»Ich erinnere mich, dass ich einmal als Kind bei William im Auto saß und er sich so einen Mitschnitt anhörte, wo Leute reden. Daran erinnert sich William vielleicht gar nicht, aber mir fällt das jetzt ein, ganz faszinierend im Grunde. Das war so eine Gesprächsrunde, er und seine friends wollten eine Party machen, und die friends sagten: Ja, sie wollen eine Band, weil es doch scheiße ist, wenn da so Retortenmusik läuft. Und der William meldet sich zu Wort und sagt: Ich muss ja sagen, ich stehe auf Retortenmusik. Und ich weiß, dass ich als Kind hinten im Auto sitze und das höre. Und, ich glaube, den williamschen Standpunkt teile.«
In dieser sehr prägnanten Kassettenszene buchstabiert WestBam einen Teil seines »Alphabets« im 1997 erschienenen Merve-Bändchen Mix, Cuts & Scratches, das im Gespräch mit Rainald Goetz entstanden ist, »im schattigen Korbsessel-Ambiente eines angeblich Hotel Phoenix genannten Hotels in San Francisco«. Das ist nun auch schon wieder 14 Jahre her, und WestBam spielt nach wie vor Musik für 20-Jährige, »die tanzen um einen herum und es ist wie 1983 – und dann merkt man an bestimmten Sachen, dass trotzdem etwas anders ist.«
Einst hat WestBam, der DJ und Technophilosoph, den Housesound aus Chicagos Garagen, die Technobeats aus Detroit nach Deutschland geholt, bereits 1984 in einem wegweisenden Artikel erklärt, was »Record Art« ist, wie Auflegen geht, im Juli 1989 (da stand die Mauer noch) die erste Loveparade in Berlin bespielt und 1994 gemeinsam mit Frontpage-Chefredakteur Jürgen Laarmann das Manifest zur »Ravenden Gesellschaft« verfasst: »Unten ist oben und oben ist unten. Underground ist overground ist underground. Kommerziell ist unkommerziell und unkommerziell ist kommerziell. Ein Umbruch hat begonnen.«
Er selbst sagt heute, auf das »Techno-DJ-Ding« angesprochen, dass »in unserer bunten Warenwelt die Leute einfach klare Zeichen brauchen, dass immer jemand für etwas ganz Bestimmtes stehen muss: Das muss simpel und klar sein und ohne Irritationen. Dafür gibt es zu viel Angebot, damit wollen sich die Leute nicht beschäftigen. Ich kann das gut verstehen, es ist ja auch eine stressige Welt. Der Countrysänger macht halt klare Countrymusik und der Techno-DJ macht bub-schik-bub-schik. Wenn ich in hundert Jahren die Coca-Cola ansetze, dann schmeckt die genauso wie heute. Und diese Haltung wird von Künstlern jetzt auch erwartet.« Also: WestBam ist ein Techno-DJ?
Tatsächlich kommt der 46-Jährige, der mit seinem 1986 gegründeten Label Low Spirit zur wichtigsten Techno-Szenegröße avancierte, aus der Punkrock-Ecke, »also nicht von diesem Disco-Pop-Ding her, nach der Art, wir fliegen alle nach Ibiza, wir sind Urlaubsparadies-Vögel-Scheißdreck, heute spielt der DJ und morgen der und die Mädels schwingen ihre Handtasche.« In seinen frühen Punkrockjahren besaß WestBam nur Kassetten. »Never mind the bollocks! Ich kannte immer Leute, von denen ich mir Sachen überspielt habe. Platten kamen mir exorbitant teuer vor.«
In Frankfurt hat der Münsteraner erst mal in der linksalternativen Batschkapp gespielt, während Kollegen wie Sven Väth bereits im glitzernden Dorian Gray am Airport standen, »dieser Superdisse mit ihrer Fünf-Millionen-Anlage«, gegründet von Talla 2XLC, wo ab 1983/84 zu EBM und Industrial getanzt wurde – bis weit über die örtliche Sperrstunde hinaus, die am Flughafen keine Gültigkeit hatte.
Als WestBam 1983 mit dem DJing anfing (das war bereits die Zeit von Front 242, Daniel Bressanuti, Patrick Codenys, Jean-Luc de Meyer und Richard 23), da ging es bei ihm zunächst darum, die eigenen Lieblingslieder aufzulegen: »Große Stücke, die mich damals bewegt haben, wie ›Bostich‹ von Yello, ›Blue Monday‹ von New Order oder die frühen Sachen von Anne Clark, dann ›Los niños del parque‹ von den Liaisons Dangereuses, das war elektronischer New Wave. Dann die Bollock Brothers, Fad Gadget, frühe HipHop-Sachen wie Grandmaster Flash.« Und dann war da noch Afrika Bambaataa. Inzwischen gilt er als Techno-Wegbereiter, vor allem dank »Planet Rock« aus dem Jahr 1982, wo er die Melodie von »Trans-Europa-Express« und den Rhythmus von »Nummern«, zwei Kraftwerk-Stücken, kurzschloss.
