Erst kam Helene Hegemann mit ihrem Debüt “Axolotl Roadkill”. Dann deckte Blogger Deef auf, dass die 17-Jährige abgeschrieben hat – bei “Strobo” vom Phantomautor Airen. Was ist da los?
Während seines BWL-Studiums schmiss sich der Blogger mit dem schönen Namen „Airen“ exzessiv ins Berliner Nachtleben und schrieb darüber im Netz – und später auch im Buch: „Ich habe mindestens zwei Kilo Gras geraucht, dutzende Bongs zerbrochen, unzählige Joints gebaut, stundenlang gekotzt, nächtelang geschwiegen.“ Aber wie Airen neben seinem BWL-Studium als Wahnsinniger Berlin abfeiert, In-Clubs wie Berghain, Maria, Panoramabar, 100 Quadratmeter, das Cassiopeia besucht, das ist souverän erzählt.
Sprache und Inhalt passen, „Strobo“ ist in sich absolut stimmig. So schreibt Airen nach einem Besuch bei einer Prostituierten: „Mein Beiname wäre nicht ,Maßlos‘, wenn ich jetzt nicht in das nächste Pornokino gehen würde. Wenn, dann richtig. Wieder klingeln, 5 Euro Eintritt, auf einer Bank sitzt ein halbes Dutzend runtergekommener chinesischer Schabracken, ich grüße ,Ni hao!“ und gehe durch in den Hinterraum.“
Auf die Frage, welche Bedeutung für ihn und sein Schreiben das Rainald-Goetz-Zitat „notwendig ist das einfache Abschreiben der Welt“ hat, antwortet Airen: „Auch wenn ich das Zitat nicht kenne, könnte man das auch als Maxime für mein Schreiben bezeichnen. Eben so genau wie möglich die Originalerfahrung in Worte zu fassen. Das ist natürlich unmöglich, ein ständiger Kampf um die größtmögliche Annäherung. Goetz ist der Einzige, der es schafft dass du dich so fühlst, als wärst du im Club, während du eigentlich nur ein Buch liest.“
Eben das ist Airen geglückt, auch wenn seine Literatur ohne Querverweise auf Systemtheoretiker Niklas Luhmann, auf Philosoph Jacques Foucault oder auf Bild-Spex-Collagenelemente auskommt. Wenn Airen in „Strobo“ über Alkohol schreibt („Saufen ist Bohème deluxe“), dann gilt der Satz: „Es soll ja nicht schmecken, es soll wirken“, gleichzeitig für sein Verständnis von Literatur, seine eigene Poetik. Airen sagt im Interview: „Ich denke bei Literatur kann man da keinen großen Unterschied machen. Was wirkt, schmeckt.“
Weil es wirkt, ist es nur teilweise verständlich, warum nun alle versuchen, die wahre Identität von Airen preiszugeben – im aktuellen SPIEGEL gibt es ein Bild. Der Autor ist verärgert, verständlicherweise. Der kamerascheue PeterLicht konnte vor drei Jahren auch nicht verstehen, warum ein Feuilleton ihn bei der Bachmann-Lesung unbedingt fotografieren musste, obwohl es doch zu seinem Konzept gehört, nicht mit einem Portrait in den Medien aufzutauchen. Ähnlich verhält es sich mit dem amerikanischen Phantomautor Thomas Pynchon, von dem man auch kein Foto benötigt, um seine Romane bewundern zu können – bei der Zeichentrickserie „Die Simpsons“ spielte er allerdings mit. Seine gezeichnete Figur trug eine Papiertüte über dem Kopf.
Airen, so viel ist bekannt, hat sein BWL-Studium beendet und angeblich eine festen Job, also keine Lust, wegen alter Partygeschichten Ärger zu bekommen. Denn er gibt direkt am Anfang von “Strobo” zu: “Ich habe mindestens zwei Kilo Gras geraucht, dutzende Bongs zerbrochen, unzählige Joints gebaut, stundenlang gekotzt, nächtelang geschwiegen.” Sowas liest kein Chef mit Vergnügen.
Auf die Frage, welcher Aspekt der gegenwärtigen Diskussion um seine Person ihn am meisten beschäftigt, irritiert, verwundert, stört, antwortet Airen: „Da ich (noch) anonym bin, gebe ich als Person nicht viel Angriffsfläche. Man kennt ja nur die Passagen meines Lebens, die ich niedergeschrieben habe. Insgesamt hat sich die Presse bislang sehr fair mir gegenüber verhalten. Lustig finde ich aber die Vermutungen, ich sei Deef Pirmasens oder der Vater von Helene Hegemann.“
Kollege Deef, der den Plagiatsfall überhaupt erst aufgedeckt hat, wird Airen bei den multimedialen Lesungen in verschiedenen Szene-Clubs (zum Beispiel das Berliner „WMF“, im Hamburger „Uebel & Gefährlich“, während der Leipziger Buchmesse in der „Moritzbastei“) vertreten. Was möchte AIren bis dahin über sich preisgeben? – „Erstmal nicht mehr als notwendig. Ich bin sprichwörtlich von einem Tag auf den anderen der Öffentlichkeit bekannt geworden. Ich muss mir das alles noch überlegen.“
Für „Strobo“ selbst sind alle biographischen Angaben nebensächlich. Denn hier geht es endlich mal wieder nur um Literatur, und um Wahrheit: ”In einem Chill-Raum, die Sonne scheint schon heiss durch die bunten Fenster, setze ich mich aufs Sofa. Neben mir sitzt eine schweigsame deutsche Transe und hat eine Art Brautkleid an, daneben sitzt Tom und hat Aids.” So exakt wie Airen hat seit Punk-Autor-Rainald Goetz (”Rave”, “Mix Cuts & Scratches”) kein deutscher Autor über Technoparties, Absturzwochenenden, Studenteneuphorie und Drogensucht geschrieben. Klar, Airens Beobachtungen sind kaltschnäuzig, hart, verdrogt, wahnsinnig – aber jeder, der auch nur eine Nacht im Berliner Berghain-Club verbracht hat, weiss, dass sein Roman nichts anderes ist als das einfache wahre Abschreiben der (Szene-)Welt.
