand eine durchaus anschlussfähige Definition der Komposition: ‚Mit Komponieren soll nicht ein neuer Name für einen längst bekannten und auch schon benannten Sachverhalt eingeführt werden. Er soll eine Gruppe von Tätigkeiten im journalistischen Arbeitsprozeß bezeichnen, die auf die zweckgerichtete, objektiv richtige Ordnung und Zusammenfügung von Einzelprodukten journalistischer Tätigkeit zu richtig proportionierten, sinnvollen, aussagekräftigen Ganzen gerichtet sind und deren Erschließung noch am Anfang steht‘ (KRONE 1978: 16).“ (53)
Die Ereignisse eines Nachrichtentages oder -woche finden, so Vicaris Vermutung, nach einem spezifischen Programm den Weg in die Zeitungen. Denn es wird nicht alles berichtet, was neu passiert und es wird manchmal selbst dann berichten, wenn nichts Neues geschehen ist. Dennoch schaffen Medien permanent den Eindruck, sie vermeldeten die „relevanten News“.
„Eine Woche, eine Welt: Konzerne berechnen, was wir tun, die Grünen hadern mit ihrer Geschichte und Pharmakonzerne benutzen Menschen in der DDR zu Menschenversuchen. Was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, ist eine journalistische Komposition. Zusammen formen Big Data, die Grünen und ihr Verhältnis zu Pädophilen und das Pharmalabor DDR eine neue Ausgabe der Medienrealität: Der Spiegel, Nr. 20.“ (13) In den Abbildungen: Wie der typische Spiegel einer Woche aussehen könnte – und wie er dann tatsächlich ausgesehen hat.
Alle diese Themen finden nicht lediglich deshalb den Weg in den Spiegel, weil Redakteure eine Eins-zu-Eins-Kopie der Welt zur Verfügung stellen. Journalisten sind nicht bloß Mittler von Informationen. Ebenso wichtig wie die Sammlung und Auswertung von Material sind bestimmte Formen der Zusammenstellung dieser Informationen. Journalisten schaffen erst die Welt, die vermeintlich bloß abgebildet wird. Viele Faktoren sind hier am Werk. Welche es genau sind, ergründet Vicari. „Eine Theorie der Komposition ist keine universelle Theorie des Journalismus, sondern eine Theorie des Kernvorgangs“, schreibt er ,„sie erklärt nicht die Fernsehnachrichten, den PR-Einfluss oder die Pressekonferenz im Rathaus. Eine Theorie der Komposition ist keine Kritik von Medieninhalten. Komposition erklärt die Zusammenstellung der Medienwirklichkeit.“ (14)
Auch Algorithmen können Themen aussuchen, anordnen, gewichten, logische Verknüpfungen erstellen. Von Menschen ausgeübter Journalismus besitzt heutzutage also nur dort eine Relevanz, wo er andere Leistungen bereitstellt als das, was Programme längst können. Eine Art journalistische Kreativität. „Die Leser journalistischer Produkte brauchen ja heute keine Tageszeitung mehr, um sich über die Nachrichtenlage zu informieren“, schreibt Vicari. „Die Nachrichtenlage ist zudem nicht profilbildend – im Gegensatz zur Komposition (vgl. These 8, S. 166). Die Finanzkrise haben alle, die Fehler des Bürgermeisters, die Ergebnisse der Regionalliga und die Premiere im Stadttheater hat womöglich nur das Lokalblatt. Das ist die spezifische Kompositionsleistung. So sagt der Mantelchefredakteur des Fränkischen Tags: ‚Das ist immer so, wir versuchen stärker, jetzt nicht die Themengewichtung zu übernehmen, die von der Agenda von den Agenturen gesetzt wird. Sonst hätten wir die Finanzkrise jeden Tag als Aufmacher‘ (R10:288).
Neuigkeit und Relevanz müssen als Aktualität zusammenkommen und dürfen nicht zur Übergewichtung falscher Themen führen (ebd.: 268). Das macht die Komposition zur starken Gegnerin jeder Breaking News. Anders ausgedrückt, könnte man von einer Aktualitätsumgewichtung durch die Komposition sprechen: Während Komposition die Relevanz überbetont, gewichtet sie Neuigkeit schwächer.“ (176)
Mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns analysiert Vicari die Medien. Und durch 16 miteinander koordinierte Redaktionsbesuche schafft er im Frühjahr 2012 die Grundlage seiner Argumentation, als Journalismusstudenten seines Münchner Seminars mit einem Beobachtungsbogen und einem vorbereiteten Leitfadeninterview ausschwärmen, um bei so gegensätzlichen Medien wie die AZ, die Zeit und dem Fränkischen Tag den Ablauf der jeweiligen Redaktionskonferenz zu notieren. Denn hier, so eine weitere These Vicaris, in der Konferenz, wird entschieden, welche Themen es in welcher Aufmachung später ins Blatt schaffen werden. Hier ist die Schaltzentrale der Komposition.
