Weihnachten war immer schon mehr als Christbaum, Krippe, Printen, Gänseschmaus. Was Frau Holle, Sankt Martin, ein unbesiegbarer Sonnengott der römischen Mythologie und „der Wode“ damit zu tun haben, zeigt „Das Weihnachtsbuch“ von Heinz Rölleke.
„Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Charwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben. Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht. Wie in vielen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er bei uns der heilige Abend, der darauf folgende Tag der heilige Tag und die dazwischen liegende Nacht die Weihnacht.“
Mit diesen erhebenden Worten beginnt „Bergkristall“ von Adalbert Stifter, eine der schönsten Weihnachtsgeschichten deutscher Sprache. Erzählt wird von zwei Kindern – Bruder und Schwester – die sich am Heiligen Abend im Gebirge verirren, die Nacht in einer Steinhöhle Schutz suchen und am kommenden Morgen gerettet werden. Pfingsten, die Passion, Ostern, Christi Geburt werden hier zu Literatur. Selbstverständlich steht diese Geschichte im gerade erschienenen „Weihnachtsbuch“ des 85-jährigen Literaturwissenschaftlers Heinz Rölleke. Weihnachtslieder und Bibeltexte, Legenden und Märchen stehen neben Goethes Brief an Kestner – dem Ehemann von „Werthers Lotte“ Charlotte Buff – vom 25. Dezember 1772, neben E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“, Wolfgang Borcherts „Drei dunkle Könige“ und Ausschnitten aus Wilhelm Raabes „Die Chronik der Sperlingsgasse“, Thomas Manns „Buddenbrooks“ bis zu Robert Gernhardts „Die Falle“.
Auch Frau Holle gehört dazu
Heinz Rölleke, 1936 in Düsseldorf geboren, war von 1974 bis 2001 Professor für Deutsche Philologie einschließlich Volkskunde an der Bergischen Universität Wuppertal. Er ist verantwortlich für mehr als 70 Bücher, überwiegend Märchen-, Sagen- und Volkslied-Editionen. Am bekanntesten sind seine umfangreichen Arbeiten zu den Brüdern Grimm. Im Stuttgarter Reclam Verlag ist weiterhin seine dreibändige Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen: Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm“ erhältlich.
Für „Das Weihnachtsbuch“ hat er mehrere, glänzend recherchierte Essays geschrieben, die sich auf den ersten 180 Seiten mit der vorchristlichen Ankündigung Christi Geburt beim römischen Dichter Vergil auseinandersetzen, mit der sagenumwobenen Frau Holle, mit Nikolaus von Myra, dem weihnachtlichem Liedgut, den Heiligen Drei Königen und mit „Mariae Lichtmess“, jenem am 2. Februar begangenen Fest, das viele Wochen nach dem Heiligen Abend den Weihnachtsfestkreis beschließt
Wie das Weihnachtsfest entstand
Unter dem schönen Titel „Nativias Domini“ wurde am 25. Dezember des Jahres 336 – 24 Jahre nach dem Mailänder Toleranzedikt – das erste Weihnachtsfest in Rom begangen. In der Liturgie stand die Geburt des christlichen Heilands lange im Schatten von Pfingsten und Ostern; bis zum Interregnum zwischen den Päpsten Markus und Julius I. Damals wurde Weihnachten geschickt auf den Kalendertag gelegt, an dem bislang große Teile der Bevölkerung das 274 n. Chr. von Kaiser Aurelianus eingeführte Fest des „Sol Invictus“ feierten und Juden in diesen Tagen ihr Chanukkafest. Es ist also nicht tatsächlich der Tag Christi Geburt, sondern ein strategisch ausgewähltes Datum.
Heinz Rölleke sagt im Gespräch: „Sie knüpften gleichzeitig an die heidnische Rauhnächte an, die zwischen dem 24.12. und 6.1. begangen wurden. Damals hat man die Häuser mit Narkotika ausgeräuchert – die Kirche nahm stattdessen Weihrauch. Gleichzeitig ist zu der Zeit auch die heidnische Sonnenwende.“
Aus dem unbesiegbaren römischen Sonnengott „Sol“ wurde der ebenfalls unbesiegbare, hellstrahlende Jesus Christus, und langsam entwickelte sich ein üppiger Weihnachtskult. Am 25. Dezember 1223 stellte der Heilige Franz von Assisi in Greccio, einem kargen Bergdorf im winterkalten Umbrien, die erste Weihnachtskrippe mit lebensgroßen Figuren vor.
