Die Bibel ist das am häufigsten übersetzte Buch der Welt. Der emeritierte Mediävistikprofessor Karl-Heinz Göttert hat sich mit der Übersetzung Martin Luthers befasst und bezeichnet sie als philologisch nicht sauber, aber bedeutend für die deutsche Sprache. Viele Psalme und Bibelsprüche kenne man nur im „Luthersound“, sagte Göttert im Büchermarkt.
Nach der letzten Zählung des Weltverbandes der Bibelgesellschaften aus dem Jahre 2013 gibt es Teilübersetzungen in 2817 Sprachen, Gesamtübersetzungen des Neuen Testamentes in 1294, des Alten Testamentes und Neuen Testamentes zusammen in 513. Welche weltweite Bedeutung hat, diese Zahl berücksichtigend, Luthers Übersetzung der Bibel? Da kommt man natürlich nicht auf diese Zahlen, obwohl sie in anderen Kontexten schon gigantisch sind. Da muss man die Bibelübersetzung von Luther mit deutschen Sprachzeugnissen vergleichen, und dann sieht man, dass die Übersetzung in ihrer eigenen Zeit eine wirklich überwältigende Resonanz gefunden hat. Zu Lebzeiten Luthers sprechen wir von einer halben Million Exemplaren und gehen aus von 12 bis 15 Millionen Menschen zur damaligen Zeit. Das sind Zahlen, die selbst auf heutige Verhältnisse übertragen gigantisch wären. Damals waren sie ganz unvergleichlich. Für viele war die Bibel das einzige Buch, das sie kannten, beziehungsweise besaßen.
Sie schreiben über die vielfachen Übersetzungen und Übersetzungsversuche vor Luther, liefern en passant eine Übersicht aller vorherigen Übertragungen der Bibel in die deutsche Sprache, gehen aber auch ein auf Phänomene wie „Die Bibel im Film“. Was hat Sie bei der Recherche an diesem gewaltigen Werk zum Lutherjahr am meisten fasziniert? Das ist das Problem der Übersetzung. Das ist wirklich faszinierend, wenn man es mit anderen Kulturen vergleicht. Ich bin viel in China unterwegs und habe mich erkundigt. Dann sagen mir die Kollegen: Sowas machen wir nicht, sowas kennen wir nicht, in dieser Form Übersetzungen zu haben. Die europäische Kultur ist also im Grunde eine Kultur des Übersetzens. Die Römer haben alles von den Griechen, dann geht das in die Volkssprachen und die Bibel ist ein Hauptbeispiel. Selbst die Juden haben schon angefangen, ihren eigene Texte zu übersetzen, denn sie verstanden irgendwann das Hebräische nicht mehr. Dann wurde ins Aramäische übersetzt. Das geht noch, weil es verwandt ist, aber im dritten Jahrhundert eben auch ins Griechische. Dann hört das gar nicht mehr auf. Die Christen haben die Bibel auf Griechisch geschrieben, die Evangelien, Paulus‘ und die anderen Briefe sind im Urtext griechisch. Und dann wird das übersetzt in die Volkssprachen, unter großen Mühen. Es gibt Verbote im Mittelalter und so weiter und so fort.
Welche Verbote sprechen Sie hier an? Die Päpste haben solche Verbote ausgesprochen, auch zuständige Erzbischöfe – vor allem in der Zeit, als die Häresien dominant wurden. Dann hatte man immer Angst vor den Übersetzungen. Man befürchtete, dass mit der Übersetzung Häretisches entsteht. Damit ist auch Luther konfrontiert worden. Als Luther die Bibel ins Deutsche übersetzte, kam von katholischer Seite genau dieses Argument: Das ist gar nicht die Bibel, sondern das ist seine Bibel, womit die Katholiken damals übrigens recht hatten. Das ist schon eine sehr interpretierende Übersetzung von Luther gewesen. Aber ganz allgemein: Es ist klar, dass jede Übersetzung irgendwie mit einer Interpretation zusammengeht. Und da setzen diese Befürchtungen an.