WestBam: »Die wichtigste Platte meines Lebens ist ja ›Death Mix‹ von Afrika Bambaataa. Das war auch wieder nur so ein Bootleg und offensichtlich auch nur eine ganz miese Kassettenaufnahme. Ich glaube, sogar mit Kassettenrekorder und Mikrofon eingespielt, also nicht mal direkt in die Anlage. Ich weiß noch, wie ich in diesen Plattenladen reinkam und die Leute sagten: Mann, wir dachten, das ist jetzt der Supermix, zum Abtanzen für die Disse. Jetzt hör dir das mal an! Zwischendurch springt die Platte und es ist gar nicht so schön gemixt. Klingt fürchterlich, man kann es gar nicht spielen! Die waren völlig entsetzt. Und ich war vollständig begeistert – bis heute!“
„Ich erinnere mich an die frühen HipHop-Shows mit Afrika Islam aus New York, da gab es Kassetten, die wurden immer und immer wieder kopiert, da hatte man schon mal die dritte, vierte, fünfte Generation. Die Mixmitschnitte wurden so auch von Mal zu Mal schneller und hatten einen ganz bestimmten, in den Höhen verzerrten, komprimierten Sound, den man auch irgendwie geil fand. Diese dritte Generation einer Kassette klang noch krasser, noch härter, hatte einen ganz speziellen Sound.« – Diese Punk-Haltung war natürlich das Gegenstück zu den Mainstream-süchtigen Yuppie-Achtzigern: »Es gab quasi das Warenangebot und daneben auch Punkrock, Alternative. Das ist mein Hintergrund: Ska, HipHop, Anarchie.« Diese Anarchiesehnsucht artikulierte WestBam mit seiner ersten Single. »Disco Riot« hieß die, »und es ging um den Aufstand, der entsteht und sich später fortsetzte in der ravenden Gesellschaft.«
1984 zog WestBam von Münster nach Berlin und bewarb sich mit Mixtapes im Loft und im Metropol, wo er später Residencies hatte. 1986 war er dabei, als die Stadt im Ex & Pop ihre ersten House-Partys feierte. »DJ Lupo aus dem Münchner P1 hat damals absolut schwunghaft mit Kassetten gehandelt und immer drei, vier Kassetten am Abend verkauft. Dann hieß es, dass eine Kassette aus dem Metropol vom DJ Chris ungefähr 200 Mark kostet, und es gab wohl auch Zuhälter vom Ku’damm, die das bezahlt haben, für ein absolutes Unikat. Aber ich war nie dabei, wenn so eine Kassette für 200 Mark den Besitzer gewechselt hat. Anfang der Achtziger kamen mir die zehn Mark Eintritt schon utopisch vor.«
1987 traf WestBam im lettischen Riga den russischen Tonband-DJ EastBam, 1988 spielte er im kulturellen Rahmenprogramm der Olympischen Spiele in Seoul, ein Jahr darauf bei der ersten Loveparade, wenige Wochen zuvor hatte jeder der vier DJs eine Kassette in drei identischen Ausfertigungen gemacht, zweimal eine halbe Stunde, die dann parallel in den drei Kombis lief. »Wir mussten natürlich versuchen, die drei Kassetten möglichst gleichzeitig an allen drei Wagen zu starten, was natürlich nicht ganz synchron klappte, und nach jeder halben Stunde hat Motte durchs Mikrofon Sachen gesagt wie: ›Jetzt kommt noch die zweite Seite von Kid Paul‹ oder so.« Die Mixe waren also vorproduziert, aufgelegt hat in dem Jahr niemand, während die Loveparade durch einen kleinen Abschnitt im Westen Berlins zog.
In Ostberlin haben DJs zur gleichen Zeit ganz regulär mit Kassetten aufgelegt. Das hat WestBam nie gemacht. »Aber vom Kassettenrekorder hatte ich zunächst mehr Ahnung, vom Plattenspieler gar keine.« Das musste er sich beibringen, »Pitch und so weiter. Danach habe ich mir aber relativ zügig die Platten gekauft. Das nächste Thema war dann natürlich das Mixtape. Man drückt auf Record und Start, und es geht darum, 45 Minuten ohne Fehler zu mixen. Hab natürlich immer abgeschwitzt. Kurz vor Schluss noch einmal vermixt, dann war das ganze Tape im Arsch.«
Wo sind die Kassetten jetzt? – Weg. »Tatsächlich bin ich überhaupt kein Sammler, und ich habe gar keine Kassetten. Aber es tauchen immer wieder Sachen auf. Neulich war ich bei einem Freund in Münster auf einer Christmas-Party und nach dem Gig sind wir heim gegangen und haben bis in den Morgen alte Mixtapes von mir gehört.«- Plötzlich war sie wieder da, die Musik aus dem Metropol, aus dem Disco-Zirkus »Macht der Nacht«, mit dem WestBam in den Achtzigern durch Deutschland getourt ist. »Und diese Bänder laufen noch«, sagt er begeistert und schließt, in die Hände klatschend, mit einem letzten Statement für das fast untergegangene Medium Kassette: »Eine CD kann man nach fast dreißig Jahren nicht unbedingt einfach so abspielen.«
Ausschnitt aus: „Kassettendeck – Soundtrack einer Generation“, Jan Drees & Christian Vorbau (Illustration: Denise Franke), Eichborn, 256 Seiten, 18,95 Euro.