Katharina Herrmann hat in der vergangenen Woche im Literaturblog „54books“ einen 40 DIN-A4-Seiten umfassenden Beitrag online gestellt, der seitdem intensiv im Netz diskutiert wird. Er trägt den Titel „Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen“ und beginnt mit einer Erinnerung. Katharina Herrmann schreibt: „Ich zählte im „Grundwissen“ zum „Deutschbuch“ aus dem Cornelsen-Verlag, wie viele Frauen unter den wichtigen Autor*innen unterschiedlicher Epochen genannt werden. Es sind: 17. Und 125 Männer – dargestellt werden alle Epochen von der Antike bis zur Gegenwart.“ Ein Gespräch.
Katharina Herrmann, was war der Ausgangspunkt Ihrer Nachforschungen, die hinterher zu dem viel diskutierten Essay geführt haben? Eigentlich habe ich tatsächlich, wie Sie dargestellt haben, erst mal eine relativ simple Frage gestellt, die inzwischen ein Allgemeinplatz ist, nämlich, ob es ein Ungleichgewicht gibt in der Repräsentation von männlichen und weiblichen Autoren heute im Literaturbetrieb und auch in Literaturgeschichte, im literarischen Kanon. Davon ausgehend habe ich gefragt, wie dieses Ungleichgewichtigkeit gewachsen ist, welche historischen Strukturen dahinterstehen, und welche Denkmuster wir vielleicht hinterfragen müssen, wenn wir dieses Ungleichgewicht in der Repräsentation ausgleichen wollen. Ich denke, dass wir Literaturgeschichte, Kulturgeschichte pluraler erzählen könnten, und dann, kann man sich fragen, ob die Art und Weise, wie wir Kulturgeschichte, wie wir Literaturgeschichte erzählen, noch zeitgemäß ist; oder ob man das nicht anders erzählen könnte oder vielleicht sogar müsste.
Sie haben anfangs vermutet, dass es Frauen einst nicht möglich gewesen war, Literatur zu schaffen. Doch wie ist es wirklich? Warum kennen wir so wenige Autorinnen aus früherer Zeit? Das sind Strukturen, die relativ komplex sind und die um 1800, in dieser Zeit, die man als Sattelzeit bezeichnet, entstanden sind. Um 1800 entsteht das Bürgertum, das bis heute die Trägerschicht von Literatur und dem Kulturbetrieb ist. Um 1800 entsteht der Buchmarkt und der Literaturbetrieb in Grundzügen so, wie wir ihn auch heute noch haben. Da sind bestimmte Strukturen entstanden, die bis heute fortwirken und die an unterschiedlichen Stellen im Literaturbetrieb auch auf unterschiedliche Art und Weise wirken. Es entsteht um 1800 zum Beispiel ein männlicher und ein weiblicher Lesehabitus, und zwar einfach deswegen, weil Frauen von Bildung ausgeschlossen sind und deswegen versuchen, sich über Lesen Bildung anzueignen, das aber nicht genau so machen können wie Männer. Männer durchlaufen ein Schulsystem, durchlaufen Lateinunterricht, Griechischunterricht Sie lesen diese Klassiker, können danach studieren, sie lernen darüber langsam ab der Oberstufe, so wie wir es heute übrigens immer noch machen, Klassiker zu lesen. Das sind Bücher, die muss man tatsächlich reflektierter, intensiver lesen, und Frauen, weil sie von diesem Bildungsbetrieb ausgeschlossen sind, lesen in Masse, lesen schneller, lesen andere Literatur, lesen dadurch eher identifikatorisch. Das lässt sich bis heute nachweisen. Dieses Ungleichgewicht auch im Bildungsgefälle zwischen Männern und Frauen führt bis heute dazu, dass wir diesen bildungsbürgerlichen, langsamen, reflexiven Lese-Stil haben, der irgendwie als legitim gilt, und diesen Lesestil, der in Masse fungiert, der ganz stark emotional ist, der eher abgewertet wird: Das Lesen von Trivialliteratur, das ist nur banales Lesen, da wird nicht wirklich darüber nachgedacht, das ist kein kritisches Lesen.