„Für Koordination und Komposition nehmen die Konferenzen eine eminent wichtige Stellung ein. Wie zentral eine Redaktionskonferenz ist, wurde im Sommer 2012 bei der Thüringer Allgemeinen diskutiert. Der dortige Chefredakteur Paul-Josef Raue hatte die Konferenzen einfach gestrichen. Der Chef hielt Konferenzen also für verzichtbar. Die Kommunikationskultur sei dadurch vollständig zusammengebrochen, beklagten daraufhin Redaktionsvertreter öffentlich, der Betriebsfrieden sei gestört. Den Brief an Raue unterzeichneten zwei Drittel der Redakteure, darunter auch Ressortleiter und viele Lokalchefs. Als Reaktion wurden die Redaktionskonferenzen wieder eingeführt (Grimmberg 2012).“ (72) – Was in diesen Zusammenkünften genau besprochen, wie auf Vorschläge reagiert, nach welchen Mustern entschieden wird war bislang nahezu unbekannt.
Erst recht ist nicht klar, wie jene Themenmischung entsteht, die am Ende dafür sorgt, dass Wirtschaftsgipfel neben Glossen neben Gossip aus der Entertainmentbranche stehen, also Systeme miteinander in Berührung geraten, die ansonsten eher selten miteinander zu tun haben. Doch auf der Titelseite kommen sie zusammen. Dass Newsfaktor allein keinen Ausschlag gibt wurde oben bereits beschrieben. Unklar ist, welchen Einfluss Faktoren wie die Anzeigenlage, die Prominenz eines Themas, oder die Anmerkungen der Netzkommentatoren und Leserbriefschreiber haben. Auflagenschwund und Medienkritik werden theoretisch eher als Irritationen aus der Umwelt gefasst. Auf sie reagiert Journalismus durch Anpassung seiner Programme.“ (145)
Programme stellen sicher, dass jeden Tag eine Zeitung entstehen kann – und zwar dank routinierter Abläufe. Kein Redakteur hat die Zeit, um jeden Tag erneut das Blattmachen zu erfinden. Es gibt geregelte Abläufe, die nahezu automatisch dazu führen, dass der Leser morgens eine Zeitung in den Händen hält, die sich von der Anmutung nicht von früheren Ausgaben der selben Marke unterscheidet: Die BILD wird nicht über Nacht zur F.A.Z. Und umgekehrt. Das würde selbst dann nicht geschehen, wenn Kai Dieckmann plötzlich den Posten von Günther Nonnenmacher einnehmen würde.
Jakob Vicari from Oliver Eberhardt / FilmDuene on Vimeo.
„Auf den ersten Blick ist die Titelseite der B. Z. vom 7. Februar 2011 recht langweilig. Eine Schlagzeile zum Wetter. Doch tatsächlich ist es eine ungewöhnliche Seite für eine Boulevardzeitung. Denn es gibt keine Hauptgeschichte“, schreibt Vicari. „So macht die Seite den Kompositionsfaktor Verknüpfung sichtbar, der sonst am schwierigsten festzumachen ist. Der Blattmacher über die Seite: ‚Bei dem Blatt von gestern fehlt eine Menge: Es gibt keinen Sport-Anriss, keinen Service-Anriss, keinen Fernseh-Anriss, keinen Klatsch-Anriss. Warum habe ich das gemacht? Weil ich das Gefühl hatte, keine der einzelnen Geschichten trägt eine Hauptschlagzeile. Aber alle zusammen tragen so ein Stadtgefühl‘ (B9:233, Abb. 6.2). Hier wird die Verknüpfung von Themen gut sichtbar, die auf einen Zusammenhalt der Welt, eben ein Stadtgefühl hinweist.“
Wohlfühlfaktor, Stadtzusammenhalt, Anmutung und die Intention des Chefs: So entsteht eine Titelseite. Dafür reicht, dass Mieter frieren, Handys versagen und man nur nach draußen schauen muss um zu sehen: Es schneit. Es schneit sogar seit Tagen. Also ist die Neuigkeit auch hier kein reiner Anlass, damit es ein Thema auf den Titel schafft. „Die vorliegenden Daten lassen kaum einen anderen Schluss zu, als dass Komposition im System Journalismus gegen Neuigkeit arbeitet. Und das ist auch plausibel. Komposition ist ein komplexes Programm. Daher wird an ihren Ergebnissen festgehalten, so lange es geht. Gegenspielerin dieses Festhaltens ist vor allem die Neuigkeit.“ (174).