Sie sind emeritierter Mediävistikprofessor. Ihr Buch „Luthers Bibel – Geschichte einer feindlichen Übernahme“ unterscheidet sich von den vielen anderen Veröffentlichungen zum Reformationsjahr, denn hier wird eine philologische, keine theologische Geschichte der Lutherübersetzung präsentiert. Welche Bedeutung hat diese Übersetzung für die Germanistik unserer Tage? Da muss man eindeutig sagen, dass Luthers Bibelübersetzung für die deutsche Sprache oder für die Entstehung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache von ungeheurer Bedeutung gewesen ist. Man kann wirklich sagen, dass die Germanisten der letzten Generationen, und vor allem der allerletzten Generation, das einfach bewiesen haben. Ich glaube nicht, dass da jemand noch dran wackeln kann. Das ist erledigt, das Kapitel. Die Bedeutung ist geklärt, man hat es auch übertrieben und Luther zum Schöpfer der deutschen Sprache gemacht. Das ist übertrieben. Er schwamm da irgendwie mit, aber allein durch die große Verbreitung der Bibel gab es einen Schub, der zu dieser Wirkung geführt hat. Das ist die eine Sache. Das habe ich gelernt, sogar bei einem Professor, der darauf ausgesprochen spezialisiert gewesen ist. Ich habe mich dann aber gefragt: Wie ist denn diese Übersetzung, wenn man sie nicht allein in ihrer Bedeutung für die Sprache sieht, sondern mal fragt: Wie genau ist die eigentlich? Dann kommt raus, dass sie nicht sehr genau ist, sondern im Gegenteil sehr interpretierend verfährt und wenn man andere fragt, dann kann man auch hören, dass diese Übersetzung falsch ist.
Meine Deutschlandfunk-Kollegin Christiane Florin, die Redakteurin ist im Ressort „Religion und Gesellschaft“, hat mir vor unserem Gespräch einige Hinweise gegeben, unter anderem auf Übersetzungsunterschiede aufmerksam gemacht, die zu einer vollkommenen Bedeutungsverschiebung führen. So heißt es bei Luther: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.“ In der Einheitsübersetzung jedoch: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Wie kann es zu derartigen Unterschieden kommen? Das sind diese Interpretationen, die Luther gibt. Das sollte jetzt nicht falsch verstanden werden. Das ist nicht unbedingt zu verurteilen. Luther hat eine bestimmte Theologie entwickelt und nun will er diese Theologie unter Beweis stellen. Er will sie zeigen. Wie kann man das machen? Da kann man dicke Bücher schreiben. Die liest aber keiner und versteht sie nicht. Dann kam diese Idee: Wir machen es an der Bibelübersetzung. Die Bibelübersetzung, die zeigt die Lutherische Theologie. Dafür musste Luther die Bibel so übersetzen, dass die Interpretation rauskommt. Ich will es an einem anderen Beispiel verdeutlichen, das eingängiger ist. Da steht ganz harmlos im Römerbrief 1,17 etwas von iustitia Dei. Das heute jeder Schüler übersetzt mit „Die Gerechtigkeit Gottes“. Das ist Luther aber zu gefährlich, dann darum geht es ihm ja, um diese Gerechtigkeit. Er hat furchtbare Angst, dass man das als Strafengerechtigkeit deuten kann und dann all diese Werke vollbringen muss, um diese Strafe abzuwenden. Jetzt übersetzt er nicht „die Gerechtigkeit Gottes“, sondern „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“. Ich bitte Sie! Was ist das jetzt? Ich möchte den Lateinlehrer sehen, der darauf jetzt reagiert, bei einer Schülerübersetzung. Er würde es anstreichen. Ich weiß nicht, ob er sagt, dass es falsch ist. Vielleicht sagt er auch: Es ist genial. Das ist der Punkt. Das kann man genial nennen und man kann es falsch nennen. Auf jeden Fall bietet es nicht eine philologisch saubere Übersetzung der Bibel.
Wie beurteilen Sie aus philologischer Sicht die neuesten Bearbeitung der Lutherbibel, die im Dezember vergangenen Jahres erschienen ist? Haben Sie sich damit beschäftigt? Ich bin nicht begeistert, sondern im Gegenteil. Ich finde das Unternehmen – wie soll man das jetzt sagen – also, ich will nicht sagen „gescheitert“, aber ich finde es falsch angesetzt. Man hat nämlich folgendes versucht: Man wusste natürlich, das sind Experten, die protestantischen Theologen, das sind Exegeten, die was von den Dingen verstehen. Die haben gezeigt, was man bei Luther alles korrigieren könnte. Dann ist das gesammelt worden und dann ist festgestellt worden: Wenn wir das machen, wenn wir die Bibel philologisch sauber gegenübersetzen, dann ist von Luther nichts mehr zu hören. Der Klang ist weg. Der soll aber da sein. Also steht man zwischen diesen beiden Extremen: Soll man Luther erhalten, oder soll man philologisch sauber sein? Sie können sich vorstellen: Das ist die Quadratur des Kreises. Das kann keiner. Was hat man gemacht? Man hat mit einer gewissen Willkür mal Luther sein lassen, mal den Philologen Recht gegeben. Und so ist das Ganze eigentlich eine recht willkürliche Geschichte. Meines Erachtens ist das, was drunter steht unter dem Titel „Bibel“, nämlich „Lutherübersetzung, unkorrekt. Denn das hat man eingeschränkt.