Aber nachdem wir darüber gesprochen haben, dass die Gräben überwunden werden müssen, kann man dann überhaupt noch sagen, dass die Trivialkultur und die niedere Kultur, die hier dem Weiblichen auf irgendeine Art und Weise zugeordnet ist, keinen Platz hat? Einen Platz hat sie schon, zumindest im tagesaktuellen Geschehen. Die Frage ist trotzdem, wie Kanonisierungsprozesse dann ablaufen werden und ob sich das auch hält. Es ist so, dass auch im 18. Jahrhundert und im 19. Jahrhundert Frauen geschrieben haben, diese Bücher auch in Literaturzeitschriften besprochen wurden. Allerdings – und das ist eine Kontinuität bis heute – in kürzerer Form, häufiger in Sammelrezensionen, häufig unter diesem Label, das schon im 19. Jahrhundert entstanden ist, dass es Frauenliteratur ist. Offensichtlich hat sich diese Literatur, obwohl sie besprochen wurde, nicht gehalten im Kanon.
Von welchen Zahlen reden wir denn? Sie haben einige Beispiele, um belastbar über den Kanon sprechen zu können, und das vielleicht irrwitzigste Beispiel ist das der „Zeit-Bibliothek der 100 Bücher“, aber welche anderen Beispiele gibt es dahinführend noch? Ich habe nachgeschaut in Leselisten, die ich selber aus meinem Germanistikstudium kannte. Da sind zwei bekannt und werden immer wieder empfohlen. Das eine ist dieses Buch „Was sollen Germanisten lesen“ von Wulf Segebrecht. Da habe ich erst ab 17. Jahrhundert angefangen zu zählen, und da nennt er insgesamt 77 Autorinnen und 446 männliche Autoren, wobei man dazu sagen muss: die meisten Autorinnen, die genannt werden, werden für die Zeit nach 1945 genannt, und das sind dann oft Lyrikerinnen. Auch da wird man schauen müssen, ob sich die alle halten, auch im Kanon. Das andere ist diese Leseliste, die ja für alle Literaturen weltweit verfasst wurde, und die nennt vom Mittelalter bis zu dem Veröffentlichungszeitpunkt für die deutsche Literatur 198 männliche Autoren und 18 Autorinnen, was auch daher rühren dürfte, dass dort die Lyrik nicht so präsent ist. Die meisten Autorinnen, die da genannt werden, sind Lyrikerinnen und es werden mehr Prosa- und Dramentexte genannt. Da sind Männer noch mal deutlich übergewichtig im Kanon.
Daran anschließend gibt es die „Zeit-Bibliothek der 100 Bücher“, Ende der 1970er-Jahre erstellt von einer sechsköpfigen, rein männlichen Jury, bestehend aus Rudolf Walter Leonhardt, Hans Mayer, Rolf Michaelis, Fritz J. Raddatz, Peter Wapnewski und Dieter E. Zimme. Das sind große Namen. Der internationalen Ausrichtung zum Trotz haben aber diese Jurymitglieder wie viele Schriftstellerinnen gefunden für ihren Kanon der 100 wichtigsten Bücher? Genau eine. Es gibt eine Frau, das ist Anna Seghers und sonst 99 Werke von männlichen Autoren, wobei man, wie Sie gerade schon erwähnt haben, einrechnen muss: das ist ein Kanon, der entstanden ist Ende der 70er, Anfang der 80er. Da sind wir natürlich noch sehr viel näher an den Diskursen dran, die überhaupt erst anfangen, diese Strukturen aufzubrechen, also den frühen Diskursen um Frauenrechte in der Bundesrepublik. Da ist es auch nachvollziehbar, dass vielleicht manche Sachen noch nicht so mitgedacht werden, also dass man vielleicht ein bisschen nach der Repräsentation von Frauen schauen könnte.
