Die prägendste Erkenntnis der Tage der deutschsprachigen Literatur 2018 war diese: Weißwein gibt es für jene, die im Sandwirth wohnen bereits eine Ecke weiter in 0,7-Liter-Flaschen, man braucht nicht die kleinen teuren aus der Minibar.
Tag 1
Sprechende Tote, eine Jurorin, die löwengleich für ihren Kandidaten kämpft, und eine Bluse, die Angela Merkel zeigt: das alles brachte der unterhaltsame Auftakt der 42. Tage der deutschsprachigen Literatur. Am gestrigen Mittwoch eröffnete Schriftsteller Feridun Zaimoglu mit einer Rede, die sich wortgewaltig an die Seite stellte der Armen, der Flüchtlinge, der entrechteten Frauen, als er sagte:
„Verlassen sind die Armen, verlassen sind die Frauen, verlassen sind die Fremden. Das böse Gerücht hat sie getötet. Sie, die wie die reife Gerste wuchsen, wurden mit der Sense gemäht. Wer sagt denn, dass das Gerücht immer größer sei als die Wahrheit? Wer verkehrt die Verhältnisse und wer beschimpft die Verkehrtheit? Wer glaubt, er wurzele in der Heimatscholle und er sei für immer und ewig unentwurzelbar? Wer schwätzt von der Gegenwart als von einer Leere, und wer faucht und wispert böse Flüche in die Leere? Das ist der Armenhasser, das ist der Frauenhasser, das ist der Fremdenhasser.“
Auch darüber wurde in der Büchermarkt-Sendung diskutiert mit den beiden Gästen Katrin Schumacher (MDR) und Elmar Krekeler (Die Welt), ebenso über die restlichen Texte dieser ersten Runde, über die Performanz des Wettbewerbs, über die Allgegenwart von Beerdigungen und Todesfällen, die den Bachmannpreis seit jeher begleiten und über die Juroren, darunter die neu hinzugekommene Insa Wilke, die geradezu löwengleich argumentierte für den von ihr eingeladenen Text „Flexen in Miami“ von Joshua Groß.
Suhrkamp-Autor Clemens Setz parodierte gleich zu Beginn die Argumentationsweise der Jury, als er schrieb: „Ich stimme für einen Text in dem die Sedimentgesteine der Gegenwart mit den Stollenschächten der Geschichte und der Landvermessung des Erinnerns und den Probebohrungen des Vergessens blip blap blup #Tddl“.
Tag 2
Mit Bov Bjerg, Tanja Maljartschuk und Stefan Lohse (Beitragsbild) stehen die ersten Favoriten um die Preise der 42. Tage der deutschsprachigen Literatur fest. Der zweite Bachmannpreis-Tag war ereignisreicher als der erste. Live im Studio war SWR-Kritiker Carsten Otte. Mit pornographisch-feministischer Zahnärztinnenprosa eröffnete die mutige Kiefernorthopädin Corinna T. Sievers den heutigen Lesungstag, wo dann Textstellen wie diese zu hören waren: „Obzwar winzig, streift meine Brust die andere. Nippel habe ich, und die sind steif. Bohren sich wie zwei Kiesel in die Brust des Patienten, der liegt ausgestreckt, einer Puppe gleich. Männerpuppe. Die Raumtemperatur ist jäh gestiegen, Schweiß unter meinen Achseln. Bewegungen fallen schwer, obschon gerade noch möglich, ich greife zum Mundspiegel, führe ihn ein, in herrlichstem Rosa die Reflexion von Zahnfleisch, Zunge, Wangen“.