Kann man die Germanistik ohne tiefere Bibelkenntnisse verstehen? Da berühren Sie etwas. Ich bin vor 20 Jahren, als die ersten Ostdeutschen zu uns an die Universitäten kamen, ist mir mal vor einer Prüfung gesagt wurde von einer Studentin: Sie können mich alles fragen, aber nicht nach der Bibel. ich komme aus dem Osten. Da hat man das nicht gekannt oder gelehrt und gelernt. Da betrifft nicht mehr nur die Ostdeutschen, sondern uns alle. Die Bibelkenntnis geht zurück. Andrerseits ist unsere Kultur sehr stark davon geprägt. Es gibt in der Dichtung – das ist nicht nur in der Klassik so -, auch in der Moderne regelmäßig die Bezüge sowohl auf die klassische Mythologie, also Antigone-Mythos oder sowas, aber eben auch auf die Bibel. Also, es ist sehr schwer, in unserer Kultur zurecht zu kommen, wenn man keine Bibelkenntnis hat.
Man würde die komplette Literatur des Mittelalters nicht verstehen können. Der Eindruck entsteht im Laufe eines Mediävistikstudiums schnell, dass es nahezu unmöglich ist, die Dunkelheit der literarischen Texte dieser Zeit zu erhellen, ohne beispielsweise das Konzept von Prophezeihung und Erfüllung zu kennen. Da würden jetzt viele Leute sagen, dass wir das Mittelalter eh nicht brauchen. Aber es ist schlimmer. Aber es ist nicht nur so, dass wir dann das Mittelalter nicht verstehen können, sondern unsere gesamte Kultur ist ohne die Bibel nicht wirklich zugänglich.
Welche Bedeutung hat die Lutherbibel heutzutage, in Differenz zu ihrer Wirkmacht in der ersten Zeit? Damals wurde die Bibel weniger gelesen, sondern vielmehr in der kirchlichen Lesung gehört, also auf ganz andere Weise erfahren als heute, wo der Eindruck entsteht: Luther und seine Übersetzung, das ist weniger ein religiöses Phänomen, sondern vielmehr wieder emporgestiegen zu den Höhen der sogenannten Bildungsbürgerschicht. Können wir überhaupt noch von einer Volksbibel sprechen, wenn wir über Luther und seine Übersetzung reden? Ich würde gern die Identifizierung oder Identität ins Spiel bringen. Die Lutherbibel ist ein Identitätssymbol. Wenn sich evangelische Christen verständigen wollen über das, was für sie entscheidend ist, dann kann das sehr abstrakt werden und so weiter, aber der Bezug auf die Bibel ist natürlich leicht, gerade auf die Lutherbibel, deren Klang doch schon eine Menge ausmacht. Man kennt einzelne Bibelsprüche, man hat von Kindheitstagen an die gehört, wenn Sie zu einer Beerdigung gehen, dann hören Sie einen bestimmten Psalm – der Herr ist mein Hirte und so weiter. Das kennt man alles in dem Luthersound. Es gibt sogar einprägsame Formeln, die verwendet werden, ohne dass man weiß, was die bedeuten. Ich kann ja mal fragen, was in der Formel „wider den Stachel loecken“, was heißt denn da loecken? Ich wäre sehr neugierig, eine Antwort zu hören. Das ist wirklich ein thüringische Dialektwort und das heißt springen: „gegen den Stachel springen“. Aber was glauben Sie, was ich da schon von Theologen gehört habe. „Lecken“ ist noch das Mindeste, was da ins Spiel gebracht wird. Was ich sagen will, ist, dass die Luthersprache so stark eingegangen ins Deutsche, dass man sehr ungern auf sie verzichten will. Das verstehe ich auch und das wird auch letztlich hinter der Neuauflage stehen, dass man dieses Symbol erhalten will.
Karl-Heinz Göttert: „Luthers Bibel – Geschichte einer feindlichen Übernahme“, S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt, 512 Seiten, 26 Euro / Karl-Heinz Göttert: „Deutsche Sprache“, Reclam, Stuttgart, 100 Seiten, 10 Euro