Weitere Zahlen haben wir von Nina George, die im Januar den Artikel „Macho Literaturbetrieb“ auf der Börsenblatt-Webseite veröffentlicht hat – und die Zahlen sind interessant, wenn man sich anschaut, wie Schriftstellerinnen repräsentiert sind, wenn es um die mediale Aufarbeitung des literarischen Produktes geht. Die Zahlen sind auf jeden Fall interessant, weil sie zeigen, dass wir nach wie vor hier historische Kontinuitäten haben. Es wirken 25 Prozent Frauen an Rezensionen mit, und die Zahl der von weiblichen Autorinnen geschriebenen Bücher, die besprochen werden, beläuft sich zwischen 10 und 24 Prozent. Auch die Jurys von wichtigen Buchpreisen sind nur zu 23 Prozent von Frauen besetzt. Männer gewinnen nach wie vor fünfmal so oft Literaturpreise. Ich würde behaupten: da gibt es nach wie vor historisch gewachsene Strukturen, für die keiner was kann, über die man aber mal nachdenken könnte.
Dann kommen wir, wenn es historisch gewachsen ist, kurz zu Rousseau und seinem Erziehungsroman „Emile“ von 1762. Wie kann denn dieser große Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist haftbar gemacht werden für ein Problem, das im Jahr 2017 skizziert wird? Haftbar würde ich ihn jetzt ohnehin nicht machen wollen, denn diese Leute sind Kinder ihrer Zeit. Das ist, denke ich mal, nicht so, dass man Rousseau oder dann auch den deutschen Philosophen, die diese Theorie weitergetragen haben wie Kant oder Humboldt oder Fichte, dass man denen unterstellen dürfte, dass sie das mit Absicht gemacht hätten oder dass die ganz gemeine Männer waren, die Frauen ausschließen wollten. Sondern: wir befinden uns in einer Zeit, in der sich sehr viel verändert. Es entsteht das Bürgertum, das heißt, die alte Ständeordnung zerfällt, und dadurch herrscht viel Unsicherheit. Dazu kommt noch, dass sich inzwischen Familienleben auf die Kleinfamilie fokussiert, während man früher in diesem großen Haus zusammengelebt hat, auf dem Bauernhof mit all diesen Angestellten, die mit einem zusammengearbeitet haben. Auf einmal fallen auch Erwerbsleben, für das der Mann zuständig ist und Familienleben, für das die Frau zuständig ist, auseinander. Da herrscht natürlich Unsicherheit. Das muss man theoretisch kompensieren. Da kommt die sogenannte Geschlechtscharaktertheorie, die ganz stark durch Rousseau losgetreten wurde, ins Spiel, die jetzt nicht mehr wie zuvor Frauen einfach nur Männern unterordnet, sondern jetzt sehen sich männliches und weibliches Geschlecht entgegengesetzt: Frauen sind von Natur aus dem Mann untergeordnet, sie sind von Natur aus durch ihr Geschlecht bestimmt, eigentlich nur für den Mann da und müssen deswegen auch keine Bildung erfahren, sondern sollen vor allem lernen, sich dem Mann unterzuordnen, sich zu fügen, ihre eigenen Affekte zurückzunehmen. Sie sind emotional und passiv, wohingegen der Mann aktiv und rational ist.