Sicher ist: Die Geschichte um “Strobo” ist kein billiger Hype, der auf den tatsächlich billigen Hype um Helene Hegemanns Debüt draufgesetzt wird. “Strobo” ist um Längen besser als “Axolotl Roadkill” (auch wenn Airen, ganz bescheiden, in einem Interview gesagt hat, er schätze Helene Hegemanns Text durchaus). Dennoch hat der Fall kein abschließendes Ende gefunden. Denn es soll sogar noch ein paar „Inspirationen“ mehr gegeben haben. So schreibt Blogger „Don Alphonso“ auf seiner Seite: „Bekannt ist, dass ein Brief im Buch ein übersetzter Liedtext der Band Archive ist.“ Helene Hegemann sammelt und archiviert also, wie es Popliteraten stets getan haben, vor über zehn Jahren: mal mit, mal ohne Zitatmarkierung, dann wieder absichtlich falsch zugeordnet, gelistet, zu Hitparaden der besten Namen, erlernten Berufen, angeblichen Hobbies irgendwelcher BILD-Seite-1-Girls (Benjamin von Stuckrad-Barre: „Soloalbum“)
Gleichzeitig bleibt die Geschichte ein Plagiatsfall – Helene Hegemann hat sich deshalb nicht an das „wahre Abschreiben der Welt“ gehalten, sondern an pseudointellektuelle Zweitverwertung, die von einem ebenso unwissenden Namedropping ergänzt wird – in der Night-Light-Sendung von Harald Schmidt reagierte Helene Hegemann hilflos auf die Frage, wie sie das Werk von Giorgio Agamben einschätze, welche Beziehung sie zu ihm habe und wie sie seine Werke einschätze – immerhin wird der italienische Philosoph (Homo Sacer) einer Szene von „Axolotl Roadkill“ thematisiert: „Ich habe kein einziges seiner Werke gelesen. Ich kenne natürlich seinen Namen.“ Darauf Harald Schmidt: „Du kannst also nicht sagen, was uns das Werk von Giorgio Agamben sagt?“ und Helene Hegemann antwortet: „Du, bitte nicht hier.“
Andererseits hat auch schon Thomas Mann sein Wissen über die Philosophien von Schopenhauer und Nietzsche aus Sammelbändchen und Biographien gezogen – wenn auch mit wesentlich beeindruckenderem Ergebnis. Denn an Thomas Mann kommt „Axolotl Roadkill“ nicht an, aber ebenso wenig an „Strobo“ – kann man das von einer 17-Jährigen erwarten? Nein. Aber man kann von Feuilletonrezension, insbesondere der peinlichen Vergottung von Hegemann im Artikel von Maxim Biller für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erwarten, dass man nicht direkt auf „grosse Literatur“ anspielt und Helene Hegemann ein Denkmal baut.
Dieses Denkmal hat sie nämlich nur aus einem einzigen Grund verdient. Wegen „Axolotl Roadkill“ werden nun alle zu „Strobo“ greifen – und damit hat dieser „Skandal“ ein versöhnliches Ende gefunden. Der kleine Sukultur-Verlag versucht, dem Ansturm aufs Buch Herr zu werden und verspricht: “Alle eingehenden Email-Bestellungen werden in der Reihenfolge des Eingangs von uns bearbeitet. Allerdings kann es zu mehrtägigen Verzögerungen bei der Auslieferung kommen, wir möchten uns dafür schon jetzt entschuldigen. Wir geben unser Bestes!”
Das hat Sukultur übrigens auch mit der Veröffentlichung dieses wahnsinnigen Buchs getan. Sich auszumalen, Airens Blog stünde für immer offline, das “Strobo”-Manuskript sei wegen Unverkäuflichkeit niemals erschienem – es wäre der reinste Horror für jeden einzelnen Literatur-Fan im Land. Denn: da wäre in etwa so, als hatte das “Berghain” in Berlin niemals aufgemacht.
Airen: „Strobo“, 172 Seiten, Sukultur, 17 Euro / Das Taschenbuch ist bei Ullstein erschienen