Vor wenigen Wochen wurde Theater- und Prosaautorin Kathrin Röggla zur Vizepräsidentin der Akademie der Künste in Berlin gewählt. Aus diesem Anlass erscheint heute in der Freitag ein Interview zwischen der 44-Jährigen und mir. Wir sprachen über Archive, den Berlinroman und die Aufgaben einer modernen Akademie im Jahr 2015. Ein großes Gespräch mit einer wirklich interessanten, smarten Künstlerin. Kathrin Röggla: Seit 1992 entstanden erste Bücher und Kurzprosa. Seit 1998 verfasst und produziert Röggla auch Radioarbeiten – Hörspiele, akustische Installationen, Netzradio. Seit 2002 schreibt sie Theatertexte. Von 2004 bis 2008 unternahm sie zahlreiche Reisen, z.B. nach Georgien, in den Iran, nach Zentralasien, Japan, die USA und in den Jemen. 2015 wurde Röggla zur Vizepräsidentin der Akademie der Künste gewählt. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen zählen der Italo-Svevo-Preis 2001, der Preis der SWR-Bestenliste 2003 und der Arthur-Schnitzler-Preis 2012. Bekannte Bücher sind: „Irres Wetter“ (2000), “really ground zero“ (2001), „wir schlafen nicht“ (2004) und „Besser wäre: keine“ (2013). Im Herbst diesen Jahres erscheint bei S. Fischer ihr Band „Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen“ (2015). Ausreichender Anlass, um vier Bücher jener Autorin vorzustellen, die laut Süddeutscher Zeitung „so sprachlich gewitzt, kreativ und originell“ wie kaum eine andere junge Schriftstellerin schreibt.
„Stadt als Beute“ hieß sowohl eines der einflussreichsten Bücher von Klaus Ronneberger als auch eines der meist beachteten Stücke von Theaterstar René Pollesch (hier im Blog). Röggla eröffnet ihren Essay-/Theaterband mit Katastrophenfilmen – die üblicherweise in der Stadt spielen. Dem gegenüber stehen laut Rögglas Beobachtung „Geisterstädte, Geisterflme“ postapokalyptische Blockbuster, in denen die auf dem Land, in der Natur, in der verlorenen oder abwesenden Zivilisation inszeniert werden. Sie schreibt in diesem Band über den Einfluss von Katastrophenerzählungen für unsere Wirklichkeit. „George W. Bush, so erzählte mir der Essayist Eliot Weinberger, habe in jenen Tagen nach dem elften September Drehbuchautoren eingeladen, um zu erfahren, wie die Story weitergehe“ (aus „Die Rückkehr der Körperfresser“).
Es geht um die Bedeutung von Fiktion durchspielenden Szenarien, die unsere Zeit beherrschen: Szenarien über Vogelgrippe, Fliegerbomben, über den elektromagnetischer Impuls. Es geht um den Weg von Guy Deborts „Gesellschaft des Spektakels“ (1967), in der die Produktion von Inszenierung über die reale Produktion gestellt wird. Fiktion, wohin man schaut, in Firmen“philosophien“ für Manager, die 20-minütige Kreativschlafs abhalten, während man im amerikanischen TV „den angeblich direkt aus dem zusammengestürzten World Trade Center ins Fernsehstudio Entkommenen jede Menge Puder und Schlieren ins Gesicht geschminkt (hat), damit sie plausibel als Opfer des elften September rüberkamen.“ Röggla macht einen immer wieder darauf aufmerksam, dass es einen Unterschied gibt zwischen Wirklichkeit und Realität. „Zu Wirklichkeit gehören eben auch die von der Realität unterdrückten Verhältnisse, das Subjektive“, die sich bewegen zwischen „präsenzmaschinen, medienmaschinen, mythenmaschinen.“ Das „könnten fotografen, broker, moderaroten, kabelträger, pr-menschen, journalisten, politiker sein.“ Großes Buch im Zeitalter des „reality hunger“. („besser wäre: keine“, S. Fischer, 412 Seiten, 22,99 Euro)
