Vom 5. Bis 21. August 2016 finden die Spiele der XXXI Olympiade im brasilianischen Rio de Janeiro statt. 206 Nationen nehmen teil (minus Russland als Mannschaft) – ein Rekord. Aktive SchriftstellerInnen und Schriftteller werden nicht an den Start gehen. Schade eigentlich. Denn es gab bereits olympische Wettbewerbe in den verrücktesten Disziplinen, neben Sackhüpfen (1904) und Tauziehen (1900-1920) eben auch im Wettdichten (in der Antike, aber auch von 1912 – 1948). Dennoch gilt auch im Jahr 2016: nicht nur via Live-Stream oder TV-Berichterstattung kann man die Olympischen Spiele verfolgen. Es gibt auch zahlreiche Bücher, die zum größten Sportereignis der Welt passen – vom Fußballgedichtband bis zum Hammerwurfroman. (Dieser Text ist eine Übernahme von Deutschlandfunk.de)
Startschuss! Anpfiff! Dann wird gelesen – Bereits das „Nibelungenlied“, so etwas wie das deutsche Nationalepos, ist durchsetzt von sportlichen Wettkämpfen. Der Text, irgendwann zwischen 1190 und 1205 entstanden, ist von den letzten Olympischen Spiele der Antike rund 800, von den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit rund 700 Jahre entfernt. Der Drachentöter Siegfried kommt hier als Recke par excellence herüber, vom dem seit seiner Jugend die wunderbarsten, vor allem körperliche Taten berichtet werden. Er ist mit heldenhaftem Mut ausgestattet, kampfgewandt, eloquent wie der rappende (und vor Kurzem verstorbene) Boxer Muhammad Ali, von dem die literarischen Zeilen überliefert sind: „I done wrestled with an alligator, done tussled with a whale / I handcuffed lighting… thrown thunder in jail / yesterday I murdered a rock, injured a stone, hospitalized a brick/ I’m so mean…I make medicine sick.“ Am Hofe wird geritten, es gibt einen kuriosen Weitwurfwettkampf, von Massenschlägereien wird berichtet, die eher an „ultimative fighting“ erinnern, betrügerisches Doping kommt vor (die Tarnkappe!), Speere werden nicht nur im Kampf geschleudert. Der Sport hat also seinen Platz von Anfang an in der deutschsprachigen Literaturgeschichte – in der internationalen sowieso.
Aber auch im 20. Jahrhundert sind Sport und Literatur enger miteinander verknüpft, als der gemeine Leser annehmen mag. Der 2006 erschienene Sammelband „SportsGeist – Dichter in Bewegung“ (bei Arche) erzählt von der Fußballleidenschaft Albert Camus’, von der Tennisbegeisterung Ludwig Thomas und Heimito von Doderers, von den Kanutouren Uwe Johnsons und von der Sportskanone Marieluise Fleißers, die mit dem vor einiger Zeit bei Suhrkamp neu aufgelegten „Eine Zierde für den Verein“ bereits in den 1930er Jahren einen wahnsinnig guten „Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen“ geschrieben hat – so der Untertitel.
Traditionell beginnen die Olympischen Spiele mit den Schwimmwettbewerben – und das Schwimmen ist nicht nur deshalb mit der Literatur verbunden, weil Michael „der Albatros“ Groß nach seiner gigantischen Karriere einen germanistischen Doktortitel erworben hat. Mit John von Düffel hat die deutsche Gegenwartsliteratur einen Autor, der als Hardcore-Schwimmer mindestens ebenso bekannt ist wie für seine „Wassererzählungen“ (so der Titel eines Erzählbandes aus dem Jahr 2014). Rechtzeitig zu den Olympischen Spielen bringt er nun bei Piper seine „Gebrauchsanweisung fürs Schwimmen“ heraus, ein Band, der laut Klappentext vorgesehen ist „für Waterholics und Wasserratten“, dabei deutlich mehr ist als ein Sachbuch, vielmehr eine Ode an das kühle, meist sogar eiskalte Nass. John von Düffel ist begeisterter Outdoor-Athlet und steigt sogar im Winter in kalte Teiche, Meere und Flüsse: „Die Kunst ist, die Kälte anzunehmen wie eine Herausforderung und sich von dem ersten Alarm nicht irre machen zu lassen. Es gilt, die Ruhe zu bewahren und immer weiter auf den Moment zuzugehen, zuzuschwimmen, in dem sich die Schockstarre löst und die Zumutungen der Kälte ihre Bedrohlichkeit verlieren.“
Wie kuschelig klingt dagegen der Schießsport, nimmt man den ebenfalls im Winter auszuübenden Biathlon mal raus. Im Jahr 1900 wurden bei den Olympischen Spielen noch 300 lebende Tauben geschossen, oder vielmehr erschossen. Gut, damals waren weder PETA noch der WWF gegründet. „Die Disziplin wurde zum Glück ganz schnell wieder abgeschafft. Heute schießt man auf 110 Millimeter große Wurfscheiben“, weiß das ebenso kuriose wie empfehlenswerte Büchlein „Olympia für die Hosentasche“ von Sportjournalist Timon Saatmann.