Für Begeisterung sorgten bei Publikum wie Jury zwei sehr klassisch erzählte Texte. Bestsellerautor Bov Bjerg überzeugte mit einer unprätentiösen Vater-Sohn-Geschichte und die in der Ukraine geborene Tanja Maljartschuk berichtete aus dem Innen- und Außenleben eines Flüchtlings. Panikattacken gab es, durchaus beachtenswert, bei Ally Klein: „Ich heulte, aber lief, heulte kindesgleich und stampfte übers Feld, schluchzte auf, lief, jaulte, wie ich es seit Jahren, seit Ewigkeiten, nicht mehr getan hatte, wimmerte vor mich hin, mich hörte niemand.“
Tag 3
Die in der Ukraine geborene Tanja Maljartschuk erhält den diesjährigen Bachmannpreis. Der Deutschlandfunk-Preis wird an Bestsellerautor Bov Bjerg verliehen. Weitere Preise gingen an Özlem Özgül Dündar und Anna Stern. Der Siegertext des Tages heißt „Frösche im Meer“ und erzählt in klassischer Manier von einem Flüchtling, der vom Illegalen ins noch Fatalere rutsch – weil er Empathie hat, und einer alten, dementen Frau helfen möchte. Doch für eben diesen karitativen Dienst wird er bezichtigt, jene, die Außenseiterin ist wie er, zu betrügen. Tanja Maljartschuk wurde eingeladen von Stefan Gmünder.
Der mit 12.500 Euro dotierte und heute zum zweiten Mal vergebene Deutschlandfunk-Preis geht an den Bestsellerautor Bov Bjerg („Auerhaus“) für seine Vater-Sohn-Geschichte „Serpentinen“. Bemerkenswert ist, dass Bjerg eben deshalb begeisterte, weil er „Platz zum Atmen“ lässt, wie es Jurymitglied Klaus Kastberger heute sagte. Berg war von Kastberger eingeladen worden, und er galt schon zu Beginn als einer der Preisfavoriten.
Gefragt werden darf, wie sich die hier prämierten Texte weiterentwickeln, in welcher Form sie zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden. Während früher das Wettlesen um den Bachmannpreise Schriftstellerkarrieren begründete, man denkt an Rainald Goetz (1983) oder Birgit Vanderbeke (1990), gab es in den vergangenen Jahren etliche Abweichungen. Der Romanauszug, mit dem Jens Petersen 2009 den Bachmannpreis gewann, ist nie ergänzt worden. Es gibt keinen Roman, es gibt nur das damals präsentierte Fragment.
Wenig sieht man in den Verlagsvorschauen von Sharon Dodua Otoo, die 2016 gewann. Kathrin Passig (Bachmannpreis 2006) tritt lediglich als Sachbuchautorin in Erscheinung; und was ist bislang geworden aus der Prosakarriere des als Dramaschriftsteller bekannten Ferdinand Schmalz, der im vergangenen Jahr den mit 25.000 Euro dotierten Preis erhielt? Weitere Preise wurden verliehen an Özlem Özgül Dündar (Kelag-Preis, mit 10.000 Euro dotiert), die mit „Ich brenne“ einen „Chor der Mütter“ (Insa Wilke) über den Solinger Brandanschlag des Jahres 1993 inszeniert und auf sprachlich avancierte Weise literarisiert.
Den 3sat-Preis (ebenfalls 7.500 Euro) erhält Anna Stern für „Warten auf Ava“ für die Geschichte einer im Koma liegenden Frau, für einen Text, der das uralte „Noli me tangere“-Motiv in die Gegenwart überführt. Der BKS-Publikumspreis, über den die Zuschauerinnen und Zuschauer am gestrigen Nachmittag über das Internet abstimmen konnten erhält überraschend Raphaela Edelbauer für „Das Loch“, mit dem das Wettlesen am Donnerstagvormittag eröffnet wurde. Alle Texte können auf der Bachmannpreis-Internetseite des ORF nachgelesen werden.
„Ich darf jetzt den Vorhang zuziehen nach diesen Tagen“, sagte der Deutschlandfunk-Redakteur und Juryvorsitzende Hubert Winkels in seiner Abschlussrede. Er begrüßte, dass der Bachmannpreis nach etlichen Infragestellungen in „ruhiges Fahrwasser“ geraten ist. Zugleich bestätigte er den Quasi-Vorwurf Daniel Kehlmanns („Die Vermessung der Welt“), dass der Bachmann-Preis ein Phänomen der Machtausübung sei, „so wie alles“. Jedoch, auch das erwähnte Winkels, habe sich die Argumentationsweise der Jury zivilisiert, es geht nahezu ausschließlich um „die Texte“ und herauszuheben sei, dass die „gut erzählte Geschichte“ 2018 prägend war.