really ground zero
Die Entkommenen, denen vorm Fernsehstudio Wunden geschminkt werden tauchen in „really ground zero“ nicht auf; dafür andere Opfer, MItleidenden und natürlich auch die Kriegsenthusiasten. Kathrin Röggla war am 11. September nur etwa einen Kilometer vom World Trade Center entfernt, ist also eine Zeit- und Ortszeugin erster Güte. In den folgenden Monaten verfasste sie für die taz, den falter und Der Tagesspiegel verschiedene Texte, die in diesem schmalen Band versammelt sind. Diese sind in Röggla typischer Weise durchgängig kleingeschrieben, unterbrochen von Fotos, die sie damals anfertigte. Es sind Aufnahmen von Suchanzeigen an öffentlichen Laternenpfählen, Fernsehbilder mit dem besorgt dreinblickenden George W. Bush, es sind Fahnen, die Stars & Stripes in Häuserfrontgröße. Schnell erkannte Röggla auch hier, wie „fiction“ und „reality“ sich vermischen, man sich in einem Film wähnt, wie die Mystiker aus ihren Ecken kriechen und Kabbala betreiben: „die blondierte dame neben mir erklärt ihrem sitznachbarn ganz ruhig die magie der augenblicklichen lage, nämlich, dass alles ‚eleven‘ sei. george w. bush sei ‚eleven‘, osama bin laden sei ‚eleven‘ und afghanistan sowieso ‚eleven‘ – ‚there are a lot of spiritual numbers around us‘, sagt sie, ‚at the moment‘.“
Eine Nation versucht, das Monströse in Sprache zu fassen, es zu benennen, beispielsweise als „second pearl harbor day“, an dem „dunkle Mächte“ (Star Wars?) zutage kommen. Daraus resultiert dann eine neue Sprache mit bislang kaum verwendeten Wörtern: „die tankstellen werden von pakistani und indians betrieben, die gemüseläden von koreanern, die diners von griechen. aber pakistani fahren auch taxi in new york! und hat es der afroamerikanische doorman hier schon erlebt? racial profiling. eine weitere vokabel, zuständig, das rassitische vorgehen der polizei zu beschreiben. denn das ist hier ein issue: ‚against racial profiling‘ ist eine formulierung, die im öffentlichen bewusstsein angekommen ist.“ In den Medien fühlen sich die einen an den Heißen Terror-Herbst in „Germany“ erinnert. Die Welt steht Kopf. „azam meshkat, die leiterin des islamic institutes, die für mehrere hundert kinder zuständig ist, (hat) diese botschaft empfangen: ‚that they will paint the streets with the blood of our children.‘“ („really ground zero“, Fischer TB, 114 Seiten, 7,90 Euro)
Die falsche Frage
Im Verlag „Theater der Zeit“ ist die aktuellste Veröffentlichung von Kathrin Röggla erschienen – drei Vorlesungen zur Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, die im Sommer 2014 stattgefunden haben (im Winter 2015 war Albert Ostermaier eingeladen). Das 116 Seiten dünne Heft trägt den Untertitel „Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen“. Gelesen habe ich es vor dem Hintergrund des „Fack ju Subvention!