Man muss nicht gleich bis zum Apfelschuss in Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ zurückgehen, um auf Schießwettbewerbe in der Literatur zu stoßen. Vor sieben Jahren hat der Wahl-Wiener Daniel Kehlmann, bekannt durch seinen Megabesteller „Die Vermessung der Welt“, in der Storysammlung „Ruhm“ seinen stark an Paulo Coelho erinnernden Anti-Helden mithilfe des Bogens persifliert: „Miguel Auristos Blancos mochte Waffen wenn auch nur als Spielzeug, er hatte nie jemandem Gewalt angetan. Auf seinem sonnenbesprenkelten Rasen in Parati machte er regelmäßig Zielübungen, mal mit Pfeil und Bogen, mal mit leichtem Sportgewehr, vor dem geduldigen Rund einer Zielscheibe. Ruhige Hand schafft ruhigen Sinn hieß das Buch, in der er erläuterte, wie man beim Schießen mit dem Ziel eins werden mußte, so daß einen der Erfolg nicht mehr kümmerte und man gerade deshalb, im paradoxen Schwebezustand desinteressierter Anspannung, ins Zentrum traf.“ Versenkt.
Distanzwaffen sind im direkten Zweikampf eine Schweinerei, sie wirken feige. Vielleicht liegt auch darin die heroische Begeisterung zahlreicher Schriftsteller für das blutigere, aber wesentlich fairere Boxen. Ikonisch wie das Foto von Herman Hesse als Nacktkletterer an der Steilwand ist die Boxleidenschaft von Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Ernest Hemingway und von Pulitzer-Preisträger Norman Mailer, dessen Buch „Der Kampf“ vermutlich zum Besten gehört, was je über Sport geschrieben worden ist. Aber auch der Deutsche Wolf Wondratschek, der den tollen Sammelband „Im Dickicht der Fäuste“ veröffentlicht hat, war Zeitseines Lebens ein Box-Aficinado. Seine Leidenschaft wird bis heute weitergeführt durch Kollegen wie Moritz von Uslar in „Deutschboden“ oder auch David Pfeifer, dessen Roman „Schlag weiter Herz“ von Deutschlandradio Kultur im Jahr 2013 mit den Worten gelobt wurde: „David Pfeifers Sprache ist klar und direkt. Die Dialoge sind schnell. Besonders gut gelingen Pfeifer, der früher selbst geboxt hat, die Kampfszenen.“
Dass man die Sportart, über die man schreibt, nicht gleich selbst ausgeübt haben muss beweist wiederum der frühere Weltklassehochspringer Paul Frommeyer. 1983 nahm er an den Weltmeisterschaften teil und war mit 2,34 Metern Dritter der Weltrangliste. In seinem Roman „Möller“ skizziert er den gefährlichen, Blut, Schweiß und Tränen fordernden Erfolgsweg des fiktiven Hammerwerfers Gerald, ausgehend von den Kreismeisterschaften als Elfjähriger bis zum Olympiafinale in Athen 2004. Hammerwurf, das dopingverseuchte Stiefkind der Leichtathletik, eignet sich ohnehin für Tragödien, ist es doch von Anfang an mit Todesfällen verbunden. Im Spätsommer 1904 ereignete sich auf einem unbebauten Grundstück in New York folgende Tragödie: Der US-Athlet Simon Gillis bereitete sich im Training für einen extralangen Hammerwurf vor, schleuderte nach mehreren Drehungen sein 7,26 Kilogramm schweres Sportgerät in den Himmel und verletzte, viele, viele Meter weiter, und selbstverständlich vollkommen unbeabsichtigt, den 14-jährigen Christian Koehler, der über einen Zaun gestiegen war, um seinen entwischten Baseball zurückzuholen. Die beschleunigte Eisenkugel traf den Kopf des Jungen mit voller Wucht. Er war sofort tot.