Das ist erst einmal überraschend, galt doch bislang vor allem das Neue als relevante Größe im Journalismus. Doch es geht weiter. „Ein Tagesschau-Effekt hingegen, nach dem sich die Titelseiten nach der 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau richten, wird nur ein Mal erwähnt. Bei der Augsburger Allgemeinen (R8) werden beim Mediendienst Meedia die Konkurrenz-Titelseiten sondiert (R8:216). Eine ähnliche Seite wie die Konkurrenz hingegen gilt als Kapitulation: ‚Wenn einem nichts einfällt, dann macht man einen [Titel], der relativ ähnlich zu anderen Zeitungen aussieht, sozusagen eine Gewohnheitsseite‘ (R11:307).“ (167)
Themen werden durch ihr Umfeld gesetzt. Die Mischung wird vom Chefredakteur und seinem Stellvertreter entschieden. Die Daten von Jakob Vicari lassen nach den 16 Redaktionsbesuchen und Leitfadeninterviews nur darauf schließen, dass der Blattmacher am Ende wichtiger ist als der einzelne Autor und dass es Titelmeldungen gibt, die es nur deshalb nach vorne schaffen, weil sie auf gestalterischer und inhaltlicher Ebene einen Kontrast setzen. „Dies ist nicht der Platz, an dem diskutiert werden soll, ob sich Zeitungen mit jungen Frauen auf dem Titel besser verkaufen“, schreibt Vicari. „Doch die Sorge um zu wenig abgebildete Frauen scheint in deutschen Redaktionen eine der darstellerischen Hauptsorgen. In diesem Gedanken findet sich der Grundgedanke der Komposition wieder: Die Anhäufung vieler alter Männer und daher der Trend zur Konformität (Kapitel 4.8, S. 99). Dagegen kann Komposition wirken, da sie andere Geschichten miteinbezieht.“ (172)
Am Ende dieses knapp 180-seitigen Bandes wird also mit etlichen Mythen des Journalismus aufgeräumt. So ganz falsch scheint Vicari damit nicht zu liegen. So schreibt Horst von Buttlar, Chefredakteur von Capital: „[W]er es als Blattmacher gelesen hat, denkt danach anders, denn es ist auch ein Denkanstoß, ein Beitrag zur Selbstverortung in einer Welt, die für viele seit geraumer Zeit bedroht ist oder zu zerfallen scheint.“ (von Butlar: 2014: 97) Es ist keine Ernüchterungsschrift per se. Aber sie bietet einen erklärenden Ansatz für die Beurteilung von gerade gehypten Topthemen (aktuell, also am 2.12.2014 um 2:13 Uhr heißen diese bei spiegel.de: Lufthansa, E.on, Hongkong, Borussia Dortmund, Tugce. A. – Romantisch wäre die Vorstellung, allein die Vorlieben der User hätten hier die Neuigkeit zur Nachricht werden lassen. Dahinter steckt, ob online oder im physischen Blatt zumeist die Gestaltungskraft eines Einzelnen. Wer das versteht, findet umso schneller einen Argumentationsansatz, um Seuchen-Hysterien, Hetzkampagnen und dem ewigen Gerede um die nicht enden wollende Wirtschafts-/Europa-/Rentenkrise etwas entgegenzusetzen. „Blätter machen“ von Jakob Vicari ist dabei eine der hilfreichsten Irritationen aus dem Feld der systemtheoretischen Wissenschaft. Ganz im Sinne Niklas Luhmanns, dass es am Ende nicht darum gehen könne, eine Differenz aufzulösen, sondern sie nach Analyse gegen eine „bessere Differenz“ einzutauschen.“
Jakob Vicari: „Blätter machen – Bausteine zu einer journalistischen Theorie“, Herbert von Halem-Verlag, 206 Seiten, 24 Abbildungen, 25 Euro / Alle Abbildungen sind aus dem Buch / Hier geht es zu dem Beobachtungsbogen, den Jakob Vicari verwendet hat
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