“-Textes von Ulf Poschardt aus dem WELT-Feuilleton vom 24. April diesen Jahres. Die mit dem neuerdings WELT-eigenen Furor verfasste Betrachtung der hiesigen Kulturlandschaft gibt zwar zu, dass Deutschland das beste Theater der Welt hat – „nur, was hat das noch zu bedeuten bei einer Kunstform, die vor Jahrzehnten ihre Unabhängigkeit komplett verloren hat? Die Autonomie der Kunst ist ohne ökonomische Autonomie eine Lachnummer. Jeder Künstler muss sich entscheiden, ob er ein Staatsflittchen sein oder eben große Kunst produzieren will.“ Das Theater erscheint bei Poschardt als saturierte Institution, besucht vom Typ konservativer Notar und FDP wählender Oberärztin, die sich dann im Berliner Ensemble herzhaft beleidigen lassen für ihr spießiges Kapitalisten-Leben. Poschardt schreibt: „Es ist ein ähnlich ritualisiertes Vergnügen wie die Beschimpfung der Gemeinde in einer protestantischen Kirche, wenn der Pastor gerade wieder seinen Attac-Newsletter verschlungen hat.“
Auch Kathrin Röggla spricht in der Uni über das Publikum, hier anlässlich einer gemeinsamen Veranstaltung mit der französischen Dramaturgin und Autorin Mariette Navarro: „An jenem Abend, wusste ich, würde das Publikum erst einmal hören wollen: ‚Nieder mit dem Neoliberalismus!‘ Es würde recht haben, und gleichzeitig würde es mir so gratis zu haben vorkommen, dadurch, dass es allgemein bliebe. Ich wusste, es würde nach Parolen riechen, und nichts mögen wir Autoren und Autorinnen weniger als Parolen. Sie bleiben unspezifisch.“ Die Poetikvorlesungen, die konkret, nicht künstlerisch offen angelegt sind gibt es einen hintergründigen Blick auf Rögglas Arbeit. Sie beginnt, indem sie über Märkte spricht und, analog zu Poschardt, was es bedeutet, wenn Kunst sich über Marktformeln zu legitimieren sucht. „Gerade Branchen, die als wirtschaftsfern gelten, müssen erst einmal beweisen, dass sie drin sind, deswegen vielleicht habe ich auf den diversen Panels den Begriff ‚Alleinstellungsmerkmal‘ so oft gehört, deswegen vielleicht habe ich die EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, Androulla Vassiliou, während der Vorstellung der neuen Kulturförderrichtlinien andauernd über Marktanteile und Marktförderung reden hören, als sie eigentlich über Kunstförderung reden wollte.“
Währenddessen,sagt Röggla, schweigen die kapitalistischen Marktteilnehmer, „ob Google oder McKinsey, ob Nestlé oder Air Berlin“. Der ganze Bereich ist erstaunlich still und durch Unsichtbarkeit geprägt – was wir wissen über Postdienstleister und private Pflegedienste ist „aufgegangen in RTL-Nebel und Sat1- Actuality-Dämpfen.“ Unsere Städte sind zugangsbeschränkt. Man braucht Code-, EC- Mitarbeiter- und Kreditkarten, um auf Flure, in Hallen und Empfangsräume vorgelassen zu werden. Dem gegenüber steht das Theater als (im Idealfall) nicht zugangsbeschränkter, als nicht kapitalistischer, als utopiefähiger Raum. Hier darf jeder rein. Hier ist das alte Agora-Bild manifest. Doch was machen die Protagonisten daraus? Sie spielen Kapitalismus, drängeln und hetzen, erzählen alle von fehlender Zeit, nicht wie Künstler, sondern wie Kunst produzierende Ich-AGs. Deshalb gilt für Röggla: „Stopptaste, Pausenzeichen. Raustreten und mich vielleicht fragen, warum meine interessantesten Stücke auch Prosavorhaben sind oder an anderen Arbeiten dranhängen?“ Von der Pausetaste sprach sie vergangene Woche im Zusammenhang mit ihrem neuen Engagement als Vizepräsidentin der Akademie der Künste. Raustreten. Schauen.