Es wird zwar noch häufiger von Todesfällen im Laufsport berichtet, doch dann geht es meistens um ungeübte Marathondebütanten, die von der Startlinie schnurstracks ins Nirvana gerannt sind. Da lässt man lieber die Profis ran wie Marathonläufer Haruki Murakami, den inzwischen 84-jährigen Günter Herburger („Schlaf und Strecke“) oder Tom McNab, einst Cheftrainer der britischen Leichtathletik-Nationalmannschaft, der bereits einige Romane über das Laufen geschrieben hat, darunter auch „Finish“, das vor allem deshalb begeistert und irritiert, weil McNab absolute Phantasiezeiten für die angegebenen Strecken eingebaut hat. Auch der Preisträger der Leipziger Buchmesse 2014 Saša Stanišić ist passionierter Langstreckenläufer und Kollege Dorian Steinhoff, Sportskanone erster Güte (was man ihm auch ansieht), war nicht nur in seiner Jugend ein erfolgreicher Fußballer – so schoss er in der Saison 1993/94 als Linksaußen das Siegtor beim Kreispokalfinale gegen den Bonner SC, inzwischen geht er mehrmals in der Woche pumpen und sagt: „Das Fitnessstudio ist der Ort der Kooperation, der gesellschaftlichen Schnittmenge, des Narzismus und der Intervalle. Und genau dieser Wechsel von Verausgabung und Erholung bietet Zwischenraum für langkettiges Denken mit gut durchblutetem Hirn. Das schätze ich als Autor genau so wie jeder andere Mensch auch.“
Steinhoffs Debüt „Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern“ ist 2014 im Hamburger Mairisch-Verlag erschienen, der sich auch hervorgetan hat durch die beiden Sammelbänder „Die Philosophie des Kletterns“ und „Die Philosophie des Laufens.“ Gerade die Fortbewegung ist direkt mit der Literaturgeschichte verbunden, nicht nur, weil die Romantiker viel gegangen sind (siehe Interview mit Ilija Trojanow), oder wegen Werken wie Alan Sillitoes „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“. In der deutschsprachigen Literaturszene gibt es eine Clique aus Veranstaltern, Autoren, Lektoren, die sich dem Laufen verschrien haben – weshalb gerade die Sprint- und Joggingliteratur hierzulande ganz gut abgebildet wird. Die kommenden Wochen bringen dem Sportbegeisterten nicht nur viel zu schauen, sondern auch zu lesen.
„Für einen Weltklasseboxer gab es nur eines, / er mußte Schläge austeilen und Schläge nehmen können“, schreibt Wolf Wondratschek in seinem Gedicht über ‚The Thrilla of Manila’ (Muhammad Ali gegen Joe Frazier am 1. Oktober 1975 in Quezon City). Zuletzt puncht der Schriftsteller Zeilen, die kongenial die beiden Sphären des Schreibens und des Sports verbinden. Man ist danach sprichwörtlich K.O. „Im Ring von Manila wird es noch andere Töne geben / als das Klatschen der Acht-Unzen-Handschuhe, / noch eine andere Sprache als die der harten Schläge, / denn Ali wird reden / und Frazier wird zuhören müssen, / zum drittenmal / klatsch! klatsch! klatsch / eine Mann ohne Angst, / Muhammad Ali, / die schnellen Beine, das gute Auge, / der linke Jab, der Shuffle, / all das ist nur die eine Hälfte seiner Strategie, / die andere Hälfte ist Allah und der Rest Poesie.“
(Zum Beitragsbild: Es zeigt einen Ausschnitt des Glasmosaiks „Sport“ von dem Bildenden Künstler Eduard Bargheer. Das Glasmosaik wurde 1962 bis 1963 in den Werkstätten August Wagner in Berlin gefertigt. Es steht im hannoverschen Stadtteil Calenberger Neustadt am Ferdinand-Wilhelm-Fricke-Weg neben dem Südeingang der HDI-Arena. Der rechte untere Rand der Aufnahme ist von Graffitis bedeckt, die vor Ort den ganzen Sockel ausfüllen. Rechtzeitig zum fünfzigjährigen Jubiläum des Glasmosaiks im Jahr 2013 entfernte Hannover 96 die Graffiti vor den Jubiläumsfeierlichkeiten.)