Mit der Zeit kamen immer mehr Heilige hinzu
Es entwickelte sich eine Vorstellungswelt mit festen Akteurinnen und Akteuren, die seitdem mit dem Weihnachtsfest verknüpft sind. Johann Wolfgang von Goethe erklärte seinem Vertrauten Eckermann im Jahre 1827, „daß man sich leicht im Vagen verlieren könne, wenn man nicht durch die scharf umrissenen christlich kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkte Form und Festigkeit gegeben hätte.“
Mit der Zeit kamen immer mehr Heilige hinzu, auch das wird in Röllekes Buch nachgezeichnet, beginnend bei Sankt Martin. Der 11. November war im Mittelalter bereits ein überaus wichtiger Tag. Damals wurden die Dienstboten entlohnt, Verträge geschlossen und der erste Wein getrunken. Rölleke sagt: „Dann wurde der Nikolaus am 6. Dezember eingeschoben, später die vier Adventssonntage und dann Weihnachten. Da kriegte das Ganze Format.“
Die christlichen Figuren und Vorstellungen sind nach wie vor das neugeborene Kind in der Krippe, seine Mutter Maria, Joseph, die herbeigeeilten Hirten, die Engel der Verkündigung, Ochs und Esel, die Heiligen Drei Könige mit ihrem Gefolge und ihren Geschenken. Nahezu unendlich oft wurden diese Figuren in der Malerei, in der Literatur und in der Musik ins Bild gesetzt.
Inzwischen ein Kinderfest
Krippendarstellungen wanderten aus den Kirchen in die Privathäuser, bis der Weihnachtsbaum sie allmählich an den Rand drängte und schließlich ganz überlagerte. Quasi parallel dazu traten in volkstümlichen Feiern zunehmend die Kinder in den Vordergrund. Sie wurden zunächst am Nikolaustag (6. Dezember) oder am Fest der Dreikönige (6. Januar) beschert, bis Martin Luther 1535 den Heiligen Nikolaus als Gabenbringer durch das neugeborene Christuskind ersetzte. – Das Weihnachtsfest hat also einen Wandlungsweg durchschritten, vom zunächst liturgisch ignorierten Termin hin zum höchsten Kinderfest unserer Tage.
„Ihr Herrn und Frau’n, die Ihr einst Kinder wart, seid es heut’ wieder, freut Euch in ihrer Art. Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, und wer da kommt, der soll willkommen sein.“ So steht es im feierlichen Prolog des Nürnberger Christkinds, der ebenso einen Platz in Röllekes „Weihnachtsbuch“ hat, wie die ganz am Anfang stehende Frau Holle – jene Gottheit, die sowohl belohnt, als auch bestraft, die sowohl für die Verstorbenen, als auch für die Neugeburten zuständig war.
Rölleke: „Frau Holle zog in den Rauhnächten vor dem wilden Heer einher. Sie nahm die Toten eines Jahres mit sich in die Unterwelt. Und darauf spielt noch das Grimm’sche ‚Frau-Holle-Märchen’ überdeutlich an, denn diese Frau Holle ist Unterweltskönigin oder -göttin bei Grimm, das ist ganz klar. Dann kommen die einzelnen Seelen – das ist jetzt die Veränderung im Märchen – herunter, werden geprüft, wie die Menschen im Christentum beim Jüngsten Gericht, und dann werden sie entweder als gereift entlassen auf die Erde, oder sie werden als unreif verstoßen.“
Der rätselhafte Wode
Frau Holle gehört zu jenen, die im Buch als eine Figur der vorweihnachtlichen Zeit – wie wir sie kennen – charakterisiert wird. Ebenso wird an den römischen Dichter Vergil (70-19 v.Chr.) erinnert, der früh die Ankunft eines Erlöserknaben vorausgedeutet hat. Auch Jesaja, einer der ersten großen Propheten, dessen Worte überliefert sind im Alten Testament, kommt zu Wort – und die unheimliche Figur des sogenannten „Woden“ – den man umrisshaft erkennen kann in Theodor Storms „Schimmelreiter“ und der in der Geschichte des deutschen Mediävisten Karl Viktor Müllenhof im 19. Jahrhundert so vorgestellt wird:
„Den Wode haben viele Leute in den Zwölften und namentlich am Weihnachtsabend ziehen sehen. Er reitet ein großes weißes Ross, ein Jäger zu Fuß und vierundzwanzig wilde Hunde folgen ihm. Wo er durchzieht, da stürzen die Zäune krachens zusammen und der Weg ebnet sich ihm; gegen Morgen aber richten sie sich wieder auf. Einige behaupten, dass sein Pferd nur drei Beine habe. Er reitet stets gewisse Wege an den Türen der Häuser vorbei und so schnell, dass seine Hunde ihm nicht immer folgen können; man hört sie keuchen und heulen.
Bisweilen ist einer von ihnen liegen geblieben. So fand man einmal einen von ihnen in einem Hause, einen andern auf dem Feuerherde, wo er liegen blieb, ständig heulend und schnaufend, bis in der folgenden Weihnachtsnacht der Wode ihn wieder mitnahm. Man darf in der Weihnachtsnacht keine Wäsche draußen lassen, denn die Hunde zerreißen sie. Man darf auch nicht backen, denn sonst wird eine wilde Jagd daraus. Alle müssen still zu Hause sein; lässt man die Tür auf, so zieht der Wode hindurch und seine Hunde verzehren alles, was im Hause ist, sonderlich den Brotteig, wenn gebacken wird.
Einst war der Wode auch in das Haus eines armen Bauern geraten, und die Hunde hatten alles aufgezehrt. Der Arme jammerte und fragte den Wode, was er für den Schaden bekäme, den er ihm angerichtet. Der Wode antwortete, dass er es bezahlen wolle. Bald nachher kam er mit einem toten Hunde angeschleppt und sagte dem Bauern, er solle den in den Schornstein werfen. Als der Bauer das getan, zersprang der Balg, und es fielen viele blanke Goldstücke heraus.“
Weihnachtsgeschichten gab es lange nicht
Der Schornstein, durch den inzwischen der amerikanische Coca-Cola-Weihnachtsmann rauscht, um Geschenke zu bringen, war also schon zuvor ein gabenbringendes Mauerwerk. Auf diese Weise erscheint in Röllekes Buch die Weihnachtszeit in einem äußerst differenzierten Licht. Das gehört zu den herausragenden, nahezu singulären Qualitäten dieses Buchs. Der Literaturwissenschaftler sagt: „Es ist interessant, dass vor Ende des 18 Jahrhunderts eigentlich keine Weihnachtsgeschichten geschrieben wurden. Wir haben die ‚Legenda aurea’ von Jacobus de Voragine aus dem 13. Jahrhundert, jahrhundertelang die weitestverbreitete Handschrift Europas. Und dieser Jacobus de Voragine, ein Bischof von Genua im 13 Jahrhundert, hat alles gesammelt, was er an Tradition, biblisch, aber auch legendarisch, finden konnte. Ich habe in jedem Festkreis – Martin, Nikolaus, Weihnachten, Mariä Reinigung – immer den Voragine abgedruckt, weil unsere Vorstellungen von Weihnachten aus diesem Buch bis heute genährt werden.“
Das Gold glitzert permanent
Heinz Röllekes Weihnachtsbuch ist ein bemerkenswertes Kompendium, das nicht nur durch die Auswahl seiner Texte und die vorangestellten Essays, sondern – üblich in der Anderen Bibliothek – auch durch seine gesamtkünstlerische Aufmachung beeindruckt. Es gibt zahlreiche, mehrfarbig gedruckte Illustrationen. Liebevoll sind die Einzellayouts jeder Seite, wo zwischen den Zeilen immer mal wieder goldene Schneeflocken rieseln und ebenfalls goldene Sterne den Absatz beschließen.
Auf diese Weise hebt sich das schwere, im Schuber verkaufte Buch glänzend ab von zahlreichen anderen Weihnachtsanthologien. Diese Sammlung weist den Weg von vorchristlicher Zeit bis in unsere Gegenwart. Sie stellt weithin Bekanntes neben nahezu Vergessenes und schafft es, den üppigen Reigen heiter zu beschließen mit einem Ausschnitt aus Robert Gernhardts „Die Falle“, wenn eine studentische Clique aus Weihnachtsmann, Knecht Ruprecht, Nikolaus und dem Erzengel Gabriel ausnahmsweise keine Geschenke bringen, sondern stattdessen geradezu erpresste Geschenke mitnehmen von jenem gut betuchten Ehepaar, das am Ende 400 Euro weniger in der Tasche hat. Frau Holle hätte ihre reine Freude mit dieser Geschichte gehabt – und wir alle: mit diesem Buch.
Heinz Rölleke: „Das Weihnachtsbuch“, in Zusammenarbeit mit Hannelore Tute, Die Andere Bibliothek, Berlin. 578 Seiten, 44 Euro / den Audiobeitrag zum Nachhören gibt es hier.