Aber Sie sagen es selbst: Man muss es historisch betrachten in einer Zeit, in der so viele Frauen studieren, hervorragende Abschlüsse machen, ohnehin möglicherweise durch unser Schulwesen im Vorteil sind, wenn es um Notenvergabe geht, man immer wieder hört, dass Jungs abgehängt sind von klassischer Bildung heutzutage. Kann man dann nicht sagen, dass das, was Sie beschreiben in Ihrem Blogtext, wirklich ein Problem ist, das wir bald nicht mehr haben werden? Es wäre wünschenswert, wenn wir dieses Problem bald nicht mehr haben, aber angesichts auch dieser Zahlen, die Nina George für die Gegenwart benannt hat, sehe ich im Moment noch nicht, dass wir schon eine Gleichberechtigung erreicht hätten, sondern ich sehe, dass sich vieles wandelt. Ja, es ist schon richtig, dass sich Jungen im Bildungssystem schwerer tun. Das ist etwas, was ich in meinem Beitrag anspreche, und auch da denke ich, dass, wenn man tatsächlich auf Gleichberechtigung achtet, auch für Jungs im Bildungssystem Dinge leichter machen könnte. Trotzdem ist es nach wie vor so, dass sich auch wenn junge Männer die Schule durchlaufen und vielleicht ein bisschen schlechter abgeschnitten haben sollten, das Verhältnis umkehrt. Wir haben mehr Mädchen, die ein sehr gutes Abitur haben als Jungen, aber wir haben nach wie vor in wichtigen Positionen, die mit Verantwortung, mit Entscheidung verbunden sind, auch im Literaturbetrieb – da gab es eine Studie vom Anfang des Jahres vom Netzwerk Bücherfrauen – offensichtlich in verantwortungsvollen Positionen mehr Männer als Frauen.
Und das liegt möglicherweise an besagten gewachsenen Strukturen. Das ist eine Vermutung, die Sie in dem Essay darlegen, und es gibt ein Beispiel, das ich besonders schön fand, das ist ein Gedicht, das Sie hier zitieren: „Die berühmte Frau“ heißt das und stammt von Friedrich Schiller – in Ihrem Blog-Essay zitieren Sie den Text. Worin besteht seine Besonderheit? Wir sehen vor allem eine Facette der Abwertung von Frauen, die sich bilden, die für diese Zeit typisch sind. Es gibt auch bei Molière Dramen, die sich lustig machen oder satirisch mit diesem Thema der gebildeten Frau umgehen. In diese Tradition gehört das Gedicht von Friedrich Schiller, der durchaus Frauen gefördert, der Lyrikerinnen abgedruckt hat in seinem „Musenalmanach“ und in den „Horen“. Schiller ist nicht ein Autor, der bewusst und absichtlich auf den Ausschluss von Frauen geachtet hätte, sondern wir sehen an dem Text bestimmte Denkstrukturen. Hier wird die Frau, die schriftstellerisch erfolgreich ist, zum einen als Zwitterwesen zwischen Mann und Frau bezeichnet. Das heißt, eine Frau, die den privaten Raum, den weiblichen Raum verlässt, in die Öffentlichkeit tritt, wird dadurch automatisch auch männlich, hat auch männliche Eigenschaften. Ihr wird zugesprochen, dass sie sich letztlich prostituiert, indem sie ihre Werke verkauft. Gerade dieser Aspekt dessen, wie Weiblichkeit und Schreiben zusammenpassen können, würde ich sagen, trägt sich unbewusst fort, denn das ist etwas, was heutzutage noch aktualisiert werden kann, wenn Maxim Biller im „Literarischen Quartett“ über dieses Buch von Nell Zink sagt, Leute könnten jetzt sagen, die schreibt gar nicht wie eine Frau, und das ist eine Unverschämtheit, weil in Wahrheit schreibt sie nur wahnsinnig gut. Das heißt, Maxim Biller aktualisiert dieses Vorurteil, dass eine gut schreibende Frau nicht mehr weiblich schreibt, sondern männlich, auch wenn Maxim Biller natürlich, weil er ein sehr kluger Kopf ist, diesen Vorwurf gleichzeitig zurückweist und sagt, das ist eine falsche Formulierung. Dennoch ist es etwas, das man aktualisieren kann, etwas, das fortwirkt.
(Das Beitragsbild von H.-P.Haack zeigt den Erstausgaben-Einband von „Das siebte Kreuz“.)
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