Auswahlliteratur
SCHWIMMEN John von Düffel: „Gebrauchsanweisung fürs Schwimmen“, Piper, 210 Seiten, 15 Euro / Nicola Keegan: „Schwimmen“, übersetzt von Bernhard Robben, Rowohlt, 442 Seiten, 19,95 Euro / Bill Broady: „Schwimmerin“, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, C.H. Beck, 130 Seiten (antiquarisch) LAUFEN Jan Novák, Jaromír 99: „Zátopek“, Voland & Quist, 208 Seiten, 24,90 Euro Tom McNab: „Finish“, übersetzt von Verena von Koskull, Aufbau, 450 Seiten, 22,95 Euro Peter Reichenbach, Michael W. Austin: „Die Philosophie des Laufens“, Mairisch, 208 Seiten, 18,90 Euro BOXEN Norman Mailer: „Der Kampf“, Droemer Knaur, 248 Seiten, antiquarisch / Wolf Wondratschek: „Im Dickicht der Fäuste“, dtv, 224 Seiten, 12,50 Euro / David Pfeifer; „Schlag weiter, Herz“, Heyne, 252 Seiten, 19,99 Euro / Moritz von Uslar: „Deutschboden – Eine teilnehmende Beobachtung“, KiWi, 382 Seiten, 19,95 Euro BOGENSCHIESSEN Daniel Kehlmann: „Ruhm“, Rowohlt, 208 Seiten, 9,99 Euro FUSSBALL Eduard Bass: „Klapperzahns Wunderelf“, Arco, 170 S., 16 Euro / Albert Ostermaier: „Flügelwechsel“, mit einem Vorwort von Oliver Kahn, Insel, 112 Seiten, 13,95 Euro Christoph Biermann: “Die Fußball-Matrix – Auf der Suche nach dem perfekten Spiel“, KiWi, 256 Seiten, 16,95 Euro / HAMMERWURF Paul Frommeyer: „Möller“, CNG sports & media Verlag, 256 Seiten, 19,90 Euro OLYMPIA-/SPORTGESCHICHTE Timo Saatmann: „Olympia für die Hosentasche“, Fischer, 288 S. 10 Euro / Klaus Zeyringer: „Olympische Spiele – Eine Kulturgeschichte“, S. Fischer, 608 Seiten, 26,99 Euro / Wolfgang Behringer: „Kulturgeschichte des Sports – Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert, C.H. Beck, 498 Seiten, 24,95 Euro / Elisabeth Tworek, Michael Ott: „SportsGeist – Dichter in Bewegung“, Arche, 160 Seiten (antiquarisch) SONSTIGES Otfrid Ehrismann: „Nibelungenlied – Epoche, Werk, Wirkung“, CH Beck, 222 Seiten, 19,90 Euro / Hans Ulrich Gumbrecht: „Lob des Sports“, übersetzt von Georg Deggerich, Suhrkamp, 174 Seiten, 11,95 Euro / SPORT + POLITIK Oliver Hilmes: „Berlin 1936“, Siedler, 304 Seiten, 19,99 Euro
ein sehr poetischer Beitrag, rund und stimmig, spannend,Neugier weckend auf die angesprochenen Bücher. Hier schrieb ein ehemaliger Leichtathlet, das spürt man.
Danke Jan Drees