Ab 2019 müssen wir ohne den Otto-Katalog durchs Lebens kommen. Erinnerung an eine wirkmächtige Publikation. (Beitragsbild: Ein Blick in den ersten Otto-Katalog von 1950).
Der Sputnikschock, das Wirtschaftswunder, Rock’n Roll und ja – auch der Katalog des Versandhändlers Otto stehen für die 1950er Jahre in Westdeutschland. Wenn jetzt die letzte Ausgabe des bildgewaltigen Druckwerks in die hiesigen Haushalte geliefert wird, dann verschwindet schon bald ein Stück bundesrepublikanischer Konsumästhetik, dann verabschiedet sich mal wieder ein Produkt vom Haptischen ins Virtuelle; man könnte wehklagen und trauernd zum Kaddisch für einen Katalog anstimmen, wenn man nicht zugleich an die vielen Bäume dächte, die nun nicht mehr gefällt werden. Das Knistern verschwindet, doch das Rascheln im Wald, das bleibt; weniger pathetisch mag es der emphatische Literaturkritiker angesichts der vielen, zum heutigen Tage erscheinenden Nekrologe kaum formulieren.
Ein Anruf im Archiv der Deutschen Nationalbibliothek bringt zu Tage, dass zwar alte Flugpläne von Lufthansa zwischen den Werken hochgeehrter Nobelpreisträger gesammelt werden, aber ausgerechnet der Otto-Katalog ist nicht vorrätig. Er fehlt. Sein Fehlen wird bereits jetzt bedauert, weil die Otto-Publikation, die nie eine ISBN-Nummer erhielt, auf besondere Weise für die Alltagskultur der Nachkriegsjahrzehnte steht.
Man denke nur daran, in welcher Weise sich die sexuelle Erstbegegnung mit dem Schlüpfrigen vom einst mit hochrotem Kopf durchblätterten Anatomieatlas auf die Seiten der Wäsche-Kollektion verlagert hat. Womit wir mitten im Begehren wären, dem wichtigsten Schlüsselreiz des Kapitalismus. Was sind schon die schmachtenden Gedanken eines leidenden Werther gegen den lustvollen Blick all jener, die sich durch die Otto-, also durch die große Warenwelt blätterten; zeitlich und räumlich ungebunden. Ach…
Im deutschsprachigen Raum wurden die ersten bebilderten Kataloge ab 1886 von dem bis heute als Versandgeschäft tätigen Herrenausstatter Mey & Edlich versendet. Im Jahr 1960 rezensierte kein Geringerer als Hans Magnus Enzensberger zum ersten Mal einen Versandhauskatalog. Es folgten später viele weitere Rezensionen unterschiedlicher Konsumkataloge, von Literaturkritikern wie Hellmuth Karasek bis hin zu „Druckfrisch“-Impresario Denis Scheck.
Der Katalog vom Otto-Konkurrenten Neckermann wurde bereits 2012 eingestellt. Das Versandhaus Quelle verschwand 2009 vom Markt. So bleiben dem blätternden Flaneur nur noch die Ausstellungskataloge, die gereicht werden bei Vernissagen und Museumsrundgängen; oder das beinahe in Instagram-Optik feilgebotene Werk des schwedischen Ikea-Möbelhauses. Der Otto-Katalog wird allerdings, seien wir ehrlich, auf die gleiche Weise fehlen wie die Telefonbücher: überhaupt nicht. Er wird nirgends mehr gebraucht. Wehmut ist angebracht, allzu heftiges Weinen aber nicht.