Ihr Blick auf das System ist von Ernüchterung geprägt: „Denn Theatertexte zu schreiben ist nicht gerade das Avancierteste, was man derzeit machen kann, es sei denn, man inszeniert die Texte auch gleich selbst. Man schafft heute Spielanordnungen, lässt Menschen aus der ‚Realität‘, sozusagen aus ‚Fleisch und Blut‘ direkt zu Wort kommen, wie Rimini Protokoll das tun. Man improvisiert und performt, befragt und protokolliert oder nimmt sich, wenn schon Literatur, Dostojewski, Balzac, Houellebecq vor, am liebsten 700-Seiten-Wälzer, die man dann auf achtzig Seiten zusammenkürzt, als müsste man dem Text zu Leibe rücken, als wäre die Textvernichtung noch das Literarischste, das erlaubt ist. Es ist wie die Umkehrung des Heiner-Müller-Satzes ‚Literatur muss dem Theater Widerstand leisten.’ Heute leistet das Theater der Literatur Widerstand oder es ignoriert diese.“ Interessanterweise ist für Röggla, entgegen der Beobachtung die ich gerade im BR2-Zündfunk-Feature „Utopia Stage“ gemacht habe das Utopische abgefrühstückt – nicht einmal eine Vorstellung von dem, was ein Kollektiv sein könnte haben wir, hat die Gegenwart, das Gegenwartstheater (mit Ferdinand Schmalz könnte man widersprechen). Das es sowohl das „Wir“, das Angela Merkel meint gäbe, als auch das spontane Kollektiv einer Anarchogruppe oder das der Flashmobs, sei der Begriff Kollektiv heute aufgeweicht. Aber, möchte man entgegnen, lohnt es sich nicht gerade deshalb wieder ins Offene hinauszugehen? („Die falsche Frage“, Theater der Zeit, 116 Seiten, 14 Euro)
wir schlafen nicht
Es gibt Ähnlichkeiten in der Arbeitsweise von Kathrin Röggla und Milo Rau (hier im Blog). Von daher ist es auch kein Zufall, dass die beiden bei der Performance „ Das Kongo Tribunal“ in Berlin aufeinandertreffen. Röggla gibt dort die „Gerichtsschreiberin“, die beim Tribunal um den seit zwanzig Jahren andauernden Krieg im Gebiet der Großen Seen Zentralafrikas mit „zu Gericht“ sitzt. Dazu gibt es dann einen Film und eine Veröffentlichung im Verbrecher Verlag. Beide, Rau wie Röggla arbeiten also als Autoren, Rechercheure, machen Hörspiele, Theater, sitzen auf Podien und wirken an den Schnittstellen von Kunst, Wissenschaft und Journalismus. Die Recherchen zum Kongo Tribunal wurden hier in der taz begleitet. Das ist wahres Abschreiben der Welt – nur eben ohne allzu viel Pop. In dem für Röggla typisch komplett in Kleinbuchstaben geschriebenen Montageroman „wir schlafen nicht“ aus dem Jahr 2006 hat die Salzburgerin ebenfalls recherchiert – im Umfeld der damals im Post-9/11-Trauma taumelnden New Economy.
Zu Wort kommen während einer Messewoche unterschiedliche AkteurInnen wie die 37-jährige Key Account Managerin Silke Mertens, die 24-jährige, auf eine bezahlte Anstellung hoffende Nicole Damaschke und Senior Associate Oliver Hannes Bender. Während der im ähnlichen Milieu spielende, an ein Theaterstück erinnernde Film „Zeit der Kannibalen“ eine stringente Geschichte erzählt, ist „wir schlafen nicht“ eher ein Statement-Zettelkasten, der nahezu systemtheoretisch analysiert, wie überarbeitete Yuppies im Business-Bereich „performen“, wie die zirkuläre Hektik ihre Ichs zerschneidet und wie sie – den haitischen Sklaven-Zombies nicht unähnlich – ihr menschliches Leben am Eingang des Hyperkapitalismus abgegeben haben. Ein Experiment, formal angelegt zwischen „Oral-History-Projekten wie Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“ und „Mehr als laut“ und den schnellen Stücken eines René Pollesch (nur eben ohne die Diskursschleifen). Ein Archiv des Irrsinns aus einer Branche, die vor zehn Jahren noch singulär schien, deren Impetus sich aber inzwischen auf nahezu alle anderen Geschäftsfelder und Hierarchieebenen ausgeweitet hat. („wir schlafen nicht“, Fischer, 224 Seiten, 8